Titel
Gertrud Stockmayer. Briefe einer Studentin (1899-1908)


Herausgeber
Glaser, Edith
Erschienen
Königstein 2004: Ulrike Helmer Verlag
Anzahl Seiten
Preis
24,95 Euro
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Elke Kleinau, Seminar für Pädagogik, Abt. für Allgemeine Pädagogik, Universität zu Köln

Dieser im Jahr 2004 von der Erziehungswissenschaftlerin Edith Glaser herausgegebene Briefband hat eine lange Geschichte. Viele der in diesem Band publizierten Briefe wurden vor mehr als zwanzig Jahren im Rahmen eines Forschungsprojektes zur Geschichte des Frauenstudiums an der Universität Tübingen entdeckt und von einer Tochter Gertrud Stockmayers dem Tübinger Universitätsarchiv übergeben. Ein erster Versuch, die Briefe herauszugeben, scheiterte Anfang der 1990-er Jahre an mangelnder finanzieller Unterstützung seitens der Universität. Nachdem diverse Jubiläumsfeiern anlässlich des einhundertjährigen Frauenstudiums an deutschen Universitäten ins Land gegangen sind, ist es Edith Glaser nunmehr gelungen, universitäre Geldgeber zu finden und die Briefe einer der Pionierinnen des Frauenstudiums einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Gertrud Stockmayer gehörte zu den ersten ordentlichen Studentinnen, die im Sommersemester 1904 an der württembergischen Landesuniversität Tübingen zum Studium zugelassen wurden. Der Zulassung waren – nicht nur im Königreich Württemberg, sondern im ganzen deutschen Kaiserreich – jahrzehntelange Auseinandersetzungen zwischen der bürgerlichen Frauenbewegung, dem Kultusministerium, den Universitäten, akademischen Berufsorganisationen und Parteien vorausgegangen. Die Geschichte des Einzugs der Frauen in die Wissenschaft ist in den letzten 20 Jahren aus sozial- und institutionengeschichtlicher Sicht von verschiedenen Autorinnen und Autoren eingehend untersucht worden. 1 Diese Studien berichten über institutionelle ‚Hindernisse’ und ‚Barrieren’, die die ersten Studentinnen überwinden mussten, über ,Umwege’ und ‚Sackgassen’, über ‚Grenzen’, die überschritten wurden. Universitäten – so lautet der gemeinsame Tenor dieser Studien – waren für Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ‚terra incognita’, auf dem sie nur bedingt erwünscht waren.

Wie Edith Glaser in ihrem informativen Nachwort ausführt, ist das eine Seite der Geschichte, „die Geschichte der institutionellen Beschränkungen“ (S. 268), die sich problemlos bis in die Gegenwart fortschreiben ließe. Die andere Seite, die immer noch völlig unzureichend erforscht sei, bezeichnet sie als die „subjektive Seite der Geschichte akademischer Frauenbildung“ (S. 269). Glaser reproduziert damit die Dichotomisierung von ‚Objektivität’ versus ‚Subjektivität’, die – das hat die wissenschaftstheoretisch orientierte Frauen- und Geschlechterforschung der letzten Jahrzehnte zur Genüge nachgewiesen – Erkenntnis eher verstellt als ermöglicht. Richtig ist, dass es bislang an Studien fehlt, in den die „Selbstwahrnehmung der Menschen zum Ausdruck kommt“ (S. 269). Nun gibt es zwar einige Studien, in denen Wissenschaftler/innen den methodischen Zugang über Interviews mit Zeitzeuginnen gewählt haben, um der Selbstwahrnehmung und Selbstthematisierung der ersten Generation von Studentinnen auf die Spur zu kommen. 2 Einige Autobiographien, in denen Frauen ihren Weg in die Wissenschaft beschreiben 3, liegen ebenfalls vor, aber im hohen Alter verfasste Lebenserinnerungen konstruieren in der Regel den Sinn, den ein Mensch im Nachhinein seinem persönlichen und beruflichen Lebensweg verleiht. Das heißt, Lebenserinnerungen thematisieren die individuelle Verarbeitung von Erlebtem. Einen unmittelbaren Zugang zur erlebten Realität bieten sie nicht, ebenso wenig wie Tagebücher und Briefe, auch wenn diese zunächst größere Authentizität zu suggerieren scheinen. Für die historisch-pädagogische Frauen- und Geschlechterforschung ist nun gerade dieser Prozess der individuellen Verarbeitung der Studienerfahrungen von besonderem Interesse. „Wie bewegten sich die Neuankömmlinge ‚auf dem fremden Terrain’? Wie bewältigen sie die ‚Barrieren’? Wie war der Umgang mit den Professoren und den Kommilitonen? Welchen Stellenwert hatte im Lebenslauf junger Frauen die Zeit des Studiums, das biographisch immer mehr war als nur die akademische Ausbildung?“ (S. 268 f.) Diese und andere Fragen drängen sich bei der Lektüre der Briefe auf und längst nicht alle werden beantwortet.

Die 1880 geborene Gertrud Stockmayer entstammte dem liberalen protestantischen Bildungsbürgertum Süddeutschlands. Ihr Vater Eugen Stockmayer war der erste besoldete Bürgermeister Stuttgarts, und er war es auch, der seiner Tochter den Weg in die Hörsäale der Universität ebnete. Im Wintersemester 1897/1898 ließ sich Gertrud Stockmeyer – nach dem Besuch des Königin-Katharina-Stifts, einer höheren Mädchenschule mit angeschlossenem Lehrerinnenseminar – zunächst als Hörerin an der Technischen Hochschule Stuttgart einschreiben. Dem Wunsch des Vaters gemäß wollte sie kulturgeschichtliche und sozialpolitische Vorlesungen belegen. Bis 1920 war es üblich, dass weibliche Studierende jeden einzelnen Hochschullehrer fragen mussten, ob in seinen Veranstaltungen ‚Damen’ zugelassen seien. Bürgermeister Stockmeyer erledigte diese demütigende Prozedur für seine Tochter, indem er kurzerhand an den betreffenden Professor schrieb. Dieser kam dem führenden Repräsentanten der Stadt sogar so weit entgegen, dass er der neuen Hörerin seine Frau als Begleitung an die Seite stellte, damit sie „nicht so allein unter die Studenten hineinsitzen müsse.“ (S. 271) Nachdem Gertrud Stockmeyer das Stuttgarter Mädchengymnasium besucht und erfolgreich die Abiturprüfung abgelegt hatte, beantragte sie – zusammen mit zwei Mitschülerinnen – am 4. Januar 1904 beim Senat der Universität Tübingen die Zulassung zur Immatrