B. Schmid: Schreiben für Status und Herrschaft

Titel
Schreiben für Status und Herrschaft. Deutsche Autobiographik in Spätmittelalter und früher Neuzeit


Autor(en)
Schmid, Barbara
Erschienen
Zürich 2006: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
255 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Barbara Hillen, Agentur für AutoBiografien

Endlich liegt ein Werk über Autobiografik vor, dessen Autorin sich einer bisher vernachlässigten Epoche angenommen hat, nämlich dem Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit. Endlich in zweierlei Hinsicht, wurde doch die hier veröffentlichte Dissertation bereits 1998/99 an der Universität Zürich eingereicht. Die Überarbeitung hat sich wohl gelohnt, denn die Leser/innen erwartet eine Fülle von spannenden Analysen autobiografischer Texte, die hauptsächlich aus den süddeutschen Städten Nürnberg und Augsburg überliefert sind.

Seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstanden im deutschsprachigen Raum zunehmend zusammenhängende Aufzeichnungen über die Lebensverhältnisse der Verfasser, die, hauptsächlich aus dem städtischen Bürgertum und dem adeligen Patriziat stammend, in verschiedenen Varianten überliefert sind: Hausbücher, selbständige Lebensbeschreibungen, persönliche Reise- und Ereignisberichte, Geschlechterbücher, Kinderverzeichnisse, Schreibkalender und Diarien, Briefe sowie administrative Aufzeichnungen, Rechnungs- und Handelsbücher, Steuerverzeichnisse, Testamente und Inventare. Sie bilden die Grundlage für die vorliegende Analyse im Schnittbereich literaturgeschichtlicher und sozialgeschichtlicher Betrachtungen. Weiterführende Überlegungen zur Geschichtstheorie, etwa die Frage nach dem Anteil der Autobiografik an der Geschichtsschreibung, klammert die Autorin bewusst aus. Sie tut gut daran, bleibt doch so ihr Forschungsvorhaben überschaubar und gleichzeitig erfrischend interdisziplinär.

Wer bis jetzt die zum Teil sehr kleinteilig geführte Diskussion um Begriffe wie „Ego-Dokumente“ und „Selbstzeugnisse“ nicht verfolgt hat, dem bietet Schmid eine kurze und gekonnte Zusammenfassung des bisherigen Forschungsstandes. So ist mittlerweile der 1990 von Winfried Schulze eingeführte Quellengattungsbegriff „Ego-Dokumente“ heute weitgehend durch den seit 1994 von Benigna von Krusenstjerns verwendeten Begriff der „Selbstzeugnisse“ ersetzt. Neben der Terminologie kommt auch das „Konzept des modernen Individuums“ auf den Prüfstand. Laut Schmid stellen Verfasser/innen jüngerer Studien das im Hintergrund der „Selbstzeugnisse“-Forschung fortwirkende Konzept Jacob Burckhardts von der zunehmenden menschlichen Individualität bzw. die Ablesbarkeit von Individualisierungsprozessen aus „Selbstzeugnissen“ immer häufiger in Frage. Schließlich hinterfragt Schmid den Umgang mit der „Quelle“: An ihr sei weniger ein „Mikroskop“ anzusetzen, um mit ethnologischer Methode aus der Mikroperspektive in vergangenes Geschehen einzutauchen. Vielmehr seien die situationsbedingten Beeinflussungen beim Abfassen der Schriften zu beachten. Auf den ersten Blick „spontane“ Äußerungen von Individuen seien von Gattungsvorhaben abhängig und würden im Rahmen bestimmter Kommunikationszusammenhänge festgehalten. Dies werde gerade erst von der „Selbstzeugnisse“-Forschung erkannt.

Besonders hilfreich für den mit der Literaturgeschichte weniger vertrauten Leser ist die auf den Punkt gebrachte Einordnung der Autobiografik in die Forschungsliteratur. Hier unterscheidet Schmid zwischen drei Ansätzen: Erstens die Interpretation der Gattung als unmittelbare Parallelentwicklung zu einem allmählich sich festigenden Selbstgefühl des Menschen als Individuum. Als ästhetischer Höhepunkt der literarischen Gattung galt vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren Goethes „Dichtung und Wahrheit“. Die hier verwirklichten „klassischen“ Grundsätze waren der Maßstab auch für die Beurteilung der frühen Autobiografik. Ein zweiter Forschungsansatz sieht den zeitgenössischen Verfasser als Träger einer gesellschaftlichen Rolle. Die Entstehung der frühen Autobiografik wird hier auf eine standesgebundene Gebrauchsprosa zurückbezogen. Schließlich und drittens gilt die frühneuzeitliche Autobiografik als eine Form sozialen und sprachlichen Handelns, was für Historiker/innen weniger überraschend als für Literaturwissenschaftler/innen sein dürfte. Leider vermögen die Leser/innen durch die Wortwahl der Autorin und allzu häufige indirekte Rede im ersten, theoretischen Teil des Buches nicht immer ihre eigene Position zu erkennen. Man hat vielmehr den Eindruck, als referiere sie, oftmals unnötig zur Vorsicht neigend, aus einem Lehrbuch.

