C. Nagel: "In der Seele das Ringen nach Freiheit"

Cover
Titel
"In der Seele das Ringen nach Freiheit"- Louise Dittmar. Emanzipation und Sittlichkeit im Vormärz und in der Revolution 1848/49


Autor(en)
Nagel, Christine
Erschienen
Königstein im Taunus 2005: Ulrike Helmer Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Birgit Ellen Bublies-Godau, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum

„Meine Natur besteht im Widerstand gegen die Ungerechtigkeit, nicht in frommer Duldung des scheinbar Unvermeidlichen.“ Diesem Leitsatz, der sich im Vorwort zu einer ihrer wichtigsten autobiografischen Schriften und politischen Stellungnahmen, der Broschüre „Vier Zeitfragen“ von 1847, wiederfindet, ist die Frauenrechtlerin und Autorin, Philosophin und Politikerin Louise Dittmar (1807-1884) ein Leben lang treu geblieben.1 Dittmar, eine „radikale demokratische Denkerin“ und „Streiterin für gleiche Frauenrechte“ im Vormärz und in der Revolution von 1848/49, die wegen ihrer vielfältigen Aktivitäten in der religiösen und demokratischen Oppositionsbewegung Südwestdeutschlands, vor allem des Rhein-Main-Gebietes und Badens, anerkannt und geschätzt war, war bis in die 1970er-Jahre hinein vollkommen in Vergessenheit geraten. Dies galt für sie als historische Persönlichkeit und Angehörige oppositioneller Dissidentenkreise und politischer Gruppierungen, die in der Epoche zwischen Napoleon und Bismarck „die Debatten um Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung in Deutschland maßgeblich“ bestimmt hatten, genauso wie für ihre emanzipatorischen Bestrebungen oder für ihr richtungsweisendes politiktheoretisches, religionsphilosophisches, dichterisches und essayistisches Œuvre (S. 17f., 205).

Erst mit dem Entstehen der zweiten Frauenbewegung im letzten Jahrhundert, dem sich als Folge davon innerhalb der Geschichts- und Literaturwissenschaft entwickelnden Forschungszweig der Gender Studies und der Suche nach den Wurzeln frauenemanzipatorischen Engagements im 19. Jahrhundert und den dazugehörigen historischen Akteurinnen – zu denen die sozialkritischen Schriftstellerinnen des Vormärz wie auch die „Amazonen der deutschen Revolution“ gerechnet wurden –, wurde Johanna Friederike Louise Dittmar, „the paradigmatic writer in the nineteenth-century German feminism“, wiederentdeckt 2: Nun endlich nahmen Forscherinnen von beiden Seiten des Atlantiks ihre progressiven demokratietheoretischen Ansichten und politischen Forderungen zur Kenntnis und ordneten diese dem vormärzlichen Diskurs um individuelle gesellschaftlich garantierte Freiheitsrechte zu; sie hoben ihre massive Ehekritik und ihr radikales Emanzipationskonzept hervor; sie setzten sich intensiv mit ihrem nicht sonderlich umfangreichen, jedoch inhaltlich bedeutsamen schriftstellerischen und wissenschaftlichen Werk auseinander; und sie würdigten die engagierte Autorin als Teil der radikalen demokratischen Linken und der unabhängigen intellektuellen Elite in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.3

Umso vehementer wurde in der Folge von der historischen Forschung das Fehlen eines Lebensbildes der so gerühmten Darmstädter Literatin beklagt; und der Ruf nach einer umfassenden Biografie, einer systematischen Analyse ihres Lebens und Werkes, aber auch nach der Einordnung ihrer Gedankenwelt und Aktivitäten in die zeitgenössischen Debatten wie in die verschiedenen Demokratisierungs- und Modernisierungsbewegungen zwischen 1815 und 1848/49 wurde immer lauter. Dem drängenden Bedürfnis, dieses Desiderat endlich zu beheben, kam vor zwei Jahren zuerst eine kollektivbiografische Abhandlung über die deutschen „Schriftstellerinnen und die Revolution von 1848/49“ nach, die einen informativen Überblick über den Lebensweg und das dichterische Schaffen von Louise Dittmar in der revolutionären Ära vermittelte.4 Ihr folgte im Jahr 2005 die hier zu besprechende Monografie der Historikerin Christine Nagel, die mit ihrer Studie erstmals eine wissenschaftlich-biografische Gesamtbetrachtung zu dieser „außergewöhnlich begabte[n] Frau“ und „zugleich eine Untersuchung über den Demokratiediskurs im Deutschland des Vormärz und der Revolutionsjahre“ vorlegt (S. 11, 199).

