Chr. Dipper u.a. (Hrsg.): Kartenwelten

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Titel
Kartenwelten. Der Raum und seine Repräsentation in der Neuzeit


Herausgeber
Dipper, Christof; Schneider, Ute
Erschienen
Darmstadt 2006: Primus Verlag
Anzahl Seiten
238 S., 30 SW- und 15 Farbabb.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Iris Schröder, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Karten haben in der deutschsprachigen historischen Forschung lange Zeit wenig Beachtung gefunden. Es ist das Verdienst der Darmstädter Historikerin Ute Schneider, mit ihrem reich illustrierten Band zur „Macht der Karten“ ein ansprechendes Werk vorgelegt zu haben, das über die Fachöffentlichkeit hinaus eine breitere Leserschaft für historische Karten erneut zu gewinnen wusste.1 Die jüngst erschienene, von Ute Schneider und Christof Dipper herausgegebene Aufsatzsammlung mit dem Titel „Kartenwelten. Der Raum und seine Repräsentation in der Neuzeit“ versucht nun ebenfalls, dem Thema Karten als Quellen zu größerer Bekanntheit zu verhelfen.

Der Band greift auf einige Vorträge der Sektion „Die Repräsentation des Raumes“ zurück, die die beiden Herausgeber/innen im Rahmen des Kieler Historikertags 2004 veranstaltet haben. Ergänzt durch zusätzliche Beiträge umfasst der Band nun ein weites Spektrum an Themen: In zehn Aufsätzen wird ein langer Bogen von den „Raiß- und Wegbüchlein“ des 16. Jahrhunderts gespannt (Wolfgang Behringer), der über die Karten des absolutistischen Staates in Frankreich (David Bitterling) und die Frage der kartografischen Erfassung der Grenze zwischen Europa und Asien im 18. Jahrhundert (Giulia Cecere) bis hin zur Darstellung des Nationalsozialismus in den Geschichtsatlanten der Nachkriegszeit in den beiden deutschen Staaten reicht (Dipper) und der in Form eines Praxisberichts sogar kartografische Probleme bei der Erstellung eines jüngst erschienenen historischen Atlasses erläutert (Vadim Oswalt). Innerhalb der so umrissenen zeitlichen Spanne liegt der Schwerpunkt der weiteren Beiträge auf Karten des 19. Jahrhunderts: Dabei geht es um die Herstellung statistischer Karten (Schneider), um die zu erlernende Fähigkeit des Kartenlesens (Hans-Dietrich Schultz), um Sprachkarten der deutsch-polnischen Grenzregion (Bernhard Struck), um Karten des British Empire (Zoe Laidlaw) sowie um die Kartenproduktion und -nutzung zur Zeit des Burenkrieges (Andreas Steinsieck). Wie diese knappen Stichworte andeuten, ist der geografische Rahmen vergleichsweise weit gespannt. Mit Ausnahme der zwei Aufsätze zum britischen Kolonialreich wird bei näherem Hinsehen allerdings deutlich, dass sich die meisten Beiträge auf Probleme der deutschen sowie auf ausgewählte Themen der europäischen Geschichte konzentrieren.

Die Gliederung des Bandes folgt nur zum Teil der Chronologie. Stattdessen werden die einzelnen Aufsätze jeweils einer übergeordneten methodischen Überlegung zugeordnet. In einer ersten Sektion werden so drei Beiträge unter der Überschrift „Karten zeichnen und Karten lesen“ zusammengeführt, die eine recht unterschiedliche Ausrichtung aufweisen. In einem sehr kenntnisreichen, allerdings manchmal etwas zu ausführlich belegten Artikel verschiebt Hans-Dietrich Schultz den Blick vom fertigen Produkt der Karte auf die Rezeptionsbedingungen. Er verdeutlicht, dass das Kartenlesenkönnen im 19. Jahrhundert nicht von vornherein als eine Selbstverständlichkeit gelten kann. Diese Einsicht darf wohl als eine der grundlegenden Voraussetzungen einer erneuerten Kartografiegeschichte gelten. Ungewöhnlich ist auch der Beitrag Vadim Oswalts, der aus seiner eigenen kartografischen Praxis berichtet und damit ebenfalls eine wichtige Voraussetzung der Kartografiegeschichte zur Diskussion stellt – hier allerdings mit wenigen weiterführenden Einsichten. Ute Schneiders Beitrag zu statistischen Karten aus dem ‚langen’ 19. Jahrhundert wirkt leider unentschlossen und hätte eventuell besser in die zweite oder dritte Rubrik gepasst, die sich zum einen dem Thema „Karten als Orientierungshilfe“ widmet sowie zum anderen der in der neueren Kartografieforschung berühmt gewordenen Forderung John B. Harleys folgt, „Karten als Text(e)“ zu lesen.2

