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Titel
Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Mit zwei Beiträgen von Ulrike Spree und Willibald Steinmetz sowie einem Nachwort zu Einleitungsfragmenten Reinhart Kosellecks von Carsten Dutt


Autor(en)
Koselleck, Reinhart
Erschienen
Frankfurt am Main 2006: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
569 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Mehring, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin

Der im Februar 2006 verstorbene Reinhart Koselleck war ein Meister der kleinen Form: des Vortrags und der Abhandlung. Nach „Preußen zwischen Reform und Revolution“ (1967) publizierte er keine geschlossene Monografie mehr. Erratisch stand der geschichtstheoretische Markstein „Vergangene Zukunft“ von 1979 da. Erst über 20 Jahre später, 2000, rückte Koselleck in der Aufsatzsammlung „Zeitschichten“ mit seiner konservativen Antwort auf den Progressismus der Neuzeit heraus: mit dem Hinweis auf die Präsenz des Ungleichzeitigen, den trägen Nachhang der „Strukturen“ gegenüber der ideologischen Emphase des Neuen.1

Die „Begriffsgeschichten“ könnten editorisch expliziter kommentiert sein. Einige Beiträge sind durch neuere Fußnoten ergänzt. Wurden sie überarbeitet? Liegt nun einer der in „Zeitschichten“ angekündigten Bände in einer von Koselleck noch selbst abgeschlossenen „Ausgabe letzter Hand“ vor – bis auf die Einleitung? Kosellecks Auffassungen haben sich infolge der Arbeit an den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ verändert (vgl. dazu S. 86). Die zentrale Aussage des Bandes sehe ich aber weniger in der Weiterentwicklung der Theorie und Methode der Begriffsgeschichte als im konzentrierten Hinweis auf deren sozialgeschichtliche Aufgabe.

Der erste Teil „Zur Theorie und Methode der Begriffsgeschichte“ geht von einer differenzierten Verhältnisbestimmung von „Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte“ aus, die für den gesamten Band leitend bleibt. Insgesamt sechs Beiträge konturieren dann den „linguistic turn“ (S. 191) in der Geschichtswissenschaft. Die durchgängige Frage nach dem zeitlichen Index der Sprache zielt auf die „Wiederholungsstrukturen“ und „Möglichkeiten“. Koselleck konstatiert einen epochalen Wandel vom „Erfahrungsbegriff“ zum „Erwartungsbegriff“ (S. 68). Die neuzeitlichen „Bewegungsbegriffe“ und „Kollektivsingulare“ artikulieren aus seiner Sicht weniger Erfahrungen als vielmehr politische „Vorgriffe in die Zukunft“ (S. 85). Koselleck begründet die alte Auffassung, dass „Ideen“ Geschichte machen, für die „Begriffe“ neu.

Im zweiten Teil reflektiert er die lexikalischen Erträge der „Geschichtlichen Grundbegriffe“. Dabei verlässt er die reine Beobachterperspektive gelegentlich und plädiert insbesondere für die „Gleichberechtigung“ aller Bürger als „konkrete Zielbestimmung eines normativen Minimalkonsenses“ (S. 199ff.). Ein leises Schlüsselwort ist die „Grenze“. Koselleck fragt nach existenziellen „Grenzen“ des neuzeitlichen Progressismus, etwa den „Grenzen“ des deutschen Patriotismus nach der nationalsozialistischen Erfahrung. Das semantische „Modell der Krise als einer Letztentscheidung“ (S. 216) hält er angesichts der modernen Vernichtungspotenziale nicht für überholt. Koselleck neigt durchaus zu einer endgeschichtlichen Betrachtung der Gegenwart. Eine Studie „Zur Begriffsgeschichte der Zeitutopie“ stellt Carl Schmitt diskret (S. 267) in die Gattung der negativen Utopie hinein. Die Studie „Feindbegriffe“ setzt auf die Überwindung von Feindschaft durch sprachliche Verständigung. „Nutzen wir die Sprache der Anderen“, schreibt Koselleck überraschend präskriptiv. „Sie wird uns hindern, auf der vergeblichen Jagd nach einer deutschen Identität zu sein. Diese ist nur zu haben, wenn wir den Anderen kennen.“ (S. 284)

Der dritte Teil geht vom begriffsgeschichtlichen Längsschnitt zur exemplarischen Epochenanalyse über und stellt die „begrifflichen Innovationen“ der Aufklärung heraus. Er macht die These vom „sprachlichen Vorgriff“, d.h. einer handlungsleitenden Wirkung von Ideen und ihrem sprachlichen Ausdruck, an der Sprachpolitik der Aufklärer und am epochalen Selbstverständnis der „Aufklärung“ (S. 321) fest. Koselleck studiert die „Grenzen der Toleranz“ an Mercier und de Sade (S. 351ff.). De Sades „Intoleranz aus Verzweiflung“ und „System der Grausamkeiten“ habe auf das „Jahrhundert der Konzentrationslager“ vorausgewiesen (S. 357). Einen positiven Vorgriff auf Zukunft findet Koselleck dagegen im „Erfahrungsstiftungsbegriff“ (S. 338) der „Bundesrepublik“, auf den er wiederholt zu sprechen kommt (so S. 492ff.), um die Bedeutung föderaler Traditionen für das Selbstverständnis der Bundesrepublik zu betonen.

