Cover
Titel
'Wir werden niemals vergessen!'. Trauma, Erinnerung und Identität in der armenischen Diaspora Griechenlands


Autor(en)
Schwalgin, Susanne
Reihe
Kultur und soziale Praxis
Anzahl Seiten
273 S.
Preis
€ 26,80
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Tsypylma Darieva, Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität zu Berlin

Kollektives Trauma und Diaspora haben in den letzten zwei Dekaden einen gewichtigen Anteil an internationalen Diskussionen in den Sozialwissenschaften gewonnen. In der Migrations- und Transnationalismusforschung spricht man von einem inflationären und unpräzisen Gebrauch des Begriffes „Diaspora“. Ebenso nicht zu übersehen sind die allgegenwärtigen Diskussionen über die Bedeutung von Erinnerungspraktiken für die Identitätskonstruktionen, sprich für das kulturelle Gedächtnis.

Das Buch von Susanne Schwalgin zum Thema Trauma, Erinnerung und Diasporaidentität ist jedoch für die deutschsprachige ethnologische Literatur ein Gewinn. Im Zentrum der umfangreichen ethnografischen Studie, die der Abschluss eines Dissertationsprojekts ist, steht die „klassische“ Diasporagemeinschaft von Armeniern und ihre Wunde, die der Genozid von 1915 hinterlassen hat. Es ist eine Studie zur richtigen Zeit. Mit neunzigjährigem zeitlichem Abstand scheint die Intensität von Erinnerungen an die gewaltsamen Ereignisse bei den Armeniern paradoxerweise größer denn je. Die Autorin fragt, wie sich heute öffentliche Rituale und private Erinnerungspraktiken bei Armeniern in der Diaspora vollziehen. In welcher Weise und mit welchen Mitteln wird erinnert, welche Erinnerungen können öffentlich artikuliert werden und welche werden verschwiegen? Was genau macht Diaspora zum „Anderen“ des Nationalstaates?

Diese Fragestellung zeigt sich besonders aktuell im Hinblick auf die rezenten geopolitischen Transformationen auf dem eurasischen Kontinent. Nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums entsteht eine völlig neue Konstellation für die Beziehungen zwischen der Diaspora und dem Homeland: Denn die zahlreichen alten armenischen Diasporas bekommen quasi eine neue Heimat. Ein wenig entfernt vom ursprünglichen Herkunftsland zeichnet sich auf der Weltkarte, am Rande Europas, ein unabhängiger armenischer Nationalstaat mit einem konkreten Territorium und „der nationalen Ordnung von Dingen“ ab. Dies führte zu neuen Erwartungen und diversen Begegnungen, zu gegenseitigen Enttäuschungen und zu neuen Definitionen in der Diaspora. Die darauf bezogenen Identitätsprozesse werden von Susanne Schwalgin mit Hilfe von empirischen Daten, anhand einer multi sited Ethnografie in zwei armenischen Gemeinschaften in Thessaloniki und Athen sowie in der Republik Armenien lebendig demonstriert.

Die diaporaspezifischen kulturellen Techniken der Erinnerungsarbeit sowie kollektive und individuelle Inszenierungen von Gemeinschaftsgefühlen in den 1990er-Jahren lassen sich besonders sichtbar in der Zeit des politischen Umbruches zeigen. Nach der Einführung in Thema und Methodik nähern sich vier Kapitel (Kapitel 3-6) der Beantwortung dieser Fragen. Um das Problem kollektiver Identitätsherstellung unter der Bedingung räumlicher Zerstreuung zu entschlüsseln, wird zunächst ein Überblick über die lokalen Geschichten armenischer Gemeinschaften geliefert, und das macht die Qualität der Forschung aus. Dann setzt Schwalgin ihre Beschreibung mit der Darstellung von administrativen Strukturen und der Komplexität interner Differenzen armenischer Communities fort. Die Kapitel 5 und 6, die den zentralen Teil des Buches ausmachen, konzentrieren sich auf die Präsentation von zwei Typen der Identitätsarbeit in der Diaspora: Einerseits auf kollektive ritualisierte Erinnerungen an den Völkermord, andererseits auf individuelle Tradierungen in den Familien, die sich als Nachfahren von Genozidopfern wahrnehmen. Zusätzlich analysiert die Autorin die Mechanismen intergenerativer Übertragung von Erinnerungen auf der Familienebene und gibt Einblick in das Wechselspiel zwischen „Ich“ und „Wir“-Perspektiven in der sozialen Praxis des Nichtvergessens. Somit liefert „Wir werden niemals vergessen!“ einen umfangreichen Beitrag zum kulturspezifischen Umgang mit kollektiven Traumata in der Diaspora.

