Ch. Schmidtmann: Katholische Studierende 1945-1973

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Titel
Katholische Studierende 1945-1973. Ein Beitrag zur Kultur- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland


Autor(en)
Schmidtmann, Christian
Reihe
Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte 102
Erschienen
Paderborn 2005: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
535 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Dowe, Karlsruhe

Langezeit hat die Geschichtswissenschaft katholische Studierende in Deutschland nicht in den Blick genommen. Dies hat sich nun geändert. Innerhalb kurzer Zeit erschienen drei Monografien über katholische Studierende und Akademiker im Kaiserreich, im Ersten Weltkrieg und in der Bundesrepublik.1 Letzteres Werk, eine Bochumer theologische Dissertation, gilt es im Folgenden vorzustellen.

Das Interesse des Autors Christian Schmidtmann gilt der Identitätsbildung katholischer Studierender zwischen 1945 und Mitte der 1970er-Jahre. Die Überlieferung der Katholischen Deutschen Studenteneinigung bildet zusammen mit den Periodika der Studentenverbände seine Hauptquelle, die um archivalische Bestände zur Studentenseelsorge, zu einzelnen Hochschulgemeinden und zum Cusanuswerk ergänzt wurde. Auf dieser Basis fragt Schmidtmann nach dem Stellenwert einer auf Konfessionalität beruhenden kollektiven Identität und deren Konstruktion. Kulturgeschichtlich zugreifend analysiert er dazu nicht nur entsprechende Diskurse, sondern interpretiert auch ausgewählte soziale Praktiken. In einem von Quellen, Methodik und Perspektive aus dem Rahmen der übrigen Arbeit fallenden Kapitel versucht Schmidtmann schließlich basierend auf 24 Interviews und acht autobiografischen Schriften, den Stellenwert katholischer Identität für den konkreten Lebensverlauf einzelner Individuen zu bestimmen. Leider beschränkt sich der Autor auf ein weniger als vier Seiten umfassendes Schlusswort, in dem sich die Vielzahl der herausgearbeiteten Befunde und der angebotenen pointierten Interpretationen nur teilweise niederschlägt.

Schmidtmann unterteilt seinen Untersuchungszeitraum in drei Abschnitte. Für die Zeit nach 1945 bis in die 1950er-Jahre arbeitet der Autor das vorherrschende Bestreben heraus, eine Beschränkung von Religion auf das religiöse Subsystem zu überwinden und Religion in alle Bereiche zu tragen. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen spielte hier eine wichtige Rolle. Der Aufbau einer neuen Gesellschaft wurde so zur religiösen Pflicht stilisiert. Ende der 1950er- und in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre hatte sich vor diesem Hintergrund ein grundlegender Dissens herausgebildet. Während die einen entschiedenes weltzugewandtes Christsein in den inzwischen etablierten Interessenvertretungen des Katholizismus verwirklicht sahen, warfen andere „Kirche“ und „Katholizismus“ Abschottung und Kritikunfähigkeit vor. Im Gefolge von Intellektuellen wie Carl Amery, Friedrich Heer oder Heinrich Böll trat diese Gruppe für ein Verständnis von katholischer Christlichkeit ein, das weitgehend auf die Benennung von Differenzen gegenüber Nichtkatholiker/innen verzichtete und „redliches“ und „moralisches“ Handeln in der Welt als Ausweis des Glaubens ansah. Die zweite Hälfte der 1960er und die frühen 1970er-Jahre waren nach Schmidtmann von einer immer stärkeren Vielfalt konkurrierender katholischer Identitätsentwürfe geprägt. Dabei hätten katholische Taufen und erst recht Formen traditioneller Frömmigkeit für die Mehrheit der katholischen Studierenden als Kriterien für die Unterscheidung von Eigenem und Anderem ausgedient. Konsequent historisierend verwendet Schmidtmann keine theologischen oder kirchenrechtlichen Kriterien, um zu bestimmen, wer in dieser Situation als Katholik zu erfassen sei, sondern greift auf das Selbstverständnis der jeweiligen Studierenden zurück.

