M. Matheus (Hrsg.): Funktionswandel mittelalterlicher Hospitäler

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Titel
Funktions- und Strukturwandel spätmittelalterlicher Hospitäler im europäischen Vergleich.


Herausgeber
Matheus, Michael
Reihe
Geschichtliche Landeskunde 56
Erschienen
Stuttgart 2005: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
260 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gisela Drossbach, Leopold-Wenger-Institut für Rechtsgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München

Nachdem in den 1980er- und 1990er-Jahren in Deutschland die Forschung zum mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Hospital von Monografien zu einzelnen Institutionen beherrscht war, erfolgte beginnend mit dem Jahre 1999 ein tief greifender thematischer Wandel. Denn die in jenem Jahr stattfindende Alzeyer Tagung beschäftigte sich mit dem Funktions- und Strukturwandel mittelalterlicher Hospitäler, eine Reichenau-Tagung im Frühjahr 2002 mit der Sozialgeschichte mittelalterlicher Spitäler, ein Kolloquium am Deutschen Historischen Institut Paris 2003 mit dem institutionellen Vergleich spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Spitäler in Frankreich, Deutschland und Italien, schließlich ein Kolloquium am Deutschen Historischen Institut Rom 2005 mit Zentrum und Peripherie spätmittelalterlicher Hospitalorden. Erfreulicherweise erschien 2005 der von Michael Matheus herausgegebene Alzeyer Tagungsband mit der Zielsetzung, ein breites Spektrum institutionalisierter mittelalterlicher Fürsorge in seinen vielfältigen Relationen und Verflechtungen zu erschließen. Dabei wird von der These ausgegangen, dass „die Fähigkeit zum strukturellen Wandel […] geradezu konstitutiv zu sein [scheint] für den dauerhaften Bestand von Hospitälern und damit auch für deren Geschichte“ (S. X). Dabei setze die Entwicklung von mittelalterlichen multifunktionellen Fürsorgeeinrichtungen zu Vorformen moderner Krankenhaustypen den „bisher erst ansatzweise im europäischen Vergleich untersuchte(n) Prozess strukturelle(r) Wandlungen geradezu voraus“ (S. X). Die These vom strukturellen und funktionalen Wandel sollen sodann zehn Beiträge exemplifizieren.
In diesem Zusammenhang konfrontiert Frank Rexroth („Armenhäuser – eine neue Institution der sozialen Fürsorge im späten Mittelalter“, S. 1-14) konfessionell geprägte Forschungsansätze mit neueren Forschungen zur vormodernen Armut. Nach ersterem sei „das Jahrhundert Luthers, Calvins und des Tridentinum tatsächlich die ‚Sattelzeit’ in der europäischen Armutsgeschichte“ gewesen; „in dieser Ära seien die konservativen Prinzipien christlicher caritas in säkulare Gedanken von Sozialpolitik umgemünzt worden“ (S. 3). Hingegen plädierte die französische Forschergruppe um Michel Mollat dafür, die „Negativperzeption der vermeintlich ‚falschen’ Armut früher anzusetzen, nämlich als eine Konsequenz aus dem Wiederauftreten der Pest seit der Mitte des 14. Jahrhunderts“ (S. 4f.). Den umstrittenen Konnex zwischen „mittelalterlicher“ und „neuzeitlicher Armenfürsorge“ löst Rexroth anhand der englischen Armenhäuser, für die er aufzeigen kann, dass mit der sich verändernden Armutsperzeption eine typologische Differenzierung der Spitälerlandschaft einherging. Anna Esposito („Von der Gastfreundschaft zur Krankenaufnahme. Die Entwicklung und Organisation des Hospitalwesens in Rom im Mittelalter und in der Renaissance“, S. 15-28) zeigt die Entwicklung der römischen Hospitäler von unzählbaren Einzelspitälern zu wenigen Großspitälern im 15. Jahrhundert auf. Wichtig ist der Autorin neben diesem strukturellen Wandel die funktionale Veränderung. Waren die kleinen Hospitäler noch kostenlose Herbergen für alle Notleidenden, wo Pflege im Sinne von Gastfreundschaft geleistet wurde, erreichten die behördlich geleiteten Großhospitäler rational organisierte Fürsorge und medizinische Versorgung durch universitär ausgebildete Ärzte. Dabei zeigt sich anders als im Beitrag Rexroths die Schwierigkeit, den strukturellen und funktionalen Wandel im expliziten Zusammenhang zu sehen. Doch gerade der Altmeister für Florentiner Renaissancehospitäler, John Henderson („Medizin für den Körper und Medizin für die Seele – Hospitäler im Florenz der Renaissance“, S. 29-57) weist den Quattrocento-Einrichtungen eine Doppelfunktion zu. Neben der medizinischen Versorgung durch verschiedene Fachärzte erkennt Henderson in der Architektur und in der künstlerischen Ausgestaltung des Hospitals die Christus-Ikonografie als spirituelle Heilfunktion: „Das Hospital war also die Institutionalisierung des Bildes von Christus als Arzt, der die Armen in der Gestalt des Pilgers Christus bei sich aufnahm“ (S. 30).
