A. Kruge (Hrsg.): Zwangsmigration und Vertreibung

Kruke, Anja (Hrsg.): Zwangsmigration und Vertreibung - Europa im 20. Jahrhundert. . Bonn 2006 : Verlag J.H.W. Dietz Nachf., ISBN 3-8012-0360-3 240 S. € 24,00

Faulenbach, Bernd; Helle, Andreas (Hrsg.): Zwangsmigration in Europa. Zur wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzung um die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Essen 2005 : Klartext Verlag, ISBN 3-89861-448-4 111 S. € 14,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans Henning Hahn, Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

In einem öffentlichkeitswirksamen Schlagabtausch über die Art und Weise, wie in Deutschland des Vertreibungsgeschehens während und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu gedenken sei, hatten sich im Sommer 2003 drei Grundrichtungen herausgeschält: einmal die Anhänger der Gründung eines vom Bund der Vertriebenen (BdV) initiierten „Zentrums gegen Vertreibungen“, personifiziert von der CDU-Bundestagsabgeordneten und BdV-Vorsitzenden Erika Steinbach, zum anderen die Unterzeichner des internationalen Aufrufs „Für einen kritischen und aufgeklärten Vergangenheitsdiskurs“ (<http://www.vertreibungszentrum.de>), den der Verfasser dieser Rezension mit initiiert hat, und schließlich die Befürworter eines europäischen Zentrums, die ein in Polen anzusiedelndes Forschungs- und Gedächtniszentrum vorschlugen – eine Option, für die etwa der SPD-Bundestagsabgeordnete Markus Meckel warb. Zur Jahreswende 2003/04 setzten sich dann Historiker/innen, die sich der rot-grünen Koalition verbunden fühlten, für eine institutionelle Alternative zum Steinbachschen Projekt ein. So fand im Dezember 2003 in Bonn ein von der Historischen Kommission beim Parteivorstand der SPD veranstaltetes Symposium statt, dem im März 2004 eine etwas größere Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung folgte. Diese beiden Tagungen haben zu den hier zu besprechenden Bänden geführt.1

Der von Bernd Faulenbach und Andreas Helle herausgegebene schmale Band besteht, wenn man die üblichen Formaltexte einmal beiseite lässt, aus drei thematischen Referaten von Norman Naimark, Götz Aly und Hans Lemberg, einer Skizze der Haltung der damaligen Bundesregierung (aus der Feder des damaligen Ministerialdirigenten bei der Staatsministerin für Kultur und Medien, Knut Nevermann) sowie dem Protokoll einer Podiumsdiskussion, bei der als einzige Vertreterin möglicher Gegenpositionen Helga Hirsch sprach. Alle beteiligten Autoren gehen unhinterfragt von den beiden Thesen aus, dass erstens die Vertreibung der Deutschen eine „ethnische Säuberung“ und zweitens das ethnische Denken für die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts prägend gewesen sei. Letzteres gelte nicht nur für alle Varianten des völkischen Nationalismus, sondern ebenso für die Entscheidungen der Alliierten im Zweiten Weltkrieg wie zuvor in anderen Problemlagen – und schließlich auch für die Sowjetunion. Selbst die einzigartige nationalsozialistische Form des Antisemitismus wird dem ethnischen Denken als übergreifender Kategorie zugerechnet. So unterschiedliche Figuren wie Wilson, Churchill, Hitler und Stalin werden als Vertreter eines gemeinsamen Prinzips hingestellt. Erstaunlicherweise äußerte niemand die Idee, dass es im Laufe der neueren Geschichte Europas doch recht verschiedene Nationskonzepte gab, die sich nicht alle auf das ethnische Paradigma zurückführen lassen.

Der von Anja Kruke herausgegebene Band tritt mit einem anderen wissenschaftlichen Anspruch auf – äußerlich schon daran festzustellen, dass die meisten Autoren ihre Thesen auch in Fußnoten zu belegen versuchen. Die 20 Beiträge des Bandes (neben einer Einleitung von Friedhelm Boll und Anja Kruke) sind in zwei Abschnitte gegliedert: Unter der Überschrift „Zwangsmigration in übergreifender Perspektive“ steuern sechs Autoren aus Deutschland sowie die Wiener Kulturwissenschaftlerin Heidemarie Uhl und der Pariser Historiker Thomas Serrier ihre Gedanken bei. Der zweite Teil, betitelt mit „Zwangsmigration in nationaler Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur“, enthält jeweils vier Beiträge zu drei europäischen Regionen: „Baltikum/Polen“, „Tschechien/Österreich/Slowakei“ und „Ungarn/Slowenien/Italien“. Andere Teile des europäischen Kontinents wurden nicht berücksichtigt, da im Mittelpunkt des Interesses offensichtlich die Vertreibung der Deutschen infolge des Zweiten Weltkriegs und keineswegs die Geschichte der Zwangsmigration und Vertreibung im gesamten Europa des 20. Jahrhunderts steht.

