Titel
Liebe als Ritual. Eheanbahnung und Brautwerbung in der frühneuzeitlichen Grafschaft Lippe


Autor(en)
Lischka, Marion
Reihe
Forschungen zur Regionalgeschichte 55
Erschienen
Paderborn 2006: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
419 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nicolas Rügge, Niedersächsisches Landesarchiv -Staatsarchiv Osnabrück

Auf der Suche nach Quellen, die Einblick in das ‚Innenleben’ möglichst großer Bevölkerungskreise gewähren, bemüht sich die Frühneuzeitforschung seit längerem um Selbstzeugnisse und ‚Ego-Dokumente’ im weiteren Sinn. Zugleich hat eine quellenkritische Diskussion den Blick für die Problematik geschärft, aus schriftlichen Zeugnissen, die Gattungs- und Rollenmustern folgen sowie häufig in obrigkeitlichen Kommunikationsrahmen entstanden sind, auf einzelne Schreiber oder gar Sprecher rückzuschließen.

Solche Schwierigkeiten hat Marion Lischka in ihrer bei Rainer Walz in Bochum entstandenen Dissertation konsequent vermieden. Zwar mangelt es ihrer Quellengrundlage, den Eheprozessakten des reformierten Konsistoriums der Grafschaft Lippe, keineswegs an persönlichen, ja intimen Informationen. Am Beispiel Lippes, das mit seiner günstigen Überlieferungslage für „Frühneuzeithistoriker ein ausgezeichnetes Forschungsfeld“ darstellt (S. 5, Anm. 8), hatte schon ihr Doktorvater wegweisende Einsichten in den Zusammenhang von dörflicher Kommunikation und Hexenverfolgung erarbeitet.1 So konzentriert sich auch Lischka auf die “Kommunikations- und Interaktionsstrukturen“ (S. 5) und ihre Rolle für die „frühneuzeitliche Eheanbahnung und Brautwerbung als soziale und kulturelle Praxis“ (S. 4). Deren Zeichen und Mechanismen, „Gesten, Handlungen und Worte“ haben als Bestandteile einer „brauchtümlich-mündlichen Volkskultur“ kaum Spuren hinterlassen. Doch in den Eheprozessakten zur Sprache gebracht und schriftlich festgehalten, erweisen sich diese als wahrer „Glücksfall für den Historiker“ (S. 5).

Das Buch beginnt mit der Darstellung eines Eheprozesses, den der Archivar Hans Kiewning 1911 in Romanform gestaltet hat. Die Faszination dieses Quellentyps, aber auch der gänzlich andere Zugang der Autorin wird dabei deutlich. Anregungen bezieht die Arbeit nicht zuletzt aus Diskussionen über die Entstehung der ‚romantischen Liebe’; als moderne Gegenfolie dient insbesondere Niklas Luhmanns Analyse der modernen Liebessemantik. Bezweckt wird allerdings nicht die Erklärung eines Wandels, sondern die Decodierung der im Untersuchungszeitraum und -gebiet vorherrschenden, über zwei Jahrhunderte relativ gleichförmig erscheinenden Praxis. Dazu hat die Autorin von den im Staatsarchiv Detmold überlieferten über tausend Eheprozessen die Fälle aus der residenznahen Vogtei Detmold ausgewählt und zieht darüber hinaus einige besonders aussagekräftige Akten aus anderen Ämtern sowie die Konsistorialprotokolle mit heran.