Auf archivalischer Basis listet Walter Schneider („Die Hospitäler im Raum Alt-Tirol. Probleme einer Pass- und Übergangsregion“, S. 59-99) alle Spitäler im Raum Alt-Tirols auf und formuliert in einem abschließenden Kapitel Beobachtungen zu Kontinuität und (Funktions-)Wandel. Dabei beeindruckt die Aufteilung nach Wegspitälern, Hospitälern in Städten (Bischofsstädte vor 12. Jahrhundert bzw. 12.-14. Jahrhundert), Hospitälern in Markt- und Dorfsiedlungen (bis 1600) sowie weitere Untergliederun1en, beispielsweise nach Gründerpersönlichkeiten. Für die Zeit vom 9. zum 11. Jahrhundert spricht Schneider von einem „Kontinuitätsbruch“ durch „Aufbruch“, denn „der Erneuerungsschub, den Hospitäler brachten, hatte teil an den allgemeinen Umbrüchen“ (S. 89). Insgesamt seien Hospitäler Instrumente der Herrschaftsbegründung, leisteten Beitrag zur Wegerschließung sowie zur Verkehrs- und Wirtschaftsförderung, hatten ein multifunktionales Innenleben, ermöglichten den Austausch von Ideen und wirkten damit stabilisierend. Einen etappenweisen Funktionswandel weiß Michel Pauly („Von der Fremdenherberge zum Seniorenheim: Funktionswandel in mittelalterlichen Hospitälern an ausgewählten Beispielen aus dem Maas-Mosel-Rhein-Raum“, S. 101-116) zu demonstrieren. Der erste Funktionswandel sei bei der Entwicklung von der Pilgerherberge zum städtischen Armenhaus erfolgt; der zweite sei darin zu sehen, dass auch in den städtischen Spitälern Pfründner aufgenommen wurden. Der zweite Funktionswandel habe bereits vereinzelt im 12. Jahrhundert eingesetzt und sei letztlich durch die Kommunalisierung der Spitäler im 13./14. Jahrhundert durchgesetzt worden. Infolge der Pfründenanstalten entwickelten sich darüber hinaus neue Hospitaltypen zur Krankenpflegen, was zu funktional ausdifferenzierten Spitälern geführt habe, ohne dass der multifunktionale Hospitaltyp ausstarb. Nach Pauly kam dieser mehrfache Funktionswandel einem Strukturwandel in der Spitälerlandschaft gleich. Jean-Luc Fray („Die Hospitäler in „Zentralfrankreich“ im Mittelalter: Auvergne, Bourbonnais, Velay“, S. 117-127) beschäftigt sich mit den Zusammenhängen zwischen Hospitälern und der Strukturierung des Landes unter drei Gesichtspunkten: 1.) ein Spitälernetzwerk in einer gebirgigen, straßenreichen Region, wobei ebenfalls eine auffällige Anhäufung von Spitälern in landwirtschaftlich reichen Gegenden mit hoher Bevölkerungsdichte nachgewiesen werden kann. 2) Spitalnetzwerke und Zentralismus. Hier ist zu beobachten, dass einerseits das Hospital von Le Puy eine zentrale Kontrollfunktion über andere Spitäler der Diözese ausübte, andererseits die Fürsorgeanstalten an den Straßenrouten eher einem dynamischen Fluss unterlagen. 3) Wandel zeigte sich im 15. Jahrhundert, als an die Stelle primär kirchlich geleiteter Einrichtungen auch herrschaftliche Spitalgründungen traten.
