N. Jacobsen u.a. (Hrsg.): Political Cultures in the Andes, 1750-1950

Cover
Titel
Political Cultures in the Andes, 1750-1950.


Herausgeber
Jacobsen, Nils; Aljovin de Losada, Cristobal
Reihe
Latin America Otherwise: Language, Empire, Nations
Erschienen
Anzahl Seiten
386 S.
Preis
$ 16.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Mücke, Seminar für Romanische Philologie, Georg-August-Universität Göttingen

Für wenige Bereiche der Geschichtswissenschaft war der "cultural turn" ein solcher Segen wie für die politische Geschichte Lateinamerikas. Dort stand und steht die Nationalgeschichtsschreibung bis heute vor dem Paradox, dass die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Länder in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keinesfalls eine Epoche des Aufschwungs einleitete, sondern vielmehr – gerade was die politische Ordnung anbetrifft – als Beginn einer Zeit des Chaos und des Niedergangs wahrgenommen wird. Die traditionelle Historiographie maß die Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit in erster Linie am US-amerikanischen und am europäischen (d.h. englischen und französischen) Vorbild. Sie kam dabei zwangsläufig zu dem Ergebnis, dass in Lateinamerika die politische Realität nicht den gesetzlichen bzw. verfassungsmäßigen Vorgaben folgte. Lateinamerikanische Geschichte war defizitär – sowohl im Vergleich zu dem US-amerikanischen und den europäischen Beispielen als auch in Bezug auf die normative und schriftlich fixierte Ordnung. Die moderne Historiografie interessierte sich daher herzlich wenig für politische Geschichte, sondern legte ihren Schwerpunkt auf soziale und ökonomische Phänomene, wobei häufig die Ausbeutung und Unterdrückung im Vordergrund stand (sei es innerhalb der Region, sei es durch Mächte außerhalb der Region). Der "cultural turn" ermöglichte schließlich eine Diskussion der lateinamerikanischen politischen Geschichte seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, welche zum einen die lateinamerikanischen Erfahrungen nicht am europäischen Maßstab maß und zum anderen die Politik als Sphäre des menschlichen Seins ernstnahm und nicht als abhängige Variable des Ökonomischen und/ oder Sozialen betrachtete.

Der von Nils Jacobsen und Cristóbal Aljovín herausgegebene Sammelband bietet den zurzeit besten Einstieg in die Debatten über politische Kultur in den Anden, also in Kolumbien, Ekuador, Peru und Bolivien. Das Buch vereint elf Fallstudien und vier Beiträge, welche politische Kultur in den Anden auf allgemeiner und/oder theoretischer Ebene diskutieren. Das Besondere an "Political Cultures in the Andes" ist unter anderem, dass Jacobsen und Aljovín einen Beitrag aufgenommen haben, welcher das in diesem Buch vertretene Konzept der politischen Kultur scharf kritisiert. Mir ist kein Sammelband bekannt, in dem die Herausgeber das von ihnen vertretene Konzept in einer solchen, zum Teil sehr polemischen Weise verurteilen lassen.

Die Ablehnung des Konzeptes der politischen Kultur stammt von Alan Knight, einem in Oxford lehrenden Spezialisten für mexikanische Geschichte, der bisher mit Publikationen zu den Anden nicht hervorgetreten ist. Seine Kritik bezieht sich daher auf das Konzept "politische Kultur". Seines Erachtens zeigt die lateinamerikanische Geschichte, dass politische Kultur keine unabhängige Variable ist. Er meint, dass "political culture becomes the dependent variable" (S. 50). Entscheidend für die politische Entwicklung seien ökonomische und soziale Umbrüche, und diese könnten durchaus auch kurzfristig die politischen Konstellationen verändern. Daher, und das ist die entscheidende Schlussfolgerung bei Knight, bringt eine Analyse der politischen Kultur nicht viel, da sie zum einen vage bleibt und zum anderen nichts (oder nicht viel) erklären kann (wobei es Knight tatsächlich um Erklären im kausalen Sinn und nicht primär um Verstehen geht).

Die Antwortung von Jacobsen und Aljovín auf diesen Frontalangriff fällt relativ milde aus. Sie plädieren für eine "pragmatische Perspektive" in Bezug auf politische Kultur (S. 1). Politische Kultur soll kein starres Konzept sein, sondern ein Zugang, um politische Geschichte schreiben zu können. Sie unterscheiden dabei zwei Richtungen in der Historiografie zu den Anden. Zum einen jene Arbeiten, die – sich häufig auf Gramsci berufend – den Blick vor allem auf die ländlichen Unterschichten richten und zum anderen jene Arbeiten, die eher in der Tradition Tocquevilles stehen und sich vor allem mit der städtischen Politik auseinandersetzen. Gegen Knight argumentieren Jacobsen und Aljovín in erster Linie damit, dass sich Interessen und Werte nicht messerscharf trennen lassen. Während Knight darauf insistiert, dass ökonomische und soziale Interessen handelsleitend sind, meinen Jacobsen und Aljovín, dass diese Interessen nicht losgelöst von Werten gesehen werden können. M.E. hätte man hier schärfer antworten können, denn die Frage, was ökonomische und soziale Interessen sind, ist ja selbst in einen kulturellen Kontext eingebunden. Der Anspruch, menschliches Handeln sei nur innerhalb seiner kulturellen Bedeutungsmuster zu verstehen, ist also keine ergänzende Perspektive, sondern eine Prämisse.