Hervorgegangen aus ihrer Dissertation an der Universität Kassel, versucht Nagel in den fünf Hauptkapiteln der Studie, sich behutsam der komplexen Persönlichkeit Dittmars anzunähern und diese in ihrer Entwicklung nachzuzeichnen. Dabei ist die Gender- und Demokratieforscherin vor allem darum bemüht, die in weiten Teilen nur bruchstückhaft überlieferte Lebensgeschichte der Schriftstellerin im Großherzogtum Hessen-Darmstadt zu rekonstruieren, die Wurzeln ihres Denkens und Handelns freizulegen, ihr Gesamtwerk im Kontext der einschlägigen politischen Publizistik auszuwerten und ihren Standort in den demokratietheoretischen Diskussionen zwischen 1830 und 1848/49 genau zu bestimmen. Da in Ermangelung eines Nachlasses und wegen der Vernichtung relevanten Archivmaterials im Zweiten Weltkrieg die Quellenlage es nicht erlaubte, ausschließlich die biografische Spur zu verfolgen, mussten andere Wege beschritten werden, um das persönliche und politische Profil Louise Dittmars herauszuarbeiten. Eine Möglichkeit dazu bestand in der Erweiterung des vorhandenen Quellenmaterials um ausgewählte Ego-Dokumente und in der Analyse ihrer vielfältigen Veröffentlichungen. Zu diesen von der Schriftstellerin in den Jahren 1845 bis 1849 publizierten und in der Lebensschilderung untersuchten Prosatexten und Gedichten gehört die gesellschaftskritische Schrift „Skizzen und Briefe aus der Gegenwart“, die theologische Abhandlung „Der Mensch und sein Gott in und außer dem Christenthum“, die Stellungnahme zur aktuellen Politik der Vormärzära „Vier Zeitfragen“, die revolutionsbewegte Gedichtsammlung „Brutus-Michel“ sowie ihre bekannteste Publikation, die 1849 von ihr herausgegebene Zeitschrift „Soziale Reform“ mit dem Beitrag „Das Wesen der Ehe“. Durch die Verknüpfung eines biografischen Ansatzes mit einer diskursanalytischen Vorgehensweise, der die Lebensbeschreibung und die Untersuchung der Lebensumstände der historischen Person mit einer Analyse ihrer Schriften, der darin formulierten Thesen und Begriffe und einer Darstellung ihrer Beteiligung an den zeitgenössischen Diskursen verbindet, vermag Nagel schließlich, einen multiperspektivischen Blick auf die Autorin und Frauenrechtlerin zu werfen.