Ein erster Hauptteil ist dem „Handlungsrahmen“ gewidmet, das heißt den rechts- und sozialgeschichtlichen Bedingungen der Brautwerbung im frühneuzeitlichen Lippe. Die Eherechtsnormen, beginnend mit der Policeyordnung von 1620, werden der Urteilspraxis gegenübergestellt. Demnach stand zunächst das – auch heimliche – Eheversprechen im Zentrum der Ermittlungen, während die reformierte Kirchenordnung von 1684 dem elterlichen oder vormundschaftlichen Konsens die entscheidende Bedeutung zusprach. So verschob sich der Ehebeginn im offiziellen Verständnis vom Verlöbnis, das häufig mit dem ersten Beischlaf besiegelt wurde, hin zur kirchlichen Trauung. Dieser Wandel schwächte die Position schwangerer Eheklägerinnen, die sich mit immer geringeren Erfolgsaussichten auf die (in der Volkskultur weiterhin übliche) Verlöbnispraxis berufen konnten. Ihnen stand jedoch eine Geldentschädigung zu, die ebenfalls mit formellen Eheprozessen eingeklagt werden konnte. Der Landesherr wachte nicht nur über die Moral seiner Untertanen, als Grundherr eines Großteils der Höfe hatte er auch ein wirtschaftliches Interesse an ihrer Leistungskraft und folglich an ökonomisch vorteilhaften Heiraten der meierstättischen Besitzer/innen. Grundlegende Bedeutung kam dem Anerbenrecht zu, das eine scharfe soziale Ungleichheit sowie typische familiäre (Konflikt-)Konstellationen hervorbrachte. Unter diesen Bedingungen war „eine Heirat innerhalb der bäuerlichen Gesellschaft nie nur eine Angelegenheit zweier Individuen“ (S. 109), sondern ein komplexes und störanfälliges Unternehmen. Entsprechend spiegelt sich in den Eheprozessen nicht zuletzt ein „innerfamiliäre(r) Kampf um Ressourcen“ (S. 101) in Gestalt von Erbfolge- und Brautschatzkonflikten. Bei der Urteilsfindung hatte das Ehegericht folglich viele oft divergente Ansprüche zu berücksichtigen und fungierte dabei, wie die Autorin in Übereinstimmung mit Uwe Sibeth feststellt 2, eher als Dienstleister und Konfliktregler denn als Instrument obrigkeitlicher Disziplinierung.

Der eigentliche Hauptteil widmet sich dann ausführlich der „Sprache der Werbung“ bei der Eheanbahnung: der Rolle des Jugendbrauchtums, der Eltern, Verwandten und Ehevermittler, den ‚Codes’ und symbolischen Handlungen beim Kennenlernen, bei der Ehezusage und den ersten sexuellen Kontakten, beim alltäglichen Umgang unter den Brautleuten und gegebenenfalls auch bei der Auflösung eines Verlöbnisses. Auf die Fülle der Beobachtungen kann hier nur ansatzweise eingegangen werden. Hervorzuheben ist die Umsicht, mit welcher die Autorin die besondere methodische Herausforderung meistert, aus den stets argumentierenden und verzerrenden Schriftsätzen und Zeugenaussagen die relevanten Geschehnisse vor Prozessbeginn rekonstruieren zu müssen. So stellt sie beispielsweise in Rechnung, dass die männliche Streitpartei häufig bestimmte Elemente des Jugendbrauchtums, den Bemühungen der Obrigkeit entsprechend, als ‚Zügellosigkeit’ der beteiligten Frauen darstellte. Andererseits werden auch die Schilderungen männlicher (sexueller) Gewalt vorsichtig interpretiert, da ein gewisses Maß an forderndem Nachdruck dem Werberitual entsprochen habe. Die Frauen, für die missglückte Eheanbahnungen ein besonderes Risiko bedeuteten, mussten sich aber auf die Gegenseitigkeit des Verhältnisses verlassen können: Ihrer ‚Leistung’, das heißt in der Regel der Gewährung geschlechtlicher Beziehungen, musste als ‚Gegenleistung’ das Eheversprechen gegenüberstehen – sonst war über den Körper hinaus die Ehre tangiert. Nach damaligem Verständnis habe insbesondere ein ehrverletzendes „Missverhältnis zwischen Geben und Nehmen“ (S. 283) zum Konflikt und schließlich zum Eheprozess geführt. Um aber die Absichten des Partners zu erkennen, habe man weniger auf dessen Worte als auf die „sie begleitende(n) nonverbale(n) Beglaubigungshandlungen und -rituale“ (S. 171) geachtet, überhaupt mehr auf äußerliche, formalisierte, sozial wirksame und wahrnehmbare Handlungen denn auf innerliche, intime Beziehungen zwischen Individuen im Sinn der modernen Liebessemantik. Einen solchen ‚Code’ sieht die Autorin in den Quellen, trotz des gelegentlich vorkommenden Begriffs der „Liebe“ und begleitender Treueschwüre, noch nicht ausdifferenziert. Innerhalb des skizzierten Rahmens ergibt sich aber insgesamt für die untersuchte Grafschaft Lippe eine erhebliche Diversität von Brautwerbungsmöglichkeiten, von denen keine als Normalweg gelten kann.