Die elf thematischen Beiträge sind in drei Blöcke gegliedert. Im ersten geht es um nation-building-Projekte. Charles Walker beschreibt den zweifachen Stadtbezug der bourbonischen Reformen, also jener Politik der spanischen Krone, die vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Spanien wieder an die konkurrierenden europäischen Großmächte heranführen wollte. Zweifach städtisch seien die Reformen gewesen, weil sie zum einen in der Stadt erkoren worden seien und weil sie zum anderen das Bild der Städte und der Städter verändern sollten. Allerdings seien die Reformen in großem Umfang am Widerstand der städtischen Unterschichten gescheitert. Als Erbe sei der Anspruch geblieben, nach aufgeklärten Prinzipien geordnete Städte zu kreieren, in denen die Unterschichten nicht präsent oder zumindest nicht einflussreich seien. Dieses Erbe habe bis weit ins 19. Jahrhundert gewirkt.

Cristóbal Aljovín analysiert die nur drei Jahre existierende peruanisch-bolivianische Konföderation unter Santa Cruz (1836-1839). Aljovín zeigt hier, wie Santa Cruz in seinem Versuch, das Zentrum der politischen Macht von Lima weg zu verlagern, sich auf eine originelle aber wenig homogene Mischung politischer Traditionen (vom europäischen Liberalismus bis hin zu Konzepten der andinen Bauerngemeinden) einließ, die letztlich am geschlossenen Widerstand Limas und Nordperus scheiterte.

Carlos Contreras beschreibt die peruanische Steuerreform nach dem Krieg mit Chile (1879-1883), welcher zum Kollaps des peruanischen Staates geführt hatte. Die Idee der führenden Politiker Limas, die Steuereintreibung Beamten zu übertragen, die unmittelbar dem Finanzministerium unterstellt waren, führte zu einem totalen Zusammenbruch der Steuereintreibung, da sich nun nicht nur die unwilligen Steuerzahler außerhalb Limas wehrten, sondern auch die lokalen Größen in den andinen Provinzen, welchen bislang das Eintreiben der Steuer anvertraut war. Diese sahen in den neuen Regelungen einen Weg, ihre Macht einzuschränken und fanden daher die Mittel, die Reform scheitern zu lassen.

Laura Gotkowitz analysiert die Vielschichtigkeit des politischen Diskurses über die Rolle der Indianer in Bolivien vor der Revolution von 1952. Sie zeigt dabei, dass sich die Radikalisierung der Vorstellungen der Indianer zwar aus der Kommunikation mit nicht-indianischen politischen Führern ergab, sie aber gleichzeitig tief eingeschrieben war in einen indianischen Diskurs, der sich bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen lässt.

Die zweite Gruppe von Beiträgen steht unter der Überschrift "Ethnizität und Geschlecht". Hier geht es in erster Linie um Strategien des Ein- bzw. Ausschlusses. Margarita Garrido untersucht, welche Strategien die kolumbianischen Unterschichten an der Atlantikküste gegen Ende des 18. Jahrhunderts entwickelten, um sich politische Spielräume zu verschaffen. Entscheidend war dabei, dass es den Unterschichten (v.a. Nachfahren von Sklaven) gelang, sich als ehrenwerte Leute zu präsentieren. Der Erfolg dieser Strategie wurde von der Politik Madrids begünstigt, welche die freien Nachfahren der Sklaven als eine wichtige Gruppe für die Verteidigung der Kolonien betrachtete.

Aline Helg beschreibt in ihrem Beitrag, die – letztlich gescheiterte – Strategie jener Nachfahren an der kolumbianischen Atlantikküste, sich im Kontext des Kampfes gegen die spanische Kolonialherrschaft als gleichberechtigte Bürger zu etablieren. Die Vorstellung, Kolumbien sei ein von Weißen, Indianern und Mestizen geprägtes Land, sei – so Helg – letztlich Ausdruck des Scheiterns der afro-kolumbianischen Bevölkerung an der Atlantikküste, sich eine gleichberechtigte Position im neuen Staat zu erkämpfen.