In methodisch wie interpretatorisch überaus anregender Weise wirft Schmidtmann so einen Blick auf einen wichtigen Teil des bundesrepublikanischen Katholizismus, der nicht nur für Studentenhistoriker/innen und Katholizismusexperten/innen, sondern für jeden Zeithistoriker zu empfehlen ist. Schmidtmann gelingt es, Theologiegeschichte und die Selbstverständigungsprozesse über Katholizität überzeugend zu verbinden und so einen wichtigen Beitrag zu einer noch zu schreibenden umfassenden Geschichte des akademischen Katholizismus der Bundesrepublik zu leisten.

Schmidtmanns pointierte Urteile und Zugriffe verweisen auf eine Reihe dringender Forschungsdesiderate. Vergleichbare Arbeiten zur Weimarer Republik oder zum Nationalsozialismus liegen nicht vor. Erst vor einem solchen Wissensstand ließe sich abschließend klären, ob beispielsweise die stark formalisierte Sprache, in der die Cartellversammlungen in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre beschrieben wurden, wirklich, wie Schmidtmann interpretiert, ein Krisensymptom war oder ob es sich nicht vielmehr um eine seit dem 19. Jahrhundert bestehende Tradition in den katholischen Studentenverbänden handelt, die – mit kurzen Unterbrechungen? – bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Bestand hatte. Schmidtmann war vielfach bei solchen Fragen der Kontinuität oder Diskontinuität auf Vermutungen angewiesen, da er die oben genannten Untersuchungen zu katholischen Studierenden und Akademiker/innen im Kaiserreich wegen deren Publikationszeitpunkte nicht kennen konnte.

Die Ergebnisse des zu besprechenden Buches legen aber auch eine Fortführung für die Zeit der 1970er- und 1980er-Jahre nahe. Schmidtmann verweist selbst mehrfach ausdrücklich auf Identitätsmuster, die sich vom Ende der 1960er- bis in die 1980er-Jahre hielten. Erst dann ließe sich überblicken, inwiefern man – wie von Schmidtmann vorgeschlagen – von einer Zäsur um 1973 sprechen kann.

Zukünftige Forschungen sollten aber auf die Zäsuren der politischen Geschichte übergreifen. 2 Wichtig wäre es, die Einflüsse der Jugendbewegung systematisch für das 20. Jahrhundert zu erforschen. Schmidtmann gibt dafür eine Reihe wichtiger Hinweise. Lohnend wäre ebenfalls ein Vergleich der beiden Nachkriegszeiten des 20. Jahrhunderts. Denn manches, was Schmidtmann als neu für die Zeit unmittelbar nach 1945 beschreibt, scheint Parallelen nach dem Ersten Weltkrieg zu besitzen. Drei Beobachtungen des Rezensenten mögen hier genügen: Viele Kriegsheimkehrer lehnten zwischen 1919 und 1923 die traditionellen Formen des Studententums ab. Von Reformdebatten scheint der KV nach beiden Kriegen am stärksten von den katholischen Studentenkorporationsverbänden erfasst worden zu sein. In beiden Nachkriegszeiten machten sich generell unter katholischen Studierenden Einflüsse der Jugendbewegung verstärkt bemerkbar. Ein solcher diachroner Vergleich könnte dazu dienen, kriegstypische Folgen von spezifischen Auswirkungen des Nationalsozialismus zu unterscheiden.

Für die Geschichte der Bundesrepublik macht sich das Fehlen moderner kultur- und sozialgeschichtlicher Arbeiten über die Studentenkorporationen schmerzlich bemerkbar. Schmidtmanns Arbeit hat die Messlatte für entsprechende Arbeiten hochgelegt. Solche Untersuchungen müssten überprüfen, ob Schmidtmann nicht auf Grund seines Verzichtes, interne Materialien der katholischen Studentenverbindungen auszuwerten, manche katholische Identitätsentwürfe, die innerhalb der katholischen Studentenverbindungen ausgebildet wurden, insbesondere für die 1950er-Jahre, marginalisieren musste oder gar nicht fassen konnte. So ließe sich die Reichweite der von Schmidtmann beschriebenen Identitätsentwürfe zuverlässiger abschätzen, als es im Rahmen des zu rezensierenden Werkes geschah.