Diese Studie lässt kaum Wünsche offen. Einzelne Fälle hätte der Rezensent gern ausführlicher im Zusammenhang dargestellt gesehen – vertiefende Informationen dazu hätten weitere Quellen 3 sowie regionalgeschichtliche Veröffentlichungen bieten können (das Literaturverzeichnis endet zudem weitgehend 1997). Nicht vollends überzeugen kann die gelegentlich unterstellte Gleichartigkeit der ländlichen Brautwerbungspraxis mit der städtischen, schon weil im bürgerlichen Rechtskreis andere Bedingungen für die Vererbung von Haus- und Grundbesitz herrschten. Mag auch sein, dass die These einer sozial verankerten „Liebe als Ritual“ von der untersuchten Quellengattung etwas über Gebühr gestützt wird, da die Prozessparteien verstärkt auf äußerliche, möglichst öffentlich wahrnehmbare Handlungen rekurrierten, um das Eheversprechen durch Zeugen beweisen oder widerlegen zu können. Die Autorin ist sich jedenfalls bewusst, dass „die Quellen Einblicken in das Innenleben und die Gefühlswelt der frühneuzeitlichen Zeitgenossen äußerst enge Grenzen setzen“ (S. 299). Um so mehr kann ihr Zugriff überzeugen, für dessen Ergebnisse es an wohl reflektierten „Ansatzpunkten“ (S. 208) wahrlich nicht mangelt.

Wer sich näher für die berührten Fälle interessiert, wird dankbar sein für das Namensregister (das allerdings die Protagonist/innen der Eheprozesse und die im Text erwähnten Wissenschaftler/innen vermischt) sowie die exakte Annotierung. Die präzise und flüssig geschriebene, dazu sorgfältig redigierte Studie sei allen, die sich mit ländlichen Gesellschaften der Frühen Neuzeit beschäftigen, nicht nur zur Kenntnisnahme, sondern zur intensiven Lektüre empfohlen.

Anmerkungen:
1 Walz, Rainer, Hexenglaube und magische Kommunikation im Dorf. Die Verfolgungen in der Grafschaft Lippe, Paderborn 1993.
2 Sibeth, Uwe, Eherecht und Staatsbildung. Ehegesetzgebung und Eherechtsprechung in der Landgrafschaft Hessen (-Kassel) in der frühen Neuzeit, Darmstadt 1994.
3 Vgl. jetzt ergänzend den Beitrag von: Ahrendt-Schulte, Ingrid, Ländliche Ordnung und obrigkeitliche Moralpolitik. Zum Umgang mit unehelichen Schwangerschaften in der frühneuzeitlichen Grafschaft Lippe, in: Klocke-Daffa, Sabine (Hg.), Tabu. Verdrängte Probleme und erlittene Wirklichkeit. Themen aus der lippischen Sozialgeschichte, Lemgo 2006, S. 87-115. Die Autorin wertet darin vor allem Niedergerichtsprotokolle und Suppliken aus.

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