W. Graf von Baudissin: Als Mensch hinter den Waffen

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Titel
Als Mensch hinter den Waffen. Herausgegeben und eingeleitet von Angelika Dörfler-Dierken


Autor(en)
Graf von Baudissin, Wolf
Erschienen
Göttingen 2006: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
276 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Naumann, Hamburger Institut für Sozialforschung

Seit einigen Jahren ist eine Vergegenwärtigung der Arbeiten des Bundeswehrreformers Wolf Graf von Baudissin (1907–1993) zu beobachten, die sich aus mehreren Quellen speist. Im Geleitwort der Quellenedition weist Wolfgang Schneiderhan, der amtierende Generalinspekteur der Bundeswehr, darauf hin, dass die „einsatzorientierte Neuausrichtung“ der Streitkräfte grundlegende Fragen aufwerfe, die eine Besinnung auf die „Grundlagen und Normen“ soldatischen Handelns verlangten (S. 5). Das durch von Baudissin maßgeblich mitentwickelte Konzept der Inneren Führung und das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform bedürften einer sorgfältigen und grundsätzlichen Überprüfung und Aktualisierung. Damit steht ganz unfreiwillig ein Gutteil des Gründungskonsenses der „alten“ Bundeswehr neuerlich zur Diskussion. Das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr hat auf diese Aufforderung reagiert und sich seit einigen Jahren mit den ethischen Fundamenten der militärischen Organisations- und Führungsphilosophie auseinandergesetzt. In diesem Zusammenhang steht auch das neu erwachte Interesse, den Nachlass von Baudissins auszuwerten und über das bisher verfügbare Maß hinaus zugänglich zu machen.1 Angelika Dörfler-Dierken hat sich als evangelische Theologin mit von Baudissins Leitgedanken auseinandergesetzt2, und aus ihren Forschungsarbeiten ist die kürzlich erschienene Quellenedition hervorgegangen.

Die Auswahl der fast ausschließlich aus der Zeit der Gründungsvorbereitungen im Amt Blank (also bis 1955) stammenden Texte konzentriert sich auf den Lutheraner von Baudissin, um im Lichte seiner Glaubensüberzeugungen Zugang zu seinem militärreformerischen Entwurf zu finden. In der Einleitung zeichnet Dörfler-Dierken ein informatives Bild der vielfältigen personellen Verflechtungen und Netzwerke, die von der Mitgliedschaft im Infanterie-Regiment Nr. 9 über militärische Querverbindungen bis in die Kerngruppe evangelischer Theologen der Nachkriegszeit reichten. Es wird deutlich, wie sehr von Baudissins Konzeption aus den Überzeugungen eines christlichen Menschenbildes lebte, und wie sehr er von der Teilnahme an Tagungen der verschiedenen Evangelischen Akademien sowie des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU profitieren konnte. Umgekehrt galt von Baudissin den evangelischen Kirchenfürsten als „trefflicher Verbindungsmann“ in der komplizierten Frage der Wiederbewaffnung und der Wehrverfassung. Militärbischof Kunst brachte von Baudissin später sogar gegenüber dem ehemaligen Generalinspekteur Heusinger als möglichen künftigen Generalinspekteur ins Gespräch – um sich freilich die Antwort einzuhandeln, der Graf würde „von neuem eine tiefe Unruhe in die Bundeswehr“ bringen (S. 73).

Die Texte und Kommentierungen kreisen um den evangelischen Christen von Baudissin; dabei wird hinlänglich erkennbar, dass dieser einen aufgeklärten Protestantismus vertrat, der sich von der Zwei-Reiche-Lehre verabschiedet hatte und beanspruchte, am politischen Leben aktiv gestaltend teilzunehmen, ohne dabei die ethischen Maßstäbe des Urteilens und Handelns „aus christlichem Geist“ zu verleugnen. Verantwortlichkeit in der Welt, Mitmenschlichkeit und Selbsterziehung waren denn auch einige der tragenden Begriffe im Denken von Baudissins. Dörfler-Dierken charakterisiert diese Denkhaltung als ein „methodisches Verfahren, nicht vom empirisch Vorfindlichen auszugehen, sondern von einem zukünftigen Ideal her die jeweilige Gegenwart zu durchleuchten“ (S. 24). Dem kann man zustimmen, sofern dabei nicht aus dem Blick gerät, wie zurückhaltend von Baudissin mit Idealen und Idealisierungen umgegangen ist. Zudem beanspruchte er, durchaus empirisch gestimmt, „nüchterne Konsequenzen aus den Gegebenheiten zu ziehen“ – und diese hießen für ihn „Demokratie, industrialisierte Massengesellschaft, Entfremdung, permanenter Bürgerkrieg, technisch-dynamisches Gefecht“ (S. 112).