„Die Autoren plädieren für die Schaffung eines ‚Europäischen Netzwerks: Zwangsmigration und Vertreibung im 20. Jahrhundert’“, heißt es zwar auf dem Umschlag, doch liegen nicht alle Beiträge auf der Linie dieses Projekts. Peter Haslinger weist zutreffend darauf hin, dass es zunächst weiterer Forschungen über den konkreten Hergang bedürfe, um das historische Geschehen, an das erinnert werden soll, einer rationalen Diskussion zugänglich zu machen. Wolfgang Höpken zeigt, dass die Darstellung der Vertreibung in Schulbüchern über Jahrzehnte hinweg auf unterschiedliche Weise politisch instrumentalisiert wurde. Mehrere Autoren – vor allem Heidemarie Uhl, Thomas Serrier und Pawe&#322; Machcewicz &#8722; erläutern die schwerwiegenden Bedenken, die die neuesten Entwicklungen im deutschen Erinnern an die Vertreibung europaweit hervorgerufen haben. Manche Beiträge äußern sich überhaupt nicht zu dem Projekt, für das der Umschlagtext plädiert, und zwei Artikel stammen von Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirats der Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“, die das konkurrierende Projekt des BdV unterstützen, nämlich von Hermann Schäfer und Krisztián Ungváry. Zwei Beiträge zu Tschechien und einer zur Slowakei bilanzieren informativ und anschaulich die Erfahrungen ihrer Autoren, die seit 1990 in zwischenstaatlich institutionalisierten und koordinierenden Organisationen tätig sind – Erfahrungen, die gerade im Themenbereich „Flucht und Vertreibung“ keineswegs ermutigend sind. Das Buch regt damit auch zum Nachdenken darüber an, warum das von der Friedrich-Ebert-Stiftung angepriesene „Europäische Netzwerk“ bisher doch wenig erfolgreich war.

Die unklare Verwendung des Adjektivs „europäisch“ sorgte in der Debatte von Anfang an für Missverständnisse. An der Wiege des Vorhabens lag die Entschließung des Deutschen Bundestages vom 4. Juli 2002 „Für ein europäisch ausgerichtetes Zentrum gegen Vertreibungen“ (Drucksache 14/9033/9661, vgl. hier S. 13). Wie dieser Sammelband zeigt, scheint die deutsche Initiative in den meisten europäischen Staaten nur wenig Akzeptanz gefunden zu haben. Offensichtlich hat auch niemand festzustellen versucht, ob in weiteren europäischen Ländern zwischen Portugal, Großbritannien und Skandinavien das nötige Interesse bestehe. Ebenfalls einzubeziehen wären Israel und die USA, haben doch gerade in diesen beiden Ländern zahlreiche vertriebene Europäer ihre Zuflucht gefunden.

Zur Unterstützung des weiteren Nachdenkens präsentiert Stefan Troebst eine Reihe bisher geäußerter Vorschläge, was „eine paneuropäische wissenschaftliche Einrichtung zur Erforschung politisch motivierter Zwangsmigration leisten sollte“. Es sind wahrlich bedenkenswerte Ideen darunter: Philipp Ther von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder optiere etwa für „Verstetigung der Erinnerung, Musealisierung, Didaktisierung und bedingt Verwissenschaftlichung“ mittels einer „alleuropäischen Wanderausstellung“, die „in Geschichtswerkstätten an dem jeweiligen Ort der Ausstellung“ zu präsentieren sei; Stefan Laube von den Luthergedenkstätten in Wittenberg schwebe „auf der Basis von Originalen eine multisensuelle, szenographische Museumswelt“ vor, die „als emotional-intellektuelles Erlebnis ein touristisches High-Light“ jedes denkbaren Standortes sein könne; Mathias Vogt von der Fachhochschule Görlitz habe für eine dezentrale Struktur geworben, in der Lehrer/innen und anderen Multiplikatoren „Handreichungen dafür gegeben werden, dass die nächste Generation positiv beeinflusst werden kann“; Jürgen Danyel und Christoph Kleßmann seien der Meinung gewesen, dass ein solches Zentrum zwar einen festen Ort haben könne, aber „im Kern als eine Wanderausstellung“ konzipiert werden solle: „Es müsste unterwegs in Europa sein, wie es einst die Flüchtlinge, Vertriebenen und Deportierten waren oder heute wieder sind.“

