P. Ehrenpreis: Kriegs- und Friedensziele

Titel
Kriegs- und Friedensziele im Diskurs. Regierung und deutschsprachige Öffentlichkeit Österreich-Ungarns während des Ersten Weltkriegs


Autor(en)
Ehrenpreis, Petronilla
Reihe
Wiener Schriften zur Geschichte der Neuzeit 3
Erschienen
Innsbruck 2005: StudienVerlag
Anzahl Seiten
514 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Vermeiren, Centre for European Studies, University College London

Die Weltkriegsepoche und der Zusammenbruch der Habsburgermonarchie haben sicher mehr Literatur hervorgebracht, als irgendein anderer Zeitabschnitt in der Geschichte des Vielvölkerreiches. Dieser Befund verdeckt allerdings, dass die österreichische Weltkriegshistoriografie internationalen Forschungstrends zum Teil noch immer hinterhinkt. Sozial- und kulturgeschichtliche Fragestellungen etwa rückten erst jüngst stärker in den Mittelpunkt und machen nunmehr der Diplomatie- und Militärgeschichte den lange behaupteten Vorrang streitig. 1 Auch die öffentliche Auseinandersetzung um Kriegs- und Friedensziele ist, anders als beispielsweise im deutschen Fall, bisher nur in einzelnen Aspekten untersucht, nicht aber umfassend und systematisch dargestellt worden. Um es gleich vorwegzunehmen: Petronilla Ehrenpreis’ profunde Arbeit, eine stark gekürzte und überarbeitete Version ihrer bereits 1999 an der Universität Erlangen-Nürnberg eingereichten Dissertation, schließt – trotz mancher Einwände – diese Forschungslücke und wird auf lange Sicht einen Platz als Standardwerk behaupten können.

Diese Einschätzung beruht nicht zuletzt auf der beeindruckenden, sehr gewissenhaft zusammengestellten Quellengrundlage, die Ehrenpreis benutzt hat. Leider gelingt es der Autorin nicht immer, bei der Auswertung des umfangreichen Quellenmaterials über die Wiedergabe möglichst vieler Belegstellen hinaus zum eigentlichen ‚Punkt’ zu kommen und ihr Argument deutlich zu machen. Für die Analyse der öffentlichen Diskussion in der Julikrise 1914 im ersten Teil der Studie sind beispielsweise mehr als 200 deutschsprachige Zeitungen aus Wien und den Kronländern durchgeschaut worden, ohne die „Frage der Relevanz der ‚öffentlichen Meinung’ im Entscheidungsprozeß der Ballhausdiplomatie“ tatsächlich überzeugend zu klären. Ehrenpreis kann keine schlagenden Beweise für ihre These vorlegen, „dass das massive Drängen der Presse zu einem energischen Schritt gegen Serbien […] Außenminister Berchtold in seinem Entschluss bestärkte, diesmal der serbischen Provokation nicht auszuweichen“ (S. 62). Bemerkenswert bleibt dennoch das Ergebnis, dass ähnlich wie im Deutschen Reich kaum von einer umfassenden Kriegseuphorie als vielmehr von einer Mischung aus Begeisterung und Furcht, von einem gewissen Fatalismus der (deutschsprachigen) Bevölkerung beim Eintritt in den Krieg gesprochen werden muss.

Bevor sie im Hauptteil ihrer Arbeit auf die unterschiedlichen Kriegs- und Friedensvorstellungen von Regierung, Parteien und deutschsprachiger Öffentlichkeit eingeht, behandelt Ehrenpreis ausführlich die restriktiven pressepolitischen Rahmenbedingungen des öffentlichen Diskurses. Diese führten gemeinsam mit der fortdauernden Sistierung des Reichsrates dazu, dass die eigentliche Kriegszieldiskussion statt in Parlament und Presse vorwiegend in nicht-öffentlichen bürgerlichen Gesprächsforen stattfand. Zu den bedeutendsten Zirkeln, in denen sich bis zur Lockerung der Zensurpraxis in der zweiten Kriegshälfte namhafte Politiker, Industrievertreter, Intellektuelle und Publizisten trafen, zählten dabei der Kreis um den Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs Hans Schlitter, die Gruppe um den Historiker Heinrich Friedjung, sowie die Abendgesellschaften bei dem ehemaligen Unterrichtsminister und einflussreichen liberalen Politiker Gustav Marchet. Ehrenpreis’ besonderes Verdienst liegt darin, über die bereits bekannten deutschnationalen Positionen hinaus (u.a. Denkschrift Friedjungs, Osterbegehrschrift) auch andere Standpunkte berücksichtigt und beschrieben zu haben, darunter Vorschläge mit großösterreichischer Tendenz, sozialdemokratische Neuordnungsentwürfe, oder die Meinungsäußerungen industrieller Interessenverbände und kirchlicher Würdenträger. Die Vielfalt der Programme und Ideen entsprach dabei den ebenso uneinheitlichen Konzepten am Ballhausplatz, die von ‚bescheideneren’ Überlegungen im Hinblick auf Grenzberichtigungen gegenüber Serbien bis hin zu umfassenden Expansions- und Annexionsplänen reichten. Offiziell blieb es freilich bei der Formel vom Verteidigungskrieg und der allgemeinen Forderung nach Sicherung des Bestandes der Monarchie.

