K. Weiss u.a. (Hgg.): Erfolg in der Nische?

Cover
Titel
Erfolg in der Nische?. Die Vietnamesen in der DDR und in Ostdeutschland


Herausgeber
Weiss, Karin; Dennis, Mike
Reihe
Studien zu Migration und Minderheiten 13
Erschienen
Münster 2005: LIT Verlag
Anzahl Seiten
168 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annegret Schüle, Promotionsstudium an der Friedrich-Schiller-Universität gerade abgeschlossen.

Der vergleichsweise schmale Band entstand aus einem deutsch-englischen Forschungsprojekt. Karin Weiss, Fachhochschulprofessorin für Sozialpädagogik in Potsdam, arbeitete ein Jahr an der Universität Wolverhampton. Mitherausgeber Mike Dennis und Autorin Eva Kolinsky lehren dort Deutsche Geschichte (S. 15, 169). Diese drei sowie Damian Mac Con Uladh, ein Doktorand, lieferten die sechs wissenschaftlichen Beiträge des Buches: zur vietnamesischen Vertragsarbeit vor 1989 (Dennis), zu DDR-Alltagserfahrungen von Vertragsarbeitskräften (Mac Con Uladh), zur sozialen Lage (Weiss) und den Erfahrungen (Kolinsky) der ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeiter/innen nach der Wende, zur Selbsthilfe im ethnischen Netzwerk dieser Gruppe (Weiss) und zu den ostdeutschen Ausländerbeauftragten (Kolinsky). Almut Berger, Theologin aus der DDR und seit 1990 Ausländerbeauftragte, berichtet aus erster Hand über die Unsicherheiten in der Transformationsphase. Bereichert wird der Band durch Beiträge von drei Autoren vietnamesischer Herkunft: Phuong Kollath, Leiterin einer deutsch-vietnamesischen Begegnungsstätte in Rostock, beschreibt Geschichte und Aufgaben ihres Vereins, der unmittelbar nach den rassistischen Brandanschlägen auf das Ausländerwohnheim in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 gegründet wurde; Dao Minh Quang, Unternehmensberater, analysiert die wirtschaftlichen Strukturen, in denen seine Landsleute arbeiten, und Hai Bluhm, Vorsitzende einer Selbsthilfeorganisation in Potsdam, schildert insbesondere die Probleme vietnamesischer Frauen. Alle drei waren in der DDR selbst Vertragsarbeiter oder betreuten diese.

Die Einleitung des Bandes beginnt mit einem Ärgernis. Über den Forschungsstand heißt es da: „Die bisherige Forschung zur DDR und zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten zeichnet ein monokulturelles Bild der DDR und des heutigen Ostdeutschlands, in dem Minderheiten weder vor noch nach der Wende einen Platz einnehmen. [...] Der vorliegende Band will dieses Bild der deutschen DDR korrigieren.“ (S. 7) Ignoriert wird damit, dass „Fremde und Fremd-Sein in der DDR“ zu diesem Zeitpunkt bereits zum Debattenthema in der Gesellschaftsgeschichte der DDR geworden war, wie ein am Zentrum für Zeithistorische Forschung entstandener Konferenz-Sammelband mit diesem Titel belegt.1 Gefragt wird in der Einleitung danach, „wie sich das Leben von nicht-deutschen Minderheiten in Ostdeutschland über die drei Perioden der Zeit in der DDR, der Wendezeit und im heutigen vereinten Deutschland verändert hat und welche Integrationsprozesse und Konzepte einer inkludierenden Zivilgesellschaft heute in Ostdeutschland festzustellen sind“. Mit der nachvollziehbaren Fokussierung auf die Geschichte der ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeiter kann ein so umfänglicher Anspruch für die DDR nicht eingelöst werden, hatte doch auch in diesem Nichteinwanderungsland die Inklusion und Exklusion Fremder viele Facetten – man denke nur an die Umsiedler, die Sowjetsoldaten, die West-Ost-Emigranten sowie die nötige Binnendifferenzierung innerhalb der Gruppe der Vertragsarbeiter/innen, die aus Polen, Ungarn, Algerien, Vietnam, Mosambik, Angola, China und Korea in die DDR kamen.

Der Band zeigt anschaulich, dass es mehrere gute Gründe gibt, die vietnamesischen Vertragsarbeiter/innen für eine Untersuchung herauszugreifen. Ihre Zahl stieg in den letzten Jahren der DDR stark an, von ca. 8.500 im Jahre 1986 auf rund 60.000 im Jahr 1990. Damit stellten sie zwei Drittel aller Vertragsarbeitskräfte (S. 52, 79). Der Rückkehrdruck, dem diese Gruppe von Arbeitnehmer/innen nach dem Zusammenbruch der DDR aufgrund ihrer schnell einsetzenden Arbeitslosigkeit, ihrer unsicheren Zukunft und des nun offen zutage tretenden Rassismus in der ostdeutschen Bevölkerung ausgesetzt waren, hatte bei den Vietnamesen nur bedingt Wirkung. Denn anders als die übrigen Entsendestaaten weigerte sich Vietnam, Staatsangehörige ohne Rückkehrantrag überhaupt wieder aufzunehmen, selbst solche, die zurückkehren wollten, wurden zum Teil erst nach Ablauf ihrer ursprünglichen geplanten Beschäftigungsdauer wieder ins Land gelassen (S. 52, 78). Als 1993 die bis dahin völlig unklare Rechtslage durch ein auf zwei Jahre befristetes Bleiberecht für die ehemaligen Vertragsarbeiter abgelöst wurde, lebten von ihnen noch rund 19.000 in Ostdeutschland, davon stammten 16.600 aus Vietnam (S. 78f.). Erst 1997 erhielten sie eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, soweit sie ihren Lebensunterhalt selbstständig sichern konnten, und wurden damit den westdeutschen Gastarbeitern gleichgestellt (S. 75f.).

Die problematischen Arbeits- und Lebensbedingungen der ausländischen Vertragsarbeitskräfte in der DDR wie zum Beispiel die Einbehaltung eines Lohnanteils zum Schuldenabbau des Entsendelandes, der Einsatz auf von Deutschen ungewollten Arbeitsplätzen, das Nachzugsverbot für Familienangehörige, die Zwangsunterbringung und Überwachung im Wohnheim, die Isolierung von der deutschen Bevölkerung und das Schwangerschaftsverbot sind schon mehrfach beschrieben worden.2 Neue sozial- und erfahrungsgeschichtliche Erkenntnisse bringt der Band in zweierlei Hinsicht. Zum Einen fördert die von Mike Dennis vorgelegte Auswertung von Akten insbesondere aus der Hinterlassenschaft des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR einen Eigensinn der Menschen aus Vietnam in der Endphase der DDR zu Tage, der in diesem Umfang bisher nicht nachgewiesen war. Ihr „Familienauftrag“ war die Unterstützung ihrer Verwandten, die in einem Land mit hoher Inflation, starker Arbeitslosigkeit und Versorgungsengpässen selbst bei Grundnahrungsmitteln zurückgeblieben waren (S. 17, 19). In der DDR lebten die Menschen aus Vietnam deshalb selbst äußerst sparsam und investierten einen Großteil ihrer Zeit in lukrative Nebentätigkeiten. So wurden die Wohnheime in Werkstätten für die Herstellung von Jeans und anderen „West“-Textilien für den Bedarf der ostdeutschen Bevölkerung umfunktioniert. Verbreitet war auch das Umgehen von Zollbestimmungen, um den Angehörigen in Vietnam industrielle Konsumgüter und Nahrungsmittel zukommen zu lassen. Der massiv anwachsende Bedarf an Unterbringungsmöglichkeiten ab 1987 überforderte das Überwachungssystem in den Wohnheimen, so dass dort nun auch untergetauchte Landsleute sowie nachgereiste Familienangehörige illegal leben konnten. Die Stasi-Berichte über die Vertragsarbeiter in den letzten Jahren der DDR zeigen einen Kontrollverlust der Behörden, der in der Rückschau wie ein Vorbote des Zusammenbruchs des Staatsapparates im Herbst 1989 erscheint.