Entsprechend dieses umfassenden methodischen und quellenkundlichen Zugriffs kann die Biografin den Leser/innen ein differenziertes Bild einer bedeutenden Frauengestalt im bürgerlichen Zeitalter präsentieren, das die verschiedenen, bisweilen auch unbekannten Gesichter der Louise Dittmar, ihrer Persönlichkeit, Lebensgeschichte, Wirkungskreise und Schaffensphasen aufzeigt und deutlich konturiert: So eröffnet Nagel im zweiten Kapitel der Studie über die Analyse eines Schlüsseltextes, des in der „Sozialen Reform“ veröffentlichten Essays „Charlotte Corday“, einen Zugang zu Dittmars Lebensthema, der „Auseinandersetzung mit dem Diktat ‚echter‘ Weiblichkeit“ (S. 13), und ihrem besonderen Weiblichkeitsverständnis. Hingegen stehen für die Verfasserin im dritten Kapitel die konkreten Lebensumstände und familiären Verhältnisse der Beamtentochter, die damaligen Bildungsmöglichkeiten für Mädchen aus dem Bürgertum und die Lesegewohnheiten und Studientätigkeiten im Hause Dittmar wie auch das soziale Umfeld, die politische Situation und das gesellschaftliche Leben in der Residenzstadt Darmstadt im Vordergrund des Erkenntnisinteresses. Daran schließt sich im vierten Kapitel die eingehende Untersuchung der frühen Werke und geschäftlichen Beziehungen der Autorin zu ihren Verlegern Gustav und Carl August André, Karl Friedrich Julius Leske und Otto Wigand an; es werden ihre persönlichen Verbindungen zu religiös freisinnigen und politisch reformorientierten Kreisen in den deutschen Einzelstaaten offen gelegt und ihre Einbindung in die Netzwerke der vormärzlichen demokratischen Opposition bis 1848 verfolgt; und zu guter Letzt wird ihr aufsehenerregender Vortrag im Mannheimer Montag-Verein im Frühjahr 1847 geschildert, bei dem sie erstmals öffentlich ihr emanzipatorisches Anliegen vertrat. Ausführlich widmet sich Nagel daraufhin der „radikaldemokratische[n] Politikerin“ und ihrer Stellung im politischen Spektrum des Vormärz und der Revolution von 1848/49. So werden im fünften Kapitel der Studie einerseits die Vorbilder und Prämissen vorgestellt, die Dittmars „Argumente für weibliche Freiheitsrechte in einer diese Freiheit garantierenden demokratischen Gesellschaft der Zukunft“ untermauerten (S. 15, 105) – gedacht ist an Julius Fröbels Werk und seine Thesen zum Zusammenhang von Sittlichkeit, Freiheit und Demokratie, aber auch an Arnold Ruges Schriften und Überlegungen zu einer demokratischen Gesellschaftsordnung und zur Emanzipation der Frau. Andererseits werden hier ihre eigenen Theorien und Positionen als Beitrag zum Demokratiediskurs innerhalb der demokratischen Linken erläutert. Ehe ein Resumée zu Dittmars politischer Vorstellungswelt und zivilgesellschaftlichem Engagement die Studie beschließt, wird im sechsten Kapitel noch die von ihr betriebene Interessenpolitik für Frauen in den Revolutionsjahren nachvollzogen, die auf die Verwirklichung der individuellen Freiheitsrechte der Frau, die Reformierung der Geschlechterverhältnisse und eine neue Konzeption des Eherechts zielte. Hinter diesem Einsatz standen im Wesentlichen ihre Vorstellungen über die Aufgaben des demokratischen Staates „als Garant der Rechte von Frauen und Kindern“, der „die Frauen bei der Erreichung und Umsetzung ihres fundamentalen Rechtes auf Selbstbestimmung“ unterstützt (S. 178f.).

Wenn der Lesegenuss bei dem Buch von Nagel nicht ganz ungetrübt ist, so liegt das in erster Linie daran, dass es viele überflüssige Druckfehler im Text gibt, etwa die Falschschreibung oder Verwechslung des Vornamens von Jean-Jacques Rousseau und der Nachfahrin Gabriele Käfer-Dittmar. Des Weiteren bleiben die Ergebnisse einzelner wichtiger Studien der jüngeren Gender- und Revolutionsforschung in der Untersuchung unberücksichtigt, und diese Arbeiten werden auch bibliografisch in dem ansonsten sehr ergiebigen Quellen- und Literaturverzeichnis nicht erfasst.5 Wie in wissenschaftlichen Monografien mittlerweile leider oft gängige Praxis fehlt in Nagels Werk zudem ein aussagekräftiges Personenregister, das den interessierten Leser/innen den Zugang zu den in der Biografie thematisierten Persönlichkeiten hätte erleichtern können.

