: Kriegsschauplatz Deutschland 1945. Leben in der Angst - Hoffnung auf den Frieden. Feldpost aus der Heimat und von der Front. Paderborn 2006 : Ferdinand Schöningh, ISBN 3-506-72892-X VIII, 308 S. € 28,00

: Wehrmacht und Niederlage. Die bewaffnete Macht in der Endphase der nationalsozialistischen Herrschaft 1944 bis 1945. München 2005 : Oldenbourg Verlag, ISBN 3-486-57673-9 390 S. € 34,80

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jost Dülffer, Historisches Seminar, Universität zu Köln

An Darstellungen zum Kriegsende 1945 mangelt es nicht; spätestens zu jedem runden Jahrestag kommt eine an die Dreistelligkeit reichende Zahl mehr oder weniger populärer oder wissenschaftlich-analytischer Bücher hinzu.1 Alltagsgeschichte, oft regionaler Art, Feierbedürfnisse und Erinnerungskultur gehen hier eine schwer zu entwirrende Mischung ein.2 Wissenschaftliche Monografien und Sammelbände suchen allgemeinere Kategorien zu entwerfen und Ereignisse stärker zu kontextualisieren. Unter den Veröffentlichungen des Jahres 2004/05 stach Band 9 der Serie des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) zum Zweiten Weltkrieg besonders hervor.3 Für 2007 ist mit seinem Folgeband 10 zu rechnen, der unter der Federführung von Rolf-Dieter Müller die deutsche Zusammenbruchsgesellschaft des Jahres 1945 behandeln soll. Die gut 2.000 Seiten von Band 9 wurden von Jörg Echternkamp koordiniert, der kürzlich nun einen Fund an Feldpostbriefen aus der Kriegsendphase ediert hat, während Andreas Kunz, der am Band 10 beteiligt ist, wohl die Langfassung seines Beitrages, eine Hamburger Dissertation bei Bernd Wegner, als Monographie vorgelegt hat. Dies alles zeugt von der Produktivität des MGFA, dessen 1979 begonnenes Großunternehmen doch noch ein eindrucksvolles Ende findet.

Kunz’ Thema ist das letzte Jahr der Wehrmacht. Seit Rüdiger Overmans’ Forschungen ist erst so recht ins Bewusstsein gedrungen, dass in dieser Zeit etwa die Hälfte der Verluste aus der Wehrmacht zu verzeichnen waren – eine Todesrate von 450.000 Mann im Januar 1945 bildete den absoluten Höhepunkt im ganzen Krieg. Kunz’ Herangehensweise ist multiperspektivisch. Zunächst einmal versucht er als Vergleichsmaßstab das deutsche Militär in der Niederlage des Ersten Weltkrieges zu beschreiben. Der „verdeckte Militärstreik“ (Wilhelm Deist) lieferte hier das Schlagwort, aber in diesem Krieg war es immerhin in einem Entscheidungsprozess möglich, zu einer Kapitulation und zu einem Personalwechsel für einen Weg aus dem Krieg zu gelangen – anders als gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, als die militärischen Führungsorganisationen längst zerfallen waren.

1944/45 schrumpften die Handlungsmöglichkeiten auf den einzelnen Kriegsschauplätzen immer mehr; immer weiter wurden die Fronten überdehnt, immer überlegener wurden die Gegner im Osten und im Westen. Es mangelte an Treibstoff, neueste Produkte der Kriegsproduktion kamen gelegentlich noch an die Front, mussten aber mangels Munition und Treibstoff verlassen bzw. gesprengt werden. Eindringlich wechselt Kunz die Perspektive und schildert sodann die zentralen Rüstungsplanungen, bei denen zunehmend Willen und Absichtserklärungen für bare Münze genommen wurden. Die Ziel-Mittel-Relationen herkömmlicher militärischer Planungen waren bis ins Absurde hinein umgekehrt.

Die kontrastierenden Passagen über die geforderte und die real vorhandene Produktionskapazität zählen für mich, gerade da sie aus der zentralen Perspektive ermittelt worden sind, zu den eindrucksvollsten und innovativen Teilen des Buches. Es gab vielfach nur noch „bürokratische Wirklichkeitskonstruktionen“ (S. 213). „Die militärische Führungsorganisation war längst in die Agonie, eine vorgezogene Leichenstarre, verfallen.“ (S. 88) Apparate liefen auf Hochtouren, aber in Anbetracht der sozialen Wirklichkeit von Krieg und letzten Kämpfen eben weitgehend leer.

Das viel gerühmte und vom Protagonisten selbst stolz auch in die Historiographie eingebrachte „System Speer“ mit dem höchsten Rüstungsausstoß erst im Jahr 1944 wird als „statistische[s] Blendwerk“ entlarvt (S. 197). Der „Volkssturm“ wird, in Übereinstimmung mit David K. Yeltons grundlegender Studie, gleichfalls in seinem Gegensatz von Anspruch und Realität beschrieben.4 Zu Recht argumentiert Kunz, dass es nicht darauf ankomme, ob die SS oder andere zivile Organisationen bzw. die Wehrmacht dafür zuständig waren. Es war ein mehr oder weniger die ganze Gesellschaft umfassender Handlungszusammenhang entstanden. Hier nähert sich Kunz einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive an, die er jedoch letztlich nicht entfaltet.

Michael Geyer spricht seit mehreren Jahren von einem „katastrophischen Nationalismus“ im Deutschen Reich am Ende sowohl des Ersten wie des Zweiten Weltkrieges. Bei Kunz heißt es: „Analog zur Volksgemeinschaftsideologie wurde das Modell einer nationalsozialistischen Kampf- und Grabengemeinschaft kultiviert, in das neben der Erinnerung an den Zusammenbruch von 1918 auch Ausgrenzungsstrategien und sozialegalitäre Vorstellungen über das Verhältnis zwischen Offizieren und Soldaten flossen.“ (S. 241) Wehrmacht, Partei und SS fanden ein hinreichendes Maß an ideologischer Übereinstimmung – und Hitlers Vetoposition gegenüber „Defaitismus“ blieb bis zu seinem Tod erhalten.

In einem weiteren Schritt versucht Kunz die Mentalität von Führung und Soldaten aller Ebenen zu ergründen und beschreibt dabei zugleich mehrfach in klugen Worten, warum dies für die Millionen Beteiligten nicht einheitlich möglich war. Einmal bündelten die Mentalitäten sehr unterschiedliche Gefühle: „Zwischen Gehorsamsverweigerung, Erschöpfungszuständen und individuellen Überlebensstrategien ist häufig keine scharfe Trennlinie zu ziehen.“ (S. 263) Zudem waren die vielfältig wechselnden Situationen sehr unterschiedlich; im Ostkrieg verdichtete sich eine „emotionale Gemengelage aus Angst, Rache und dem Gefühl des Verlorenseins, verbunden mit dem Empfinden, in eine atavistische, vormoderne Zeit verortet zu sein“ (S. 270).

In der kontrovers diskutierten Frage nach Ideologisierung oder Gruppenbindung innerhalb der Wehrmacht schlägt sich Kunz vorsichtig auf die zweite Seite und spricht anknüpfend an Thomas Kühne von einem Kameradschaftsverständnis, „das sozial, funktional und temporär unterschiedlich stark ausgeprägt war“ (S. 259). So sehr man Kunz hier und an vielen anderen Stellen zustimmen mag – die sprechenden Zitate aus zeitgenössischen Quellen und nachträglichen Erinnerungen behalten doch eine gewisse Beliebigkeit. Der Rezensent (der vor einem Jahrzehnt einmal mit zwei Regionalaufsätzen Ähnliches versuchte) findet gelegentlich zu starke Verallgemeinerungen und vermisst einige der wahrscheinlich noch beliebig zu vermehrenden Komponenten: Die Ost- und die Westfront könnten deutlicher auseinandergehalten werden; der Einsatz auf Reichsboden verstärkte wohl die Sorge um die privaten Kleingruppenbindungen an die Familie etc. stärker als von Kunz dargelegt.

Zum Schluss resümiert Kunz seine Ergebnisse insgesamt überzeugend in fünf Thesen: Der totale Krieg fand 1944/45 in der Wehrmacht seinen Höhepunkt, aber mit vielgestaltigen Überlebensstrategien „navigierten [...] die Soldaten durch den Zusammenbruch“ (S. 338). Moralische und zivilisatorische Enthemmungen wurden angesichts des immer stärker isolierten Kämpfens einzelner soldatischer Verbände noch häufiger. Kunz’ behutsame und doch zupackende Kritik könnte härter nicht sein. Sie rennt über weite Strecken gegen die Windmühlenflügel der immer noch populären Wehrmachtideologie an, dass bis zum bitteren Ende tapfer gekämpft worden sei. Diese Sicht dürfte in der seriösen Wissenschaft seit mehr als einem Jahrzehnt überwunden sein, aber in solcher Dichte wurde die Kritik hinsichtlich der Wehrmacht noch nicht dargelegt – Klaus-Dietmar Henkes monumentale Arbeit von 1995 zum Beispiel hatte einen anderen, gesamtgesellschaftlichen Ansatz.5

