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Titel
Genealogie des Holocaust. Art Spiegelmans MAUS - A Survivor's Tale


Autor(en)
Frahm, Ole
Erschienen
Paderborn 2006: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
301 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christine Gundermann, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Als 1989 der erste Band von Art Spiegelmans Comic „MAUS – die Geschichte eines Überlebenden“ in Deutschland erschien, konnte man in den Feuilletons nicht nur Verwirrung, sondern auch Entrüstung entdecken, denn Spiegelman hatte die Geschichte seiner Eltern, die den Holocaust im Vernichtungslager Auschwitz überlebten, in einem Comic dargestellt; einem Comic, der die Juden als Mäuse und die Deutschen als Katzen zeigte. Nach Monaten intensiver Diskussionen kristallisierten sich zwei Problemhorizonte heraus: Zum einen herrschte – gerade in der Geschichtswissenschaft – eine große Unsicherheit im Umgang mit dem Medium selbst. Zum anderen „passte“ MAUS nicht in die bekannten Kategorien der Darstellung des Holocaust von historisch-dokumentarischen und autobiografischen Darstellungen einerseits und ästhetisierenden Formen andererseits, denn MAUS ist sowohl Autobiografie (von Art Spiegelman), Biografie (von Arts Vater Vladek) und ästhetische Darstellung. MAUS, in seiner historiografischen und grafischen Gestaltung einzigartig, wurde zu einem der ersten Comics, über den eine Vielzahl an wissenschaftlichen Publikationen erschienen ist.

Frahms Dissertation reiht sich hier ein und diskutiert ein zentrales Problem, das Frahm bereits 1993 formuliert hatte: „Weil die historische Konsequenz der nationalsozialistischen Ideologie im Holocaust bestanden hat […], wird jede Darstellung dieser Phase der Geschichte […] danach zu beurteilen sein, ob sie den nicht rationalisierbaren ‚Rest’ des (historischen) Geschehens – der einzig im Trauern aufgehoben sein kann und damit als der menschliche Kern der Geschichte erst erkennbar wird – ob sie ihn an jedem Ort in der Darstellung geltend macht, oder ihn verkitscht, versteckt, hinausrationalisiert.“1

Weil sich der Comic MAUS durch seinen Inhalt, seine Entstehungsgeschichte und seine grafischen Besonderheiten ideal für die Diskussion dieses Problems eignet, steht er im Mittelpunkt von Frahms Monografie. MAUS, so die Hauptthese Frahms, ist eine „Genealogie des Holocaust“ und analysiert als solche die historiografische narrative Sinnproduktion, reflektiert die Entstehung von Subjekt, Wahrheit und Moral und zeigt ebenso die eigenen Grenzen des perspektivischen Wissens und damit Verstehens auf. Um den genealogischen Charakter des Comics herauszuarbeiten, konzentriert sich Frahm auf drei Dimensionen der Darstellung: Identität (I. Masken), Historiografie (II. Geschichte) und III. Erinnerung. Theoretische Basis der Analyse ist das Konzept der „Genealogie der Geschlechter-Ontologie“ (S. 11) von Judith Butler, das Frahm in leichter Abwandlung zur Erforschung der Performativität von Identität im Comic nutzt. Damit erfasst Frahm die grundlegende ästhetische Besonderheit des Comics (Darstellung der Menschen mit Tierköpfen) mit einem theoretischen Instrumentarium, das es gestattet, Parameter für die ästhetische und semantische Beurteilung von Holocaust-Historiografien (hier im Medium des Comics) zu entwickeln.

Im I. Kapitel („Masken“) verzichtet Frahm bewusst auf den gängigen historiografischen Ansatz des Vergleiches mit anderen Tierfiguren und Chimären der Comicgeschichte. So kann er konkreter nach der Bedeutung der Spiegelman’schen Figuren für die Darstellung des historischen Rassismus und Nationalismus als zwei möglichen Interpretationsarten der Tiermasken fragen. Durch die Einführung des Begriffs der „lebendigen Maske“ (S. 51) gelingt es ihm, diese historische Perspektive zu erweitern und die Konstruktion von Identitäten als generelles Merkmal der Gesellschaften des 20. Jahrhunderts aufzuzeigen. Die Masken können ebenso als Merkmal historiografischer Darstellungen wahrgenommen und kritisch reflektiert werden (Kap. I.3.)

Frahm breitet sein theoretisches Analyseinstrumentarium mit argumentativer Klarheit aus. Ein kleines Manko ist hier lediglich, dass durch die Interpretation der (feministischen) Theorie Butlers als Performativität der nationalen Identität die Kategorie des Geschlechts unterbelichtet bleibt. Denn inwieweit eine männliche Geschichte des Holocaust erzählt wird oder warum Art Spiegelman auf die Sexualisierung weiblicher Opfer zur Visualisierung der Ermordung der Juden in den Vernichtungslagern2 verzichtet, ist bis jetzt noch nicht ausreichend geklärt.

Das Verhältnis von historischer Wirklichkeit und Darstellung in MAUS steht im Zentrum des II. Kapitels („Geschichte“). Hier analysiert Frahm das Verhältnis von Authentizität und Narration im Comic in fünf Schritten: Autobiografische Elemente (II.1.) werden von den biografischen Elementen (II.2.) getrennt und den von Art Spiegelman recherchierten Dokumenten (II.3.) gegenübergestellt, wo die Erinnerungen des Vaters von diesen abweichen. Indem Spiegelman diese drei Authentizitätsformen im Comic in einer Narration zusammenführt, beansprucht er ebenso eine historiografische Qualität (II.4.). Die vier Elemente erhalten jedoch erst durch die Darstellung in der Form des Comics (II.5.) ihre spezifische reflexive Qualität, die MAUS so einzigartig macht und wiederum das genealogische Moment des Comics bewirkt.

Um die Bedeutung der grafischen Gestaltung von MAUS etwa für die Erzeugung von historiografischer Objektivität zu verdeutlichen, greift Frahm im II. Kapitel auf Fotografien, Zeichnungen von Alfred Kantor und andere Comics zurück. Da nicht der Vergleich mit anderen Comics im Vordergrund steht, ist die Auswahl der Werke angemessen. Für auf dem Comicmarkt weniger bewanderte Leser/innen wäre ein etwas erweitertes Repertoire von Comics zur besseren Einordnung von MAUS nützlich gewesen. Auch im II. Kapitel sind die Analysekriterien so gestaltet, dass nicht nur eine genaue Interpretation des Comics möglich ist, sondern dass dadurch grundlegende Fragen der Darstellung des Holocaust diskutiert werden können (S. 95f.), was Frahm allerdings nur andeutet.

Im III. Kapitel fragt Frahm nach dem Begriff der Erinnerung in MAUS: Erinnerung an den Holocaust, an die Vernichtung der Juden, aber auch an die Vernichtung der Erinnerung an diese Vernichtung selbst, wie durch das Zerstreuen der Asche der Ermordeten in der Weichsel (S. 239). Frahm analysiert Erinnerung exemplarisch unter anderem anhand der Figur von Arts Mutter Anja, die ebenso wie sein Vater das Vernichtungslager Auschwitz überlebte und deren Tagebücher nach Anjas Freitod von Vladek vernichtet, verbrannt wurden. Die grafische und sprachliche Darstellung, Aufnahme und Variation dieser drei Elemente Tagebuch, Vernichtung durch Verbrennung und Asche werden so für den Leser als Signaturen eines konstruktiven und komplexen Erinnerungsbegriffes erkennbar. Hier zeigt sich die analytische Stärke Frahms, da er nicht nur detailgenau den Inhalt des Comics untersucht, sondern den Comic auch als Druckwerk in die Interpretation einbezieht und etwa dessen Gesamtkonzeption als Tagebuch erläutert.

Frahm gelingt es, seine Argumentation mit wenigen ausgesuchten Panels und Comicseiten aus MAUS zu stützen. Teilweise wären jedoch Bildunterschriften hilfreich gewesen. Ärgerlich sind die Grauschleier mancher Abbildungen aus MAUS, die im Original nicht vorhanden sind (Abb. 12, 31, 39, 64) – nicht zuletzt deshalb, weil der subtile Einsatz von Helligkeit ein besonderes Gestaltungsmittel in MAUS ist, was Frahm auch erwähnt. Die zum Vergleich herangezogenen Ausschnitte aus Pascal Crocis Comic „Auschwitz“ hätten in größerem Format publiziert werden können, da die ästhetische Kritik an Crocis Werk dann besser nachzuvollziehen wäre.

Ein Fazit: Frahm leistet eine hervorragende detaillierte Interpretation von MAUS und kann seine Hauptthese des Comics als Genealogie des Holocaust eindrucksvoll belegen. Er zeigt, dass die vermeintlich dichotomischen Kategorien der historischen vs. ästhetischen Darstellungen des Holocaust zu kurz greifen, weil sie den Blick auf das reflexive Potenzial der ästhetischen Darstellung verwehren. Aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft betrachtet, hätte Frahm seine Interpretationsergebnisse stärker für eine allgemeine Kritik an der Historiografie nutzen können. Dennoch ist die Monografie für Historiker/innen sehr empfehlenswert – ebenso wie der Comic MAUS selbst (den man jedoch nicht gelesen haben muss, um Frahms Buch verstehen zu können).

Anmerkungen:
1 Frahm, Ole; Hein, Michael, Hilflose Täter. Was Auschwitz in einigen Comic-Geschichten verloren hat, in: Kaps, Joachim (Hg.), Comic Almanach 1993, Wimmelbach 1993, S. 90-105, hier S. 92.
2 Beispiele hierfür sind die folgenden Comics: Kühn, Thomas; Klein, Holger, Kann denn Liebe Sünde sein?, Hamburg 1991; Stark, Rolf; Stevens, Marlene, Love in the Afternoon, in: Taboo 3 (1989), S. 80-93.

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