Die Kombination von Ethnografien offizieller Erzählungen sowie performativer Handlungen in lokalen armenischen Diasporagemeinschaften und der Analyse von Familien- und Alltagsritualen in Kreisen „einfacher Menschen“ bringen den Leser/innen nicht nur das breit gefasste armenischspezifische Repertoire der Erinnerungsarbeit nahe, sondern auch den Sinn der Veränderbarkeit des Repertoires, was einen Rahmen für die Diskussion zu universellen Kriterien der Identität in der Diaspora schafft. Die Analyse historischer Zusammenhänge von politischen und sozialen Umbrüchen in Griechenland als host society in der Vor- sowie Nachkriegszeit zeigt die up und downs in der armenischen Gemeinschaft sowie die Herauskristallisierung der Identität als Gast in einem „fremden Land“, oder wie Schwalgin definiert eine „(Gast-)Nation im Exil“ (S. 72). Der Bürgerkrieg und der Kalte Krieg hatten für den Identitätswandel weit reichende Folgen – die so genannte „Rückkehr“, ein dramatischer Massenexodus 1946 von Zweidritteln der griechischen Armenier in die „Heimat“, in das sowjetische Armenien. Ebenso hat die emotionale Kirchenspaltung die politische, soziale und kulturelle Struktur der Diasporagemeinschaft auseinander gebracht. Neben der Globalisierung spielen solche sozialen Prozesse wie die Auflösung von ethnischen Ghettos, die (De-)territorialisierung, die Integration in die griechische Gesellschaft und die unerwartete Unabhängigkeit der Republik Armenien 1991 eine zentrale Rolle in der Entwicklung der Neudefinition der armenischen Identität in der Diaspora. Diese Neudefinition findet ihren Ausdruck im Wandel der Identitätsrepräsentation von einer „Nation im Exil“ zu einer diasporischen Minderheit.

Auffällig ist, dass Schwalgin in ihrem Buch viel mehr über die unermüdliche „Erinnerungs- und Identitätsarbeit“ im Alltag als über Identitätskonstruktionen im Prozess der Herstellung eines Gemeinschaftsgefühls oder über individuelle postmoderne Identitätssuche spricht. Es handelt sich nicht um ein patch-work Identitätsprojekt, sondern vielmehr um bewusste Praktiken der Identitätsaufrechterhaltung in der spezifischen Situation des Lebens in der Diaspora als Opfergemeinschaft. Und hier wird den Leser/innen deutlich, wie zentral der soziale Aspekt des Erinnerns und Vergessens in dieser Arbeit ist. Jenseits von psychologisch geprägten Untersuchungen über Trauma, die Erinnerungen eher homogenisierend und als in sich geschlossen betrachtend, betont die Autorin zu Recht die soziale und politische Einbindung der Erinnerungen, die eine sehr wichtige Rolle in der Mobilisierung und Instrumentalisierung von Diasporaidentitäten spielen. Die Passungen und Überkreuzungen zwischen kollektiver und individueller Erinnerungsarbeit sind nicht ganz glatt und homogen, sie sind stark beeinflusst von sozialen Positionierungen und Kategorien wie Klasse, Geschlecht, Alter und politischen Vorlieben.

Susanne Schwalgin versucht sich von der klassischen Definition „Diaspora“ 1 zu distanzieren und geht bewusst von einem offenen Konzept des Begriffs „Diaspora“ aus (S. 243). Somit versucht Schwalgin in ihrer Arbeit den klassischen Kriterienkatalog der Diasporadefinition mit Hilfe ethnologischer Herangehensweisen zu dekonstruieren und geht dabei auf drei problematische Felder detaillierter ein: Lokalität, Mobilität und Transnationalität. Leider wirkt die theoretische Auseinandersetzung ein wenig fragmentarisch. Klar bleibt die These, dass moderne Diasporen nicht unbedingt mit transnationalen Gemeinschaften gleichgesetzt werden können. Das Diasporabewusstsein macht eine lokalisierte gelebte Erfahrung und die Identifikation mit den lokalen Institutionen aus. Schließlich ist der Leser mit der überraschenden Erkenntnis konfrontiert, dass Diaspora nicht unbedingt eine mobile Kultur darstellt, sondern vielmehr durch eine gewisse Sesshaftigkeit gekennzeichnet ist, die als Voraussetzung für die Etablierung von Diasporainstitutionen dient. In diesem Zusammenhang lässt sich die Frage stellen, inwieweit die Migrationsforschung überhaupt weiter analytisch mit dem Begriff „Diaspora“ arbeiten soll?

Wie oben erwähnt, liegt der Reiz der Studie in ihren dichten ethnografischen Beschreibungen von gelebten Erinnerungen und ihrer sozialen Kontextualisierung. Für alle diejenigen, die an Forschungen über Trauma und die Weitergabe von Erinnerungen sowie an lokalen Minderheitenidentitäten im Zeitalter des Transnationalismus in Europa interessiert sind, bietet die Monografie von Susanne Schwalgin wertvolle Erkenntnisse.

Anmerkung:
1 So etwa bei: Safran, William, Diasporas in Modern Societies: Myths of Homeland and Return, in: Diaspora 1 (1991), S. 83-99; Cohen, Robin, Global Diasporas, London 1997.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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