Von großer, weil aktueller und zukünftiger Bedeutung, sind die detaillierten Einblicke in die Anpassungsleistungen und ihre Kosten, die von den in Ostdeutschland gebliebenen ehemaligen Vertragsarbeiter/innen aus Vietnam im vereinigten Deutschland erbracht wurden. Diese Einblicke sind der Binnensicht der vietnamesischen Autor/innen sowie den von Kolinsky und Weiss ausgewerteten biografischen und Experten-Interviews zu verdanken. Die Mehrheit der ehemaligen Vertragsarbeitskräfte geht heute einer selbstständigen Tätigkeit nach, die Meisten betreiben kleine Geschäfte in der Gastronomie und im Textilien- und Floristik-Handel (S. 120f.) Zudem existieren heute in fast allen ostdeutschen Großstädten auch vietnamesische Großmärkte, und vor zwei Jahren wurde ein Verband der vietnamesischen Unternehmer gegründet (S. 122). Auffällig ist, dass die Existenzbedingungen der vietnamesischen Gewerbetreibenden und ihrer ebenfalls vietnamesischen Angestellten jenen in der Spätphase der DDR ähneln: Selbstausbeuterische Arbeitszeiten, die eine wirtschaftliche Existenz auf niederem Niveau sichern, aber ein normales Familienleben nicht zulassen; Rückzug auf das Netzwerk der ethnic community und soziale Abschottung gegenüber der deutschen Mehrheitsbevölkerung; unzureichende und auf die Geschäftsbedürfnisse reduzierte Deutschkenntnisse. Neu ist die verbreitete Einkommensarmut. Aus dem ökonomischen Überleben der ersten Generation der Einwanderer in einer Gesellschaft, die ihre Koordinaten vollständig änderte, erwachsen heute kulturelle und menschliche Probleme, für die zu sensibilisieren aus meiner Sicht der größte Verdienst des Bandes ist. Die hohen Bildungserwartungen in den vietnamesischen Familien lassen die Kinder in der Regel zu sehr guten Schülerinnen und Schülern werden, gleichzeitig sind Deutschen vietnamesischer Herkunft bisher Karrieren außerhalb ihrer angestammten Handelsstrukturen weitgehend versperrt. Die ganztägige Betreuung der Kinder in deutschen Einrichtungen und die hohe Arbeitsbelastung der Eltern führt zur Entfremdung zwischen den Generationen. Im Extremfall treten sogar Verständigungsprobleme auf, weil die Kinder kaum vietnamesisch und die Eltern wenig deutsch sprechen können (S. 85ff.). In einem „Kulturbruch“ (S. 92) prallen die autoritären, allein auf die mütterliche Verantwortung konzentrierten Erziehungsvorstellungen der in der Tradition verhafteten ersten Generation auf die von liberalen Einflüssen des deutschen Umfelds geprägte Haltung der zweiten Generation. Die Folgeprobleme Ehescheidungen, Gewalt gegen Frauen sowie Drogen- und Alkoholprobleme der Kinder werden in der ethnic community noch weitgehend tabuisiert und in der Mehrheitsgesellschaft bisher kaum wahrgenommen.

Anmerkungen:
1 Behrends, Jan C.; Lindenberger, Thomas; Poutrus Patrice G. (Hgg.), Fremde und Fremd-Sein in der DDR. Zu historischen Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland, Berlin 2003.
2 Den Forschungsstand dazu rekapituliert: Schüle, Annegret, Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter in der DDR: „Gewährleistung des Prinzips der Gleichstellung und Nichtdiskriminierung“, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 1 (2002), S. 80-100.

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