C. Kretschmann: Naturhistorische Museen

Titel
Räume öffnen sich. Naturhistorische Museen im Deutschland des 19. Jahrhunderts


Autor(en)
Kretschmann, Carsten
Reihe
Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 12
Erschienen
Berlin 2006: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
366 S.
Preis
€ 59,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Großbölting

„Räume öffnen sich“ – so der sprechende Titel der Dissertation von Carsten Kretschmann, die seit einigen Monaten gedruckt vorliegt. Der wissenschaftliche Mitarbeiter des Frankfurter SFB „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“ entfaltet darin den interessierten Leser/innen eine Entwicklung, die in der Geschichtswissenschaft, aber auch in den Nachbardisziplinen kaum auf Interesse gestoßen ist: Die naturhistorischen Museen im Deutschland des 19. Jahrhunderts wandelten sich vom Beginn des Saeculums bis zum Ersten Weltkrieg grundlegend. Aus den fürstlichen Schausammlungen und Kuriositätenkabinette entwickelten sich zu Anfang des 19. Jahrhunderts popularisierende Institutionen, die tendenziell auf ein breites Publikum abgestimmt waren und zugleich mit den größeren Besucherzahlen ihren Charakter änderten. „Die Öffentlichkeit wandelte sich – und das Museum mit ihr. “ (S. 7) Kretschmann verfolgt diese Entwicklung, die die Privatsammlungen zu genuin öffentlichen Einrichtungen machten, bis zum Ersten Weltkrieg. Die Ereignisse der Jahre 1914 bis 1918 stellten für viele Museen, aber auch andere Formen von Expositionen personell, strukturell, aber auch mit Blick auf die Ausstellungsarrangements und -techniken eine Zäsur dar.

Anders als heute galten die naturhistorischen Museen dabei zu ihrer Blütezeit keinesfalls als rückwärts gewandte Institutionen, sondern als Wissensspeicher, dem eine ordnende und in die Zukunft projizierende Funktion zukam. Es sind diese Kontexte – Medienrevolution, Wandel der Öffentlichkeit und die Dynamik der Naturwissenschaft mit den ihrer Popularisierung inhärenten Zukunftsversprechen –, die die Studie weit über den engen Kreis der Museumsexpert/innen und Wissenschaftshistoriker/innen interessant machen.

Um seinen Fragen und Thesen nachzugehen, untersucht Kretschmann vier Museen auf einer jeweils breiten empirischen Grundlage: das Großherzogliche Naturalienkabinett in Karlsruhe, welches stellvertretend für den Typ höfische Sammlung steht; das Museum für Naturkunde in Berlin, welches von der dortigen Universität betrieben wurde sowie das Senckenberg-Museum zu Frankfurt am Main und das Bremer Städtische Museum für Natur-, Völker- und Handelskunde, die jeweils von der städtischen Bürgerschaft getragen wurden. Mit dieser Auswahl verschiedenster Museumstypen kann Kretschmann einen repräsentativen Ausschnitt der Landschaft naturhistorischer Museen in Deutschland zeigen.

Die Quellenlage zu den einzelnen Häusern ist disparat: Während die Ausstellungen selbst in Katalogen gut dokumentiert sind, bleiben für einzelne Facetten der Museumspraxis die Belege spärlich. Noch deutlicher treten die Schwierigkeiten beim Versuch zu Tage, der Rezeption der musealen Ausstellungen empirisch nachzugehen. Umso höher ist die Leistung Kretschmanns zu werten, der diesen Schwierigkeiten zum Trotz methodisch umsichtig ein höchst anschauliches Bild entwirft. Er folgt dabei einem dezidiert interaktionistischem Ansatz und beschreibt das Museum als einen Ort der Wissenskommunikation, in dem die institutionelle und personelle Entwicklung („Menschen im Museum“, Kapitel II), die Praxis des Sammelns und Ausstellens („Strategien des Sammelns“, Kapitel III; „Methoden und Medien der Popularisierung“, Kapitel IV) und die von außen herangetragenen Bedürfnisse nach Orientierung in einem Wechselverhältnis standen.