Einige der auf diese zwei Sektionen verteilten Beiträge sind sehr gelungen. Bernhard Strucks Analyse der „Farben, Sprachen, Territorien“ in den Karten der deutsch-polnischen Grenzregion demonstriert etwa, wie der Wandel politischer Grundhaltungen mit Karten in visuelle Argumente überführt und beglaubigt werden sollte. Kann Strucks Beitrag vor Augen führen, wie Karten zu den Medien der politischen Auseinandersetzung gehören, so greift Andreas Steinsieck dieses Argument in seinem Beitrag zu Karten im „kolonialen Medienkrieg“ (S. 110) auf. Am Beispiel des Burenkrieges vermag Steinsieck überzeugend darzulegen, in welchem Umfang Karten in der britischen Presse als populäre Medien „der Visualisierung und damit letztlich auch Sinngebung [eines] imperialistischen Krieges“ (S. 123) fungieren konnten.

Wie diese beispielgebenden Aufsätze bereits nahe legen, ist es ein Ziel der neueren Kartografiegeschichte, Karten nicht mehr als vermeintlich neutrale Informationsspeicher zu nutzen. Zu welchen überraschenden Erkenntnissen diese veränderte Herangehensweise führen kann, zeigt nicht zuletzt der abschließende Beitrag Christof Dippers zur Darstellung des Nationalsozialismus in den Geschichtsatlanten der Nachkriegszeit. Der Ansatz, die gemeinhin lediglich als solide, verlässliche Nachschlagewerke genutzten Geschichtsatlanten als Quellen ihrer Entstehungszeit zu nutzen, lenkt den Blick zunächst auf eine Fülle ungewöhnlichen Materials. Vor allem aber kann der Beitrag zeigen, welches reflexive Potenzial die neuere Kartografieforschung bietet, wenn sie Geschichtsatlanten auf die in ihnen enthaltenen „gleichsam eingefrorene[n] Geschichtsbilder“ (S. 211) hin befragt.

Dem Sammelband ist eine breite Leserschaft zu wünschen. Dennoch hätte sich die geneigte Rezensentin (noch) mehr gewünscht. Dass die beiden Herausgeber/innen auf eine orientierende Einleitung verzichten (es gibt nur ein knappes Vorwort), ist das wohl größte Manko des Bandes. Im Rahmen einer solchen Einleitung hätte versucht werden können, die Grundlinien der allseits geforderten erneuerten Kartografiegeschichte einem breiteren Publikum einmal gebündelt und bezogen auf die Beiträge des Bandes vorzustellen. Hierzu würde nicht zuletzt die Diskussion gehören, was eine solche Kartografie möglicherweise zu einigen der derzeit viel diskutierten epistemischen Wenden wie dem „spatial turn“ oder dem „visual turn“ beitragen kann. An vielen Stellen des Bandes klingt dies zwar an, doch wäre ein fundierterer Rahmen nützlich gewesen. Zudem entsteht bei der Lektüre der gesammelten Beiträge der Eindruck eines eigentümlichen Nebeneinanders. Teilweise entschädigen dafür die ansprechende Gestaltung des Buchs und nicht zuletzt die sorgfältig edierten Karten, die die Lektüre vieler Beiträge insgesamt gleichwohl zu einem Vergnügen machen.

Anmerkungen:
1 Schneider, Ute, Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2004 (rezensiert von Bernhard Struck: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-1-175>).
2 Anders als in der älteren Kartografiegeschichte, die die Frage nach dem Gebrauch von Karten auszublenden pflegte und meist allein am Maßstab einer vermeintlich wachsenden Genauigkeit kartografischer Produktionen orientiert war, versucht die neuere Kartografiegeschichte Karten genauer zu kontextualisieren, indem Fragen der Bildlichkeit und der Medialität einbezogen werden. Überdies haben neuere Arbeiten zur historischen Wissenschafts- und Technikforschung die Aufmerksamkeit auf die Praxis des Kartierens und auf die Rezeption gelenkt. Vgl. Harley, John B., The New Nature of Maps. Essays in the History of Cartography, hg. von Paul Lexton, Baltimore 2001; Turnbull, David, Masons, Tricksters and Cartographers. Comparative Studies in the Sociology of Scientific and Indigenous Knowledge, Amsterdam 2000; Gugerli, David; Speich, Daniel, Topographien der Nation. Politik, kartographische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert, Zürich 2002.

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