In solchen interpretatorischen Unschärfen wird ein Problem der Baudissin-Rezeption deutlich, das sich freilich nicht auf den vorliegenden Band beschränkt. Mal wird der Reformer als Christ, mal als demokratischer Militär, mal als Friedenskämpfer vorgestellt, ohne dass es bisher eine integrierte, kritische und zeitgeschichtlich komplexe Sicht auf von Baudissin gäbe.3 Wie vielschichtig sein Denken war, zeigt sich hingegen an den im vorliegenden Band versammelten Texten. Darin ist ein originärer Neuansatz politisch-militärischer Überlegungen sichtbar, der mit der evangelischen Diskussion seiner Zeit ebenso vertraut war wie mit philosophischer oder soziologischer Zeitdiagnostik (der Einfluss der Lektüre Hannah Arendts wird zu Recht hervorgehoben) und militär-fachlichem Schrifttum. Das geschärfte Krisenbewusstsein eines „permanenten Bürgerkriegs“, die antitotalitäre Ausrichtung (gleichwohl ohne Kreuzzugsideologie), die fortschrittsskeptische Haltung (gegenüber der anonymisierenden „Massengesellschaft“) und das staatspolitisch geläuterte Gemeinschaftsdenken (jenseits der volksgemeinschaftlichen Sehnsüchte der 1930er-Jahre) lassen einen Denkhintergrund erkennen, der lutheranisch fundiert, aber ebenso sehr auch neu-konservativ imprägniert war.

Originell war von Baudissin, insofern es ihm gelang, eine liberal-konservative Sicht auf die Gegenwarts- und Gestaltungsprobleme der künftigen Streitkräfte zu entwickeln, die sich mit Fortschritt, Modernität und Demokratie aussöhnen konnte, ohne die fortbestehenden Antinomien (etwa zwischen Bürger und Soldat) zu leugnen. In den öffentlichen Debatten der folgenden Jahre, die immer wieder von heftigen Kontroversen über den durch von Baudissin vertretenen Reformansatz geprägt waren, sind solche Differenzierungen allerdings oft in den Hintergrund getreten. Dann war nur noch von „Kongruenz“ und „Integration“ die Rede, während die Gegenseite auf einem Sonderstatus und der Eigengesetzlichkeit des Soldatischen (als eines Berufs „sui generis“) beharrte. Umso verdienstvoller und informativer ist die von Dörfler-Dierken vorgelegte Sammlung früher Äußerungen Graf von Baudissins.

Anmerkungen:
1 Bisher lagen vor: Baudissin, Wolf Graf von, Soldat für den Frieden. Entwürfe für eine zeitgemäße Bundeswehr, hrsg. und eingeleitet von Peter von Schubert, München 1969; ders., Nie wieder Sieg. Programmatische Schriften 1951–1981, hrsg. von Cornelia Bührle und Claus von Rosen, München 1982; ders.; Gräfin zu Dohna, Dagmar, „… als wären wir nie getrennt gewesen.“ Briefe 1941–1947, hg. von Elfriede Knoke, Bonn 2001.
2 Dörfler-Dierken, Angelika, Ethische Fundamente der Inneren Führung. Baudissins Leitgedanken: Gewissensgeleitetes Individuum – Verantwortlicher Gehorsam – Konflikt- und friedensfähige Mitmenschlichkeit, Strausberg 2005, auch online unter: <http://www.sowi.bundeswehr.de/portal/PA_1_0_LT/PortalFiles/02DB040000000001/W26GW8T5126INFODE/bericht_77.pdf?yw_repository=youatweb>.
3 Ein facettenreiches Bild bieten wird folgender Band: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), Wolf Graf von Baudissin (1907–1993). Modernisierer zwischen totalitärer Herrschaft und freiheitlicher Ordnung (erscheint voraussichtlich im Mai 2007).

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