Die beiden Aufsätze über Tschechien präsentieren eine andere Perspektive. Tomáš Kafka, seit 1991 Mitarbeiter des Tschechischen Außenministeriums und 1998–2005 Geschäftsführer des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds, bilanziert seine Erfahrungen auf dem Gebiet der Erinnerungspolitik. Die Frage, wie man zur Geschichte stehe, habe sich derart zu einem „Gesinnungstest“ entwickelt, „dass aus dem Objekt unserer Bestrebungen statt einer Chance für moralische Katharsis eher eine Sportdisziplin entsteht“ (S. 164). Kafka bedauert diesen Zustand, weil er in der tschechischen Öffentlichkeit wegen der beharrlichen Wiederkehr alter Streitigkeiten zu Ermüdung und Frustrationen führe sowie nicht zuletzt auch zu dem Gefühl, „dass man wegen der 13 Jahre, die unser Versuch mit der Geschichte der Jahre 1945–1948 einschließlich der Flucht und Vertreibung kumulativ in Anspruch nahm, die folgenden 40 Jahre der kommunistischen Diktatur in der Tschechoslowakei vernachlässigt hat“ (S. 166).

Historiografisch anschaulich wird die deutsch-tschechische Kooperation im Bereich der Erinnerungskultur im zweiten Beitrag des regionalen Teils „Tschechien/Österreich/Slowakei“. Darin finden wir zehn Thesen zweier namhafter Historiker aus Deutschland und Tschechien (Detlef Brandes/Ji&#345;í Pešek). Dieser Beitrag zeigt, wie sehr der neueste Stand der Geschichtsforschung von den bis heute populären deutschen Erinnerungsbildern an die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei abweicht. So habe es sich bei den bekanntesten Massakern an der deutschen Bevölkerung in der Nachkriegstschechoslowakei – etwa dem Aussiger Massaker – keineswegs um „Ausbrüche des spontanen Hasses des tschechischen Volkes“ gehandelt, sondern um „gezielt organisierte Unternehmen der tschechoslowakischen Heeresabwehraufklärung (in enger Zusammenarbeit mit der Roten Armee)“. Der gemeinsam geschriebene Aufsatz liefert ein Beispiel dafür, wie die bisherige internationale Kooperation von Historikern eine kritische Auseinandersetzung mit traditionellen Erinnerungsbildern anregt. Zudem unterstreicht er, dass es in den deutsch-tschechischen Beziehungen weniger an institutionalisierten Grundlagen für eine Zusammenarbeit interessierter Historiker mangelt als vielmehr an der Rezeptionsfähigkeit der – in diesem Fall deutschen &#8722; Öffentlichkeit.

Auch die beiden Artikel über die Slowakei bringen bedenkenswerte Erfahrungen der letzten 15 Jahre zum Ausdruck. Sie sind der Erinnerung an die Umsiedlung von rund 90.000 Ungarn aus der Slowakei im Zuge der bilateralen tschechoslowakisch-ungarischen Verträge nach dem Zweiten Weltkrieg (Miroslav Kusý) sowie der „,Vertreibung und Aussiedlung’ aus Sicht der slowakischen Gesellschaft und Historiografie nach 1989“ gewidmet (Edita Ivani&#269;ková). Aus beiden geht hervor, dass das Thema „Vertreibung“ in der Slowakei anders erinnert wurde und wird als in Tschechien. Diese Tatsache – unterschiedliche historische Erfahrungen führen schon in zwei nationalen Gesellschaft innerhalb eines Staates zu unterschiedlichen Formen des Erinnerns – sollte als ein anregender Impuls für alle Versuche einer „Europäisierung“ der Erinnerungen an die Vertreibung verstanden werden, ein Punkt, der jedoch im Rahmen dieses Sammelbandes nicht wieder aufgenommen wurde.