Dennoch – und das gilt es ausdrücklich zu betonen – handelt es sich bei dieser Biografie von Louise Dittmar um eine aufschlussreiche, anregende und wirklich lesenswerte Lebensbeschreibung. So gelingt es der Verfasserin in der Darstellung mit großem Fachwissen, viel Einfühlungsvermögen und einem sicheren Schreibstil die Dittmarschen Schriften in den vormärzlichen und revolutionären Diskurs um eine neue Staats-, Gesellschafts- und Geschlechterordnung sachkundig einzuordnen, ihre in den Texten vertretenen religionsphilosophischen, politiktheoretischen und feministischen Positionen im Lager der oppositionellen Linken und entschiedenen Demokraten präzise zu verorten, vor allem aber die herausragende zeitgenössische Stellung von Dittmar, ihrer Persönlichkeit, ihrem politischen Wirken und literarischen Schaffen darzulegen und ein anschauliches Lebensbild von ihr zu entwerfen. Auf diese Weise findet sie auch eine Antwort auf die eingangs ihrer Studie gestellte Frage, welchen „Erklärungswert“ die biografische Methode im Falle Dittmars „für historische Gesamtvorgänge“ haben könnte. Denn Christine Nagel kann an ihrem Beispiel überzeugend zeigen, warum „gerade diese Frau ‚aus der Rolle gefallen‘“ ist, wie „die Beteiligung von Frauen an den Reformansätzen im Vormärz und in den Revolutionsjahren“ (S. 22ff.) konkret ausgesehen und welche Auswirkungen diese auf das Geschlechterverhältnis vor 150 Jahren gehabt hat.

Anmerkungen:
1 Dittmar, Louise, Vier Zeitfragen. Beantwortet in einer Versammlung des Mannheimer Montag-Vereins, Offenbach 1847, Vorwort S. III.
2 Zu den „Amazonen“: Zetkin, Clara, Zur Geschichte der proletarischen Frauenbewegung Deutschlands, Frankfurt am Main 1971, S. 19; gerade die Literaturwissenschaft trug zur Wiederentdeckung Dittmars bei, vgl. unter anderem: Boetcher Joeres, Ruth-Ellen, Respectability and Deviance. Nineteenth-Century German Women Writers and the Ambiguity of Representation, Chicago 1998, hier S. 83.
3 Mittlerweile existieren mehrere wissenschaftliche Studien zu der Vormärzautorin, vgl.: Klausmann, Christina, Louise Dittmar (1807-1884). Ergebnisse einer biographischen Spurensuche, in: Amsterdamer Beiträge zur Neueren Germanistik 28 (1989), S. 17-39; Boetcher Joeres, Ruth-Ellen, Spirit in Struggle. The Radical Vision of Louise Dittmar (1807-1884), in: ebd., S. 279-301; Herzog, Dagmar, Liberalism, Religious Dissent and Women’s Rights. Louise Dittmar’s Writings from the 1840s, in: Jarausch, Konrad H., u.a. (Hgg.), In Search of a Liberal Germany. Studies in the History of German Liberalism from 1789 to the Present, Oxford 1990, S. 55-85; Käfer-Dittmar, Gabriele, Louise Dittmar, 1807-1884, in: Dierks, Margarete (Hg.), Sie gingen voran. Vier bedeutende Darmstädter Frauen des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 1990, S. 38-81.
4 Dabei handelt es sich um die Abhandlung von: Freund, Marion, „Mag der Thron in Flammen glühn!“ Schriftstellerinnen und die Revolution von 1848/49, Königstein im Taunus 2004, Kap. I., S. 93-130.
5 Neben der Arbeit von Freund (wie Anm. 4) werden auch andere Studien zum weiblichen Vereinswesen und Emanzipationsdiskurs nicht berücksichtigt, so von: Eusterschulte, Anne u.a., Emanzipationsdiskurse im Vormärz, in: Frauen & Geschichte Baden-Württemberg u.a. (Hgg.), Frauen und Revolution. Strategien weiblicher Emanzipation 1789 bis 1848, Tübingen 1998, S. 101-133; Huber-Sperl, Rita, Bürgerliche Frauenvereine in Deutschland im ‚langen‘ 19. Jahrhundert. Eine Überblicksskizze (1780 bis 1910), in: dies. (Hg.), Organisiert und engagiert. Vereinskultur bürgerlicher Frauen im 19. Jahrhundert in Westeuropa und den USA, Königstein im Taunus 2002, S. 41-74.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension