P. Spescha: Entdeckungsreisen am Rhein und Beschreibung der Alpen

: Entdeckungsreisen am Rhein. Genaue geographische Darstellung aller Rheinquellen im Kanton Graubündten nebst der Beschreibung vieler Gebirgsreisen in dieser wenig besuchten und erforschten Alpengegend. Zürich 2005 : Chronos Verlag, ISBN 3-0340-0741-8 214 S. € 28,00

: Beschreibung der Alpen. vorzüglich der höchsten (1823). . Zürich 2002 : Chronos Verlag, ISBN 3-0340-0575-X 160 S. € 24,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reto Furter, Chur

Giuli Battesta Spescha wurde als Bauernkind 1752 in Trun (im späteren schweizerischen Kanton Graubünden) geboren und erhielt die Möglichkeit, als Romanischsprachiger zusätzlich Deutsch zu erlernen. Seine Kenntnisse nutzte er in höheren Schulen in Chur und später im Vinschgau. Schließlich kehrte Spescha als Pater Placidus nach Disentis in die Abtei zurück. Seine zahlreichen Manuskripte über kulturelle und wirtschaftliche Belange der bündnerischen Surselva – zum Teil sehr umfangreich – wurden abgesehen von einer Edition zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Friedrich Pieth und Karl Hager kaum veröffentlicht und entsprechend selten zitiert, wenngleich sie für die alpine Wirtschafts- und Kulturgeschichte, für die Literaturgeschichte des Romanischen und für die Diskursforschung Wesentliches beizusteuern im Stande wären. Zu finden sind die Manuskripte in Archiven in Chur und Disentis, wobei anzumerken ist, dass ein im Umfang nicht bekannter Teil seiner Werke vor 1799 durch den Brand des Klosters Disentis wohl zerstört wurde.

Das war, in groben Zügen lediglich skizziert, die Ausgangslage für Ursula Scholian Izeti, die sich dem schillernden Pater und seinen Texten näherte. Sie tat dies erst auf dem Nebenweg über eine forsthistorische Diplomarbeit über die Waldproblematik in der Surselva an der ETH Zürich. Mit den vorliegenden Publikationen zu den "Entdeckungsreisen am Rhein. Genaue geografische Darstellung aller Rheinquellen im Kanton Graubündten nebst der Beschreibung vieler Gebirgsreisen in dieser wenig besuchten und erforschten Alpengegend" und zur "Beschreibung der Alpen, vorzüglich der höchsten", beide aus 1823 stammend, hat Scholian Izeti nun bereits zwei bisher unveröffentlichte Spescha-Manuskripte aus den zwanziger Jahren des 19. Jahrhundert ediert. Das verdient Respekt und eine dankende Anerkennung, denn eine umfassende Diskussion über historische Quellen kann erst erfolgen, wenn diese einem breiten Publikum überhaupt zur Verfügung stehen – und das tun sie jetzt vorbildlich. Man kann den Blick an dieser Stelle auf Placidus Spescha, den Verfasser der beiden Schriften, und seine Manuskripte richten, wie dies bei Quelleneditionen üblich ist. Allerdings lohnen Scholian Izetis ausführliche Begleittexte zu den beiden Ausgaben und deren historischer Einbettung zuerst einen genaueren Blick.

Diese beiden Einleitungen befassen sich, dem Genre entsprechend, mit den verschiedenen Manuskripttexten und der gewählten Methodik, was die Edition der handschriftlichen Texte, Änderungen und Streichungen aus zweiter Hand betrifft. Ebenfalls befassen sie sich mit Fragen zum alpinen Diskurs in den bündnerischen und schweizerischen Alpen. Im ersten publizierten Text aus 2002 nahmen diese Überlegungen knapp 40 Seiten ein, im zweiten Text immerhin 25 Seiten. Diese beiden Einleitungen können denn auch, obwohl sie sich inhaltlich natürlich wiederholt auf die jeweiligen Beschreibungen von Spescha beziehen, als wissenschaftlich fundiert aufgearbeitete Darstellung der alpinen Wahrnehmung der Bündner Alpen bezeichnet werden, was etwa das 2000 erschienene dreibändige Handbuch der Bündner Geschichte nicht zu erfüllen vermag.1

Die Begeisterungsstürme für die Alpen, wie sie etwa Albrecht von Haller oder Jean-Jacques Rousseau entwickelten; die Abneigung gegenüber den Alpen, die nicht zuletzt im 17. Jahrhundert verbreitet war, und vielleicht gar die frühe Angst vor dem Gebirge entstanden ursprünglich meist außerhalb der Alpen. In den Alpen selbst erfolgte oftmals eine Reflektion dieser Fremdwahrnehmung, doch wurden diese Reflektionen weit seltener als eigenständige Publikationen veröffentlicht. Ausnahmen sind, auf das Gebiet Graubündens beschränkt, unter anderem die Texte von Ulrich Campell, von Nicolin Sererhard oder eben von Placidus Spescha. Häufiger als eigenständige Publikationen war allerdings ihr Einsatz als namentlich nicht genannte Korrespondenten für die nicht alpinen Autoren, etwa für Johann Jakob Scheuchzer.