Es gehört zu den Verdiensten des Bandes, dass hier auf bisher kaum diskutierte Probleme hingewiesen wird, die die weitgehende Erfolglosigkeit des Konzepts „Europäisches Netzwerk“ erklären. Sehr aufschlussreich sind diesbezüglich die beiden Aufsätze aus Wien und Paris. Heidemarie Uhl steuert kluge Beobachtungen über das deutsche Erinnern an die Vertreibung im Vergleich zu der Entwicklung in Österreich bei. Ihr Vergleich regt vor allem zu einer kritischen Überprüfung des heute modischen Hantierens mit dem Schlagwort „Erinnerung“ an. Uhl zeigt, wie dieses Schlagwort dazu dient, innergesellschaftliche Deutungskämpfe zu verschleiern: „Was in den letzten beiden Jahren in der Gedächtniskultur der Bundesrepublik beobachtet werden konnte, ist die Transformation der partikularen Erinnerungskultur einer gesellschaftlichen Teilgruppe – der Vertriebenenverbände – zu einem Bezugspunkt von identitätsstiftender Relevanz für das Gedächtnis der ganzen Nation.“ (S. 71f.) Dadurch sei ein fester Zusammenhang zwischen dem Erinnern an den Holocaust und an die Vertreibung entstanden: „Auch wenn das ‚Zentrum gegen Vertreibungen‘ nicht in der geplanten Form realisiert werden sollte, die Bilder der Vertreibung stehen nun im Bildgedächtnis Deutschlands neben jenen des Holocausts.“ (S. 73) Uhl weist auch auf eine im europäischen Kontext auffällige bundesdeutsche Entwicklung hin: Im Unterschied zu anderen europäischen Nationen scheine die Bundesrepublik „jene Phase der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, die seit den Achtzigerjahren unter dem dominanten Vorzeichen der Schuldfrage stand, gerade hinter sich zu lassen“ (S. 75). Daraus ergibt sich für die Frage nach der mangelnden Akzeptanz des Europäisierungskonzepts außerhalb der Grenzen Deutschlands, dass es nützlich sein könnte, die Eigenarten des deutschen Erinnerns näher zu erforschen, statt sich auf die Kritik der Polen, Tschechen oder anderer Nationen zu konzentrieren und deren Mangel an Einsicht zu beklagen.

Thomas Serrier legt aus französischer Sicht fünf Thesen „Zur Europäisierung des deutschen Erinnerungsortes ‚Flucht und Vertreibungen‘“ vor. Er zeigt, dass die jüngste deutsche Welle des Erinnerns in Frankreich „als eine vorrangig deutsche Debatte mit internationalen Auswirkungen“ gesehen, die Anerkennung der Opferperspektive auch der Deutschen als legitim erkannt und akzeptiert, zugleich aber die deutsche Ostpolitik nach wie vor mit besonderer Wachsamkeit beobachtet werde. Serrier kritisiert die bisher aus unerklärlichen Gründen zu beobachtende Nichtberücksichtigung Frankreichs und dessen Elsass- und Algerienerfahrungen mit Vertreibungen und Zwangsmigrationen im deutschen „Europäisierungsprojekt“; er wirft auch die Frage auf, warum sich dieses Projekt auf Ostmitteleuropa konzentriere, ohne die für die Vertreibung der Deutschen mitverantwortlichen Großmächte USA, Großbritannien und Russland einzubeziehen. Schließlich regt er an, Begriffe und Theorien der außereuropäischen Geschichte zu nutzen, etwa aus der postkolonialen Forschung.

Möchte man die Erinnerung an die Vertreibung der Deutschen „europäisieren“, dann scheint es erfolgversprechender zu sein, nicht nur von den deutschen Erfahrungen auszugehen, sondern die Erfahrungen anderer Europäer mit zu berücksichtigen. Die Kluft zwischen den unterschiedlichen historischen Erfahrungen, die Europa vor und während des Zweiten Weltkrieges entzweit haben, besteht bis in die Gegenwart. Sie gilt es zu überwinden oder zu minimieren, bevor man sich um gemeinsame Erinnerungen an die Folgen bemüht, die dieser Krieg auch für die deutsche Zivilbevölkerung mit sich brachte. Solange diese frühere Kluft zwischen Deutschland und den ehemaligen Gegnern des NS-Regimes noch besteht, wird es kaum gelingen, den deutschen Erinnerungsort „Flucht und Vertreibung“ zu europäisieren.

Anmerkung:
1 Eine ausführlichere Version dieser Rezension findet sich unter: <http://www.bohemistik.de/erinnern.html>.

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