Feldpostbriefe sind eine wichtige Quellengattung, die Kunz mit der nötigen methodischen Sorgfalt einbezieht. An Jörg Echternkamps Edition solcher Briefe aus der Kriegsendphase ist allein auszusetzen, dass sie auf einem Zufallsfund beruhen – auf einem Konvolut von ca. 150 nicht mehr zugestellten Briefen und Karten, die sich in einem Archiv in Kopenhagen fanden. Sie stammen aus Postsäcken, die von der Front „überrollt“ worden sein dürften und erst kürzlich aufgefunden wurden. Etwa zwei Drittel der Dokumente waren aus der Heimat an die Front gerichtet – häufig an Soldaten des sich zurückziehenden Ostheeres. Gut ein Drittel des Bandes ist der Einleitung gewidmet; auf knapp 200 Seiten werden alle diese Quellen dann im vollen Wortlaut abgedruckt, gelegentlich auch faksimiliert oder mit beigefügten Fotos. Doch was bedeutet schon „Vollständigkeit“ bei einem Zufallsfund? Hier finden sich vorgedruckte Feldpostkarten, Suchmeldungen, ja auch das Foto eines Uniformaufnähers mit Adler und Hakenkreuz (warum?), „Eilnachrichten“, „Lebenszeichen“. Alles das ist aufschlussreich, bildet Alltag in der Zusammenbruchsgesellschaft ab, liefert Anschauung und Aha-Effekte über Lebensverhältnisse auf der Mikroebene.

Echternkamp gibt in seiner Einleitung zunächst einen vierzigseitigen konzisen Überblick über die politisch-militärische Entwicklung in der letzten Kriegszeit. Sodann versucht er sich – ebenso wie Kunz – an einer Mentalitätsgeschichte: „Zwischen Angst und Hoffnung“. Behutsam und umsichtig versucht er wichtige Topoi auszumachen und verweist dabei zugleich auf die Dokumente der nachfolgenden Edition. „In den Briefen spiegelt sich eine typische Stimmungslage der Bevölkerung in den letzten Kriegswochen: die alles überlagernde Sorge, bis zum Ende der Kampfhandlungen am Leben zu bleiben und Familie, Freunde und Verwandte wiederzusehen.“ (S. 86) Ruhe, Frieden und die Hoffnung auf künftiges Zusammenleben mit der Familie gehörten zur zentralen „Trias der Wünsche“ (S. 87). Im Fazit schreibt auch Echternkamp gegen die Legende an, dass man bis zur letzten Patrone gekämpft habe; er betont die vielfältigen und unterschiedlichen Erlebnisse der je persönlichen Kriegsenden. Er bilanziert: „Die Mixtur von Leistungsethos und Aktivismus, von der die Feldpost der letzten Kriegsmonate zeugt, wirkte nach Kriegsende weiter.“ (S. 98) Zu diesem Themenfeld hat Echternkamp selbst in den letzten Jahren grundlegende Forschungen geleistet.

Die akribische und sorgfältige Quellenedition kann man als Beitrag zu einer Mentalitäts- und Militärgeschichte von unten ansehen. Die Ergebnisse decken sich über weite Strecken mit einem wichtigen Teil der Darstellung von Kunz, der im Prinzip umgekehrt vorgeht: von der Führung (nicht nur der Wehrmacht) zu den konkreten Kriegserlebnissen. Echternkamps Buch ist breiter angelegt und umfasst ausgehend von einem ausgewählten und aufschlussreichen, wenn auch partiellen Fund tendenziell die Gesamtgesellschaft. Vieles hat man in der umfangreichen Forschungs- und Erlebnisliteratur schon so oder ähnlich gelesen – aber selten so gut präsentiert.

Anmerkungen:
1 Siehe etwa die Liste von Neuerscheinungen unter http://www.zeitgeschichte-online.de/site/40208425/default.aspx.
2 Fundamental in der Auswertung und methodisch anregend für 1995: Naumann, Klaus, Der Krieg als Text. Das Jahr 1945 im kulturellen Gedächtnis der Presse, Hamburg 1998; als Sammelrezension zum gleichen Jahr siehe z.B. Dülffer, Jost, Kriegsende 1945 – Die Erinnerungskultur in Deutschland 50 Jahre danach, in: Jahrbuch Extremismus & Demokratie 8 (1996), S. 217-229.
3 Echternkamp, Jörg (Hg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9/1: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Politisierung, Vernichtung, Überleben, Stuttgart 2004; Bd. 9/2: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Ausbeutung, Deutungen, Ausgrenzung, Stuttgart 2005.
4 Überraschenderweise kennt Kunz nur einen Aufsatz und das Dissertationsmanuskript von Yelton und beklagt, dass dieses nicht gedruckt worden sei; das ist aber doch der Fall: Yelton, David K., Hitler’s Volkssturm. The Nazi Militia and the Fall of Germany, 1944–1945, Lawrence 2002; vgl. meine Rezension in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 62 (2003), S. 607f.
5 Henke, Klaus-Dietmar, Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 1995.

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