Derek Williams beschäftigt sich mit dem Paradox, dass in Ecuador unter dem ultra-katholischen Präsidenten García Moreno Frauen und Indianer in weit größerem Umfang Zugang zur Schulbildung erhielten, als dies in den deutlich liberaler geprägten Nachbarstaaten der Fall war. García Moreno hatte ein ausschließlich paternalistisches Verständnis der Bildung für Frauen und Indianer, aber dennoch trug seine Politik dazu bei, dass diese subalternen Gruppen Wege fanden, ihre Interessen innerhalb eines nationalen politischen Systems zu artikulieren.

Im letzten Beitrag des zweiten Teils analysiert Brooke Larson die Schriften von vier bolivianischen Intellektuellen aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Alle vier wünschten sich ein anderes Bolivien, wollten aber die Macht der landbesitzenden Oligarchie nicht antasten, da ihnen die Mestizen als gefährlich erschienen und sie die Indianer als unmündige Menschen betrachteten, die man beschützen musste, denen man aber nicht das Schicksal des Landes anvertrauen konnte. Wie man nun aber aus diesen kindlichen Indianern verantwortungsbewusste Staatsbürger machen sollte, darüber gingen die Meinungen weit auseinander.

Der letzte Teil des Bandes beschäftigt sich mit "popular representation in the public arena". Seine drei Beiträge gehören zu den besten des Buches. Sergio Serulnikov beschreibt die lokalen Wurzeln des großen Aufstands (bzw. der großen Aufstände), der zu Beginn der 1780er Jahre die Anden erschütterte. Serulnikov zeigt überzeugend, dass es durchaus unterschiedliche politische, soziale und ideologische Konflikte waren, welche in den großen Rebellionszyklus mündeten. In seinem Beitrag zur (bürgerlichen) Öffentlichkeit in Peru gegen Ende des 19. Jahrhunderts vertritt Nils Jacobsen die Ansicht, dass eine strikte Trennung zwischen modernen Kanälen der Öffentlichkeit (wie z.B. Zeitungen) und traditionellen, also eher personenbezogenen Formen der politischen Kommunikation wenig hilfreich ist. Es habe vielmehr einen breiten Zwischenraum gegeben. Die Präsenz von Teilen der Unterschicht in diesem Raum habe es auch Analphabeten erlaubt, sich Gehör innerhalb der nationalen Politik zu verschaffen. Mary Roldán schließlich analysiert Diskurs und Programm von Jorge Eliecer Gaitán in Kolumbien in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Im Kontext des als "Violencia" in die Geschichte eingegangenen Bürgerkriegs der 1950er-Jahre wurde dieses Programm von verschiedenen liberalen Gruppen in unterschiedlichste, zum Teil konträre politische Konzepte transformiert.

Das Buch schließt mit einem zusammenfassenden Kapitel von Nils Jacobsen und Cristóbal Aljovín. Drei Themen, so meinen die beiden Herausgeber, tauchen in den elf Beiträgen des Bandes besonders häufig auf. Erstens die Beschäftigung der Eliten mit Fragen der Ethnizität und ihr Versuch, "Rasse" als ein Kriterium des gesellschaftlichen Ausschlusses zu entwickeln. Zweitens Probleme beim "state-building", welche vor allem auf Widerstände von städtischen und ländlichen Unterschichten gegen elitäre und zum Teil ausländische Modernisierungsprojekte zurückzuführen sind. Und schließlich die vielfältigen Verflechtungen zwischen den vermeintlich modernen und vermeintlich traditionellen Politikvorstellungen und -praktiken. Auf dieser Grundlage identifizieren Jacobsen und Aljovín zwei Aspekte, die ihnen charakteristisch für die andine politische Kultur erscheinen. Zum einen die spezifische Verbindung zwischen lokaler und regionaler bzw. nationaler Politik. Aufgrund der geographischen Bedingungen seien die Bewohner andiner Dörfer seit jeher dazu gezwungen, ihre Wirtschaftsaktivitäten über einen weit über die eigene Lokalität hinausgehenden Raum auszudehnen, was zu entsprechenden Vorstellungen vom politischen Raum geführt habe. Zum anderen habe sich aufgrund der starken widerstreitenden Kräfte in den Anden hier ein Gleichgewicht ergeben, welches politisch-institutionelle Veränderungen erheblich erschwert habe.

Die einleitende kontroverse Diskussion über "political culture" und die Zusammenfassung mit ihren Thesen zur spezifischen politischen Kultur in den Anden geben den zum Teil sehr unterschiedlichen Fallstudien einen Rahmen. Jacobsen und Aljovín ist es gelungen, das Gemeinsame der elf Beiträge auf den Punkt zu bringen. Deswegen werden auch die Leser/innen, die sich für keines dieser Fallbeispiele interessieren sollten, die einleitenden Kapitel und das Resümee mit großem Gewinn lesen.

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