Schmidtmanns zentrale These, dass sich die katholischen Identitätsentwürfe in seinem Untersuchungszeitraum immer stärker pluralisierten und in der großen Mehrheit immer weniger auf der Abgrenzung vom Nichtkatholischen beruhten, lässt eine systematische Einbettung der katholischen Studierenden in eine moderne Kulturgeschichte der Bundesrepublik als ein reizvolles Forschungsfeld erscheinen. Ein Blick auf weitere diskursive Themenfelder könnte möglicherweise auch da katholische Spezifika entdecken, wo sie die Zeitgenossen nicht ausdrücklich als katholisch benannten.

Schließlich kann Schmidtmann mit seinen Ergebnissen auch die Diskussionen über die große Erzählung über den deutschen Katholizismus (nach 1945) befruchten. Mit überzeugenden Argumenten lehnt er es ab, seinem Projekt einen Milieuansatz zugrunde zu legen. Vielmehr verteilt er über seine Darstellung eine ganze Reihe von Beobachtungen, die es aus Sicht des Rezensenten sehr nahe legen, den Milieuansatz konsequent zu historisieren und in die zeitgenössischen Diskussionen der 1960er-Jahre einzuordnen. Mit seinem Verzicht auf die Verwendung des Milieuansatzes reiht sich Schmidtmann, obwohl er selber an der Ausarbeitung und Weiterentwicklung der einflussreichen Milieutheorie des Münsteraner Arbeitskreises für Katholizismusforschung beteiligt war, in eine Reihe neuerer Studien zum Katholizismus ein, die auf Milieu als die große Leiterzählung verzichten. 3

Die Pluralisierung und Entgrenzung, die Schmidtmann für die Identitätsentwürfe betont, sind zentrale Faktoren, die jede Interpretation der Entwicklung des Katholizismus in der Bundesrepublik integrieren muss. Als große Erzählung für die Geschichte des bundesrepublikanischen Katholizismus erscheint sie dem Rezensenten nicht ausreichend. Doch diese zentrale Aufgabe der zeitgeschichtlichen Katholizismusforschung zu lösen, beansprucht Schmidtmann nicht. In seinem Resümee verortete er seine Arbeit vielmehr vor dem Hintergrund grundsätzlicher wissenschaftsphilosophischer und theologischer Überlegungen zur Kirchengeschichte. Schmidtmann spricht sich im Anschluss an Andreas Holzems Vorschlag von Kirchengeschichte als „Geschichte des geglaubten Gottes“ gegen jede systematisch-dogmatische Deduktion im Bereich der Kirchengeschichte aus und erweitert diesen Ansatz zur „Geschichte des auch anonym geglaubten Gottes“. Mit Blick auf die Theologie plädiert Schmidtmann vor diesem Hintergrund für eine theologische Vielfalt, für Mehrstimmigkeit, Unsicherheit, für eine Theologie auch des vermissten Gottes und gewinnt seiner Arbeit so auch einen Beitrag zu den Selbstverständigungsprozessen der katholischen Theologie ab. Auf Grund dieser vielfältigen Anregungen sind dem Buch viele Leser/innen zu wünschen, nicht nur bei den Historiker/innen.

Anmerkungen:
1Fuchs, Stephan, „Vom Segen des Krieges“. Katholische Gebildete im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 2004; Dowe, Christopher, Auch Bildungsbürger. Katholische Studierende und Akademiker im Kaiserreich, Göttingen 2006.
2Vgl. Levsen, Sonja, Elite, Männlichkeit und Krieg. Tübinger und Cambridger Studenten 1900-1929, Göttingen 2006.
3Vgl. Dietrich, Tobias, Konfession im Dorf, Köln 2004 oder die unter Anmerkung 1 genannten Werke.

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