Spescha war nicht nur Geistlicher, sondern auch Wissenschaftler – zumindest sah er sich wohl als solcher – und Alpinist, der zahlreiche Berggipfel im Bündner Oberland als Erstbesteiger bezwang. Entsprechend vielseitig sind seine überlieferten Texte. Der erste Text aus 1823, die "Beschreibung der Alpen, vorzüglich der höchsten", hatte in einem umfassenden Sinn das Ziel, die "Höhe oder Erhabenheit der Alpen zu bestimmen", wie Spescha meinte. Der Text selbst ist in drei Fassungen überliefert, wobei die erste um 1800 entstand und nur als Fragment erhalten ist und die zweite aus 1814 erst kurz vor Drucklegung gefunden wurde. Das zweite Manuskript, die "Entdeckungsreisen am Rhein", stammt ebenfalls aus 1823. Seine Absicht war eine "genaue geographische Darstellung aller Rheinquellen im Kanton Graubündten nebst der Beschreibung vieler Gebirgsreisen in dieser wenig besuchten und erforschten Alpengegend". Von diesem Text scheint nur eine Fassung zu existieren, Spescha schrieb diese parallel zur schon erwähnten "Beschreibung der Alpen". Er warf damit – gleichzeitig oder alternierend – je einen Blick auf den ganzen Alpenbogen (oder zumindest auf das, was er darunter verstand) und auf die bündnerischen Berge.

Ein Blick in die Register der beiden Texte zeigt die Breite der angesprochenen Themen bei Spescha ebenso wie die unterschiedliche Ausrichtung. Die "Beschreibung der Alpen" setzt an mit Ausführungen zum Entstehen der Alpen, zur Gestalt, Ausdehnung, Höhe, behandelt dann die Winde, "Nebel", den Schnee, die Morphologie sowie die Tier- und Pflanzenwelt. Im zweiten Teil des Manuskriptes werden sodann die "höchsten Alpgebirge", ihre "Höhen", die "Aussicht", dann aber auch die Flusssysteme und das "Wohl- und Uebelseyn auf den höchsten Alpgebirgen" betrachtet. Anders das zweite Manuskript, die "Entdeckungsreisen" am Rhein: Nach einer typologisch orientierten Übersicht über die Rheinquellen und den Rhein widmet sich Spescha ausführlich einer Beschreibung einiger bündnerischer Talschaften. Der zweite Teil des Textes schließlich befasst sich mit Speschas Bergtouren vor allem im Tödimassiv, darunter auch jene drei schließlich missglückten Versuche, den Piz Russein als Erster zu besteigen.

Speschas Texte zeigen einerseits deutlich, wie umfassend sich der Disentiser Geistliche für seine Umwelt interessierte und kulturelle und wissenschaftliche Trends der Schweiz und, im Fall der Erstbesteigung des Mont Blanc, in Savoyen in seine Überlegungen mit aufnahm. Ebenfalls zeigt sich aber auch die Isolation, unter der Placidus Spescha möglicherweise litt: Seine Ansichten, wissenschaftlichen Überlegungen und Meinungen waren zum Zeitpunkt der Niederschrift oftmals veraltet, wie sich an Randbemerkungen in Speschas Manuskripten erkennen lässt. Dies dürfte nicht zuletzt einer der Gründe dafür gewesen sein, weshalb die Manuskripte im 19. Jahrhundert nicht veröffentlicht wurden. Aus heutiger Forschungsoptik erlauben sie damit aber auch Einblicke in alpine Retardierungsprozesse, die nur wenig erforscht sind und – von Untersuchungen zur Wirtschafts- und Verkehrsgeschichte alpiner Täler abgesehen – selten thematisiert werden.

Speschas Texte 180 Jahre nach ihrer Niederschrift zu lesen ist ein ästhetischer Genuss ("Der schnelle Lauf des Rheins lässt sich’s mit andern Strömen, welche von den höchsten Alpgebirgen abfließen, vergleichen. Er muß aber, in Rücksicht seiner Schnelligkeit, im Laufen vor andern den Vorzug haben, weil er dem Nordpol zueilt, wo der Erdball sich mehr neigt als auf andern Gegenden der Welt."). Ebenso ist es ein Exkurs in nur teilweise aufgeklärte Denkschemen (so liefert sich Spescha mit Johann Gottfried Ebel, der seinen Text begutachtete, einen Disput darüber, wie weit der Blick von der Spitze des Rheinwaldhorns reiche: Spescha beharrte darauf, das Meer gesehen zu haben im Süden, oder doch zumindest, wie er einräumte, "etwas Tiefes und Aschengraues, das ich nicht wusste, ob es Dünste, Wasser oder Himmel wäre."). Die Liste wäre beliebig zu verlängern, doch kann eine lediglich episodische Aufzählung dem Text Speschas nicht gerecht werden.

Placidus Spescha ist für die historische Diskursforschung keine unbekannte Größe. Umso wichtiger ist es, den bereits bekannten Texten die unveröffentlichten, unedierten beizustellen. Diese ändern wenig am Wissen über die Rolle, welcher Placidus Spescha an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zukam, aber sie erweitern, indirekt zumindest, das Wissen darüber, wie die Berge aus dem Flachland wahrgenommen wurden – und wie sich alpine Autoren gegenüber diesen Einschätzungen verhielten. Nicht zuletzt darum ist denn Ursula Scholian Izetis Edition der beiden Speschatexte auch zu würdigen.

Ihre zusätzlichen Einleitungen zur alpinen Diskursforschung sind für die historische Forschung wichtige Grundlagen und als solche, obwohl sie hauptsächlich die Surselva behandeln, nicht nur für Graubünden wichtig, sondern können im Verbund mit neueren Übersichten 2 durchaus zur vermehrten Auseinandersetzung mit Diskurs- und Wahrnehmungsfragen in größeren räumlichen und zeitlichen Kontexten anregen.

Anmerkungen:
1 Verein Bündner Kulturforschung (Hrsg.), Handbuch der Bündner Geschichte, Chur 2000.
2 Mathieu, Jon; Boscani Leoni, Simona (Hrsg.), Die Alpen! Zur europäischen Wahrnehmungsgeschichte seit der Renaissance, Bern 2005.

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