In seinem von der Ewald-Hibbeln-Stiftung preisgekrönten Beitrag bemüht sich Holger R. Stunz („Hospitäler im deutschsprachigen Raum im Spätmittelalter als Unternehmen für die caritas – Typen und Phasen der Finanzierung“, S. 129-159) zuerst um eine Systematisierung der Hospitallandschaft, anschließend um die Entwicklung von Schlüsselkriterien, um dann vier städtische Hospitaltypen im deutschsprachigen Raum nach verschiedenen ökonomischen Strukturen unterscheiden zu könnten: Kleinhospital, Mittelhospital, diversifiziertes Hospital, Großhospital. Auf dieser Basis vermag Stunz die ökonomische Entwicklung dieser Hospitaltypen in vier Phasen von ca. 1200 bis ins 16. Jahrhundert zu segmentieren: Stiftungsphase, Kommunalisierungsphase, Bank- und Bürokratisierungsperiode, Krisenphase). Damit wurde erstmalig ein Überblick über den strukturellen Wandel der wirtschaftlichen Funktion von Spitälern im deutschsprachigen Raum geleistet. Elisabeth Clementz („Die Isenheimer Antoniter: Kontinuität vom Spätmittelalter bis in die Frühneuzeit?“, S. 161-174) beginnt ihren Beitrag mit: „Eine der schlimmsten Seuchen des Mittelalters war der Mutterkornbrand, in den Quellen auch ignis sacer, Heiliges Feuer oder Antoniusfeuer genannt“ (S. 161). Die erfolgreiche therapeutische Behandlung des Ergotismus sei der Auslöser für die Etablierung des Antoniterordens gewesen; der Rückgang der Krankheit habe zum Untergang vieler Spitäler geführt sowie folglich zur Diskontinuität im klerikalen Ordensverband. Das Isenheimer Antoniterhospital habe aber aufgrund seiner herausragenden therapeutischen Maßnahmen bis ins 18. Jahrhundert überlebt. Einen „mehrfachen Wandel der Institution Spital vor allem hinsichtlich der Funktion in der Gesellschaft“ (S. 176) sieht Ulrich Knefelkamp („Über die Pflege und medizinische Behandlung von Kranken in Spitälern vom 14. bis 16. Jahrhundert“, S. 175-194). In diesem Kontext steht für ihn die auch bisher nicht unbekannte Beobachtung, dass sich aus der hygienisch-diätistischen Versorgung der Kranken und Armen die nach medizinischen Aufgaben spezialisierte Ausdifferenzierung der Spitäler vollzieht.
In besonderer Weise bereichernd ist der Beitrag von Meike Hensel-Grobe („Funktion und Funktionalisierung: Das St.-Nikolaus-Hospital zu Kues und die Erzbischöfe von Trier im 15. Jahrhundert“, S. 195-212), die zwischen Stifterwillen und Stiftungswirklichkeit zu differenzieren weiß. Auch durch entsprechende Festlegungen in der Gründungsurkunde wollte Nikolaus von Kues die von Papst Pius II. erwirkte Exemtion seiner Stiftung gesichert wissen. Nichtsdestotrotz gelang es dem Trierer Erzbischof nach dem Tod des letzten „freien“ Hospitalrektors, des Cusanus-Familiaren Peter von Erkelenz, im Jahre 1494, durch mehrfachen Einfluss auf den Amtsinhaber das Hospital für seine Territorialpolitik nutzbar zu machen. Ebenfalls ein Desiderat beseitigt Klaus Militzers („Die Rolle der Spitäler bei den Ritterorden“, S. 213-242) Überblicksdarstellung der Spitäler der Ritterorden, Jerusalem und Akkon. Aus der reichen Kenntnis des Autors um die Funktion der Spitäler im Ordensgefüge sei hier nur hervorgehoben, dass sich die Orden in der medizinischen Versorgung vermutlich an byzantinischen oder mehr noch an muslimischen Einrichtungen dieser Art orientiert hätten. Jedoch im Unterschied zu den orientalischen Einrichtungen war der Charakter der Ordensspitäler zugleich der eines „Gotteshauses“, weswegen sie auch mit den Traditionen des lateinischen Westens eng verbunden geblieben seien.
Veränderbarkeit, lineare und nichtlineare Entwicklungen, Abhängigkeiten von Regionen, Gesellschaften, Menschen und vieles mehr zeichnen Funktion und Struktur des damit sich ständig im Wandel befindlichen Hospitals. Letztlich ist Wandel von Funktion und Struktur so heterogen wie das Hospital eine heterogene Institution darstellt. Da mag es geradezu erstaunlich erscheinen, dass am Ende der Entwicklung der moderne Krankhaustyp steht. Ursachen hierfür werden in diesem Tagungsband trefflich von den Wurzeln her betrachtet. Damit ist nun auch von deutscher Seite ein grundlegender Beitrag für die weitere internationale Erforschung des Hospitals geleistet worden. Die fremdsprachigen Beiträge wurden ins Deutsche übersetzt. Ein Autorenverzeichnis sowie ein Namen- und Ortsregister beschließen den Band.

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