Schließlich – und dies ist das zentrale Problem und zugleich die Überleitung zum empirischen Teil des Buches – stellt Schmid die wichtige Frage nach den Rezipienten. Bisher in der Forschung zu Unrecht vernachlässigt, werden sie bei Schmid zu „Partnern des vom Autor eingeleiteten Austausches“ (S. 58) erhoben. Im ersten Quellenteil des Buches nimmt Schmid Zeugnisse aus dem städtischen Bürgertum genauer unter die Lupe: acht Hausbücher, nämlich Verzeichnisse über familiäre und wirtschaftliche Verhältnisse, sowie eine ausführliche Beschreibung und Analyse des Familienarchivs der Familie Behaim. Allen Autor/innen des von der Autorin zusammengestellten Korpus ist gemeinsam, dass sie aus der städtischen Oberschicht stammen und mit ihren Erinnerungen ihre Zugehörigkeit zur städtischen Elite demonstrieren wollten. Während Hausbücher der Kommunikation mit jüngeren Familienmitgliedern und nachfolgenden Generationen dienten und internes Wissen weitergaben, waren etwa Geschlechterbücher kostbare Geschenke und dienten der Repräsentation des Patriziergeschlechtes nach außen. Die Autor/innen vergewisserten sich und ihren Nachkommen ihres Status, legitimierten ihre Stellung in der Gesellschaft und forderten die Nachkommen gleichzeitig auf, den bisher eingeschlagenen Weg im Bewusstsein der Familientradition verantwortungsvoll weiterzugehen. Bei Schmid finden sich interessanterweise gleich viele weibliche als auch männliche Autoren, was daraufhin deuten mag, dass das Weitergeben von Familiengeschichte nicht nur eine patriarchalische Tradition war, sondern auch ein von Frauen gefördertes, kommunikatives Anliegen beinhaltet. Schmid kann sogar nachweisen, dass im Patriziergeschlecht Behaim Überlieferungslinien existieren, die von der Mutter zur Tochter führen.

Der zweite Quellenteil des Buches widmet sich der im Umfeld der deutschen Fürstenhöfe entstandenen Autobiografik, welche bisher sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch in der Literaturwissenschaft stiefmütterlich behandelt worden ist. Schmid kann nachweisen, dass sich an den Fürstenhöfen ein eigener autobiografischer Traditionszusammenhang erhalten hat, dessen Formen und Funktionen sich zum Teil grundsätzlich von denjenigen der vom städtischen Bürgertum gepflegten Autobiografik unterscheiden. Schriften wurden von Königen und Kaisern in lateinischer und deutscher Sprache verfasst und von geschulten Mitarbeitern redigiert. Ebenso entstanden chronologische Berichte, Augenzeugenberichte und Porträts, die nach dem üblichen Gattungsverständnis der Geschichtsschreibung zuzuordnen wären. Im Unterschied zur städtischen Autobiografik öffnen sich die fürstlichen Darstellungen verstärkt nach außen. Exemplarisch analysiert Schmid die „Viten“ bekannter Könige, etwa Kaiser Karls IV. und Kaiser Friedrichs III. sowie den Augenzeugenbericht Helene Kottanners, einer Kammerfrau am Hofe König Albrechts II., über die Geburt und Krönung Ladilaus’ Postumus. Mit den „Commentarii“ des Aeneas Silvius Piccolomini (Papst Pius II.) veranschaulicht Schmid, wie auf die römische Tradition zurückgegriffen wurde.

Die Autorin verfolgt den Anspruch, die frühe Autobiografik in ihren historischen Formen und Funktionen mit literaturgeschichtlichen und sozialgeschichtlichen Methode zu untersuchen. Dies kann als durchaus gelungen bezeichnet werden. Sie zeigt in anschaulicher Weise, dass die frühe Autobiografik zeitgenössisch als Ausdruck adeliger Bemühungen um den Erhalt der Erinnerung an das Geschlecht verstanden wurde. Die Darstellung des Lebenslaufes sollte das eigene Verhalten bei verschiedenen Gelegenheiten rechtfertigen. Dabei war die stilistische Gestaltung weitgehend sachlich-informativ und nur gelegentlich von rhetorischen Elementen bestimmt.

Die Schriften aus dem Umkreis der Fürstenhöfe heben sich deutlich von der städtischen Überlieferung ab. Erstens öffnen sich diese autobiografischen Zeugnisse einem weiteren Kreis anonymer Leser, zweitens gehören Autoren keiner homogenen Gruppe, sondern verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen an und drittens sind Autorinnen sehr selten. Zentraler Bezugspunkt ist vielmehr der Regent, und der Einsatz literarischer Motive am Fürstenhof häufiger als im Privaten. So stehen am Anfang der autobiografischen Gattung zwei parallele Traditionen, denen gemein ist, dass sie sich für die Sicherung von Status und Herrschaft mit der erfolgreichen Vergangenheit ihres Geschlechtes auseinandersetzen. Überzeugende Ergebnisse, an welchen die Forschung zur Autobiografik in der Zukunft nicht mehr vorbeikommen wird.

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