Die Epochenbestimmung der Aufklärung leitet zur Verfassungsgeschichte über, die Koselleck im vierten Teil in zwei längeren Beiträgen und Exkursen behandelt. Er beruft sich dabei insbesondere auf Otto Brunner, wobei er in einer Fußnote (S. 376) auch auf die neueren Diskussionen um dessen politische Rolle während der NS-Zeit eingeht. Koselleck betrachtet Brunners „sachnähere Geschichtsschreibung“ als kritische Antwort auf die nationalsozialistische Ideologisierung (S. 373). Ein eingehender Exkurs „Zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte der einmalig geprägten aristotelischen Bürger-Begriffe“ führt von der umfassenden Frage nach der Verfassungsgeschichte zum normativen Deutungsmuster des Bürgerbegriffs, bekennt sich zu einem „reflektierten Historismus in systematischer Absicht“ (S. 399) und fragt nach heutigen „Unterscheidungskriterien von Bürger und Nichtbürger“ in einer Zeit, die „nur mit der Völkerwanderung, wenn auch im beschleunigten Tempo, vergleichbar“ sei (S. 401). Eine lange, gemeinsam mit Ulrike Spree und Willibald Steinmetz verfasste Studie vertieft die verfassungsgeschichtliche Frage nach der Entwicklung der „bürgerlichen Gesellschaft“ europäisch vergleichend. Dieser vierte Teil wendet die begriffsgeschichtliche Methode auf das politische Thema der Verfassungsgeschichte an und konzentriert sich insbesondere auf die Entwicklung der „bürgerlichen Gesellschaft“.

Der letzte Teil führt zur „begriffenen Geschichte“. Er versammelt Studien zur „Auflösung des Hauses“, zu den „föderalen Strukturen der deutschen Geschichte“, zur Revolution von 1848/49 und zur neueren Artikulation eines bürgerlichen Gemeinwohlanspruchs in der ökologischen Bürgerbewegung. Mit Georg Weerth formuliert Koselleck einige Trauer über das Scheitern der 1848er an den heterogenen Interessen der Akteure. Die abschließende Studie thematisiert die Probleme, die Ökologie als allgemeines Langzeitinteresse zu artikulieren, und empfiehlt in der „Zwangsalternative Fortschritt oder Rückschritt“ (S. 524) ein kontrolliertes ökologisches Veto durch „Kontrolle der Prognosen“ (S. 526). Dieser ältere Beitrag von 1980 klingt zwar zeitgebunden, und es war deshalb riskant, ihn als Schlusspunkt ans Ende dieser bedeutenden Sammlung zu setzen. Doch ist das ökologische Thema heute nur unter dem tagespolitischen Druck etwas verstummt und unter anderem durch die Transformation der osteuropäischen Industrien nach 1989 besonders drängend.

Koselleck macht mit den „Begriffsgeschichten“ so deutlich wie nie zuvor, dass seine Theorie und Methode einem eigenen normativen und politischen Anspruch dient, der auf eine „begriffene Geschichte“, ein klares Geschichtsbild zielt. Koselleck erklärt sich mit Thukydides für ein „Umschreiben“ der Geschichte: für eine Rückbindung überspannter Erwartungen an „Erfahrungen“ und für historisch kontrollierte, berechtigte Erwartungen. Seine biografisch prägende Erfahrung war das Trauma des Zweiten Weltkrieges. Die normative Erwartung, die er gegen diese Erfahrung vor allem formuliert, ist die „Gleichheit“. Diese trennt er jedoch von der notwendigen politischen Unterscheidung zwischen „Bürgern und Nichtbürgern“, ohne zu den schwierigen Staatsbürgerschaftsfragen innerhalb und jenseits der EU deutlich Position zu beziehen.

Titel und Untertitel der neuen Sammlung klingen fürchterlich akademisch, geradezu nichtssagend neutral. Die Gesamtaussage der Texte aber ist eine andere. Koselleck betrieb seine „Begriffsgeschichten“ nicht als akademisches Glasperlenspiel. Er betrachtete die Begriffsgeschichte als ein Mittel, zu einem begrifflich differenzierten Geschichtsbild zu gelangen, das politische Funktionen im „Postulat der Prognosenkontrolle“ erfüllt (S. 526). Dieser Schritt über die bloßen „Begriffsgeschichten“ hinaus ist das Vermächtnis der neuen Sammlung.

Anmerkung:
1 Siehe dazu meine Rezension im Philosophischen Literaturanzeiger 53 (2000), S. 330-333, und die Rezension von Torsten Bathmann: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=463>. Kosellecks Verhältnis zu Carl Schmitt habe ich thematisiert in: Das Politikum der Kritik. Geschichtstheorie nach Carl Schmitt, in: Neue Rundschau 111 (2000), H. 3, S. 154-167; Begriffssoziologie, Begriffsgeschichte, Begriffspolitik. Zur Form der Ideengeschichtsschreibung nach Carl Schmitt und Reinhart Koselleck, in: Bluhm, Harald; Gebhardt, Jürgen (Hgg.), Politische Ideengeschichtsschreibung im 20. Jahrhundert. Konzepte und Kritik, Baden-Baden 2006, S. 31-50.

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