Die Ziele, die der Umgang mit der museal dargebotenen Natur versprach, veränderten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts kaum: „Genuß, Freude, Erholung“ (S. 261) und ein unverzichtbarer Beitrag zur Allgemeinbildung – dieses reklamierte man als die wichtigsten Ergebnisse eines Museumsbesuchs. Was sich jedoch wandelte, waren die Strategien der Exposition, mit denen man diese Ziele zu erreichen hoffte: Statt Aufmerksamkeit und rationalem Erfassen setzten die musealen Popularisierer auf ästhetische Betrachtung und intuitive Zugänge. Am Ende des 19. Jahrhunderts setzten allein die Museumsmacher in der Hauptstadt des Deutschen Reiches noch darauf, die Sammlung als einen „lesbaren Text“ zu konzipieren. In den drei anderen Häusern folgte man zum Ende des Jahrhunderts den neuen Prinzipien: In Karlsruhe wurden suggestiv-anschauliche Bildcollagen präsentiert, im Frankfurter Senckenbergmuseum gestaltete man vermeintlich lebensechte Dioramen, in Bremen inszenierte man – angelehnt an die überbordende Ästhetik der Weltausstellungen – Ensemble von Handelsgütern und Naturobjekten inszenierte. Welche Weiterungen diese Entwicklung nahm und wie kontrovers dabei der ursprüngliche Anspruch, Forschung und Präsentation miteinander zu verbinden, diskutiert wurde, zeigt Kretschmann anhand der Überlegungen des Mannheimer Museumsfachmanns Otto Lehmann aus dem Jahr 1904: Dieser plädierte für eine radikal-ästhetische Präsentationsweise, die nicht mehr das einzelne Objekt, sondern vielmehr „die Natur selbst“ zeigen sollte. Die Kontroverse zwischen – so die Schlagworte der zeitgenössischen Diskussion – „Wissenschaftsmuseum“ und „Volksmuseum“ zieht sich wie ein roter Faden durch die weitere Geschichte der naturwissenschaftlichen Museen. Unter der Hand entwickelte sich eine zweite Tendenz quer zu beiden Maximalforderungen: Die Ausdifferenzierung der Naturwissenschaften selber verlangte eine Spezialisierung der Museumsarbeit und der entsprechenden Mitarbeiter. Das Ideal einer breiten Trägerschicht des Museums, wie sie beispielsweise im Frankfurter Museumsverein zeitweise praktiziert wurde, wich damit einer stellvertretenden Partizipation durch besoldete Fachleute.

Aus den ganz auf Suggestivität angelegten Präsentationsensembles entwickelt Kretschmann auch die faszinierenden Einsichten. Überzeugend zeigt er die Rückkopplung von Erwartungshaltung des Publikums und musealen Inszenierungsabsichten. „Muster und Deutungen des Betrachters“ analysiert er am Beispiel der Topoi „Heimat und Fremde“, „Nation und scientific community“ oder „Evolutionstheorie und Darwinismus“ (Kapitel V). Kulturelle Muster und Sehgewohnheiten, so die überzeugend hergeleitete These Kretschmanns, wurden auf die museale Präsentation übertragen. Die prinzipiell offene Struktur einer Ausstellung, die Bedeutungszuweisungen zwar nahe legt, aber keinesfalls so linear vorschreibt wie ein herkömmlicher Text, führten dazu, dass (nicht allein) der naturwissenschaftliche Anspruch, sondern Projektionen virulenter Orientierungsfragen die Rezeption bestimmten. So formten, um nur eines der vielen zum Teil auch illustrierten Beispiele Kretschmanns zu nennen, die Rollenverteilung innerhalb der Familie, Geschlechter-, aber auch Generationenstereotype den Blick der Museumsmacher und -besucher – und schlugen sich in den Inszenierungen nieder, wie am Beispiel des Dioramas „Unser Reh zur Sommerzeit“ im Altonaer Museum verdeutlicht wird. (S. 290). Hier wie in anderen Schaustellungen verstärkten sich „Heimatidee und biologisches Denken, Lebensnähe und Lebenswahrheit […] gegenseitig und mochten gerade in einer Zeit des beschleunigten Wandels Sinn und Halt vermitteln“ (S. 271). Die prinzipiell offene Struktur des Museums und seiner Ausstellungen bot die Möglichkeit, nationale und regionale Bezüge mit dem Kolonialgedanken und der Faszination des Fremden zu vermitteln. Insbesondere am Beispiel Bremens wird überdeutlich, wie das Museum auch als Instanz der Produktwerbung und Imagebildung für die Stadt und die kulturell hegemoniale Kaufmannschaft fungierte. Überzeugend kann Kretschmann damit und mit weiteren Belegen zeigen, dass „den naturhistorischen Museen […] so, in einer Zeit nicht selten blinder Wissenschaftsgläubigkeit, eine wichtige Ordnungsfunktion innerhalb der mehr und mehr segmentierten Gesellschaft zu [kam]“ (S. 295).