Sehr deutlich wird dabei immer wieder der innere Zusammenhang zwischen außenpolitischen Zielvorstellungen und innenpolitischen Reformvorschlägen, der für die österreichische Kriegs- und Friedenszieldiskussion charakteristisch ist und sie von ähnlichen Debatten in Deutschland, Großbritannien oder Frankreich unterscheidet. Jeder Gebietserwerb, ob in Serbien, Polen oder Rumänien, musste Auswirkungen auf das komplizierte Verfassungssystem, die dualistische Reichstruktur und das problematische Nationalitätengefüge haben. Das gilt auch für eines der meist diskutierten Themen zwischen 1914 und 1918: die Frage einer wirtschaftlichen und politischen Annäherung an den deutschen Bündnispartner. Jene deutschnationalen Vertreter, die sich von der austro-polnischen Lösung und dem mitteleuropäischen Wirtschaftsverband eine Stabilisierung der deutschen Vormachtstellung auf Kosten der slawischen Nationalitäten erhofften, waren es dann häufig auch, die in der 1917 einsetzenden Friedensdebatte für einen Siegfrieden eintraten. Umgekehrt waren die Befürworter eines annexionslosen Verständigungsfriedens zugleich bereit, den nichtdeutschen Nationalitäten in ihren Forderungen nach politischer und kultureller Selbstbestimmung im Rahmen einer Föderalisierung des Habsburgerreiches entgegen zu kommen. Mit seiner flexiblen und überaus öffentlichkeitswirksamen Außenpolitik gelang es dem neuen Außenminister Czernin eine Zeit lang, beide Lager hinter sich zu sammeln, doch vermochte er es letzten Endes nicht, seine friedenspolitische Vision gegenüber dem Deutschen Reich durchzusetzen.

Nicht nur an dieser Stelle vermissen die Leser/innen einen stärkeren Bezug zur Identitätsproblematik, der für die Haltung der deutschsprachigen Bevölkerung Österreichs essentiellen Frage nach der Selbst-Verortung zwischen gesamtdeutschem Volksbewusstsein und österreichischer Staatsidee (die Namen Hofmannsthal, Bahr oder Kralik tauchen nur am Rande auf). 2 Wiederholt scheint sich die vorliegende Studie in pressepolitischen Details zu verlieren und wichtigen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen (Ernährungskrise, Streiks, Verschärfung der Nationalitätenkonflikte etc.) zu wenig Beachtung zu schenken. Statt zu argumentieren, verharrt Ehrenpreis häufig auf einer rein deskriptiven Ebene, so dass zahlreiche Fragen offen bleiben, wie beispielsweise die nach dem Zusammenhang zwischen der Polarisierung der deutschsprachigen Öffentlichkeit durch die Kriegs- und Friedenszieldiskussion und dem Zusammenbruch des Habsburgerreiches. Anders als Ehrenpreis zu implizieren scheint, können die schlechte Abstimmung zwischen zivilen und militärischen Pressestellen sowie das Scheitern der amtlichen Propagandapolitik die Entfremdung der deutschsprachigen Öffentlichkeit von der Regierung in Wien, den Autoritätsverlust von Dynastie und staatlichen Institutionen kaum hinreichend erklären. Eine erfolgreichere Lenkung des gesellschaftlichen Diskurses hätte den Zusammenbruch des Vielvölkerreiches, der doch im wesentlichen auf strukturelle Schwächen und kriegsbedingte Krisenerscheinungen zurückzuführen ist, sicher nicht verhindert. Die entscheidenden Fragen, inwiefern vielleicht doch Möglichkeiten und Chancen für eine innere Neuausrichtung des komplexen Staatenverbandes existierten, und wie sehr deutschösterreichische Intellektuelle und Politiker den Untergang der Donaumonarchie durch überzogene Kriegszielforderungen und unrealisierbare innenpolitische Ansprüche zu verantworten haben, müssen die Leser/innen selbst beantworten.

Bei der Fülle an Material und erwähnten Persönlichkeiten wäre schließlich ein Index sehr sinnvoll gewesen. Auch das Lektorat kann leider nicht immer überzeugen (z.B. wird die klassische Mitteleuropa-Studie von Henry Cord Meyer in der Bibliografie auf S. 499 viermal aufgeführt). Trotz dieser kritischen Bemerkungen bietet dieses Buch vor allem aufgrund seiner breiten Quellenbasis zahlreiche neue Erkenntnisse und sei jedem empfohlen, der sich mit der komplexen Geschichte der Habsburgermonarchie im Ersten Weltkrieg beschäftigen möchte.

Anmerkungen
1 Siehe zum Beispiel: Healy, Maureen, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire. Total War and Everyday Life in World War I, Cambridge 2004.
2 Von Ehrenpreis nicht berücksichtigt wurden beispielsweise der Aufsatz von: Streim, Gregor, „Wien und Berlin” in der Zeit der „Waffenbrüderschaft“. Positionen der österreichischen Kriegspublizistik 1914-1918, in: Sprengel, Peter; Streim, Gregor (Hgg.), Berliner und Wiener Moderne: Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik, Wien 1998, S. 244-297, sowie die nicht unproblematische Dissertation von: Kirchhoff, Jörg, Die Deutschen in der österreichisch-ungarischen Monarchie. Ihr Verhältnis zum Staat, zur deutschen Nation und ihr kollektives Selbstverständnis (1866/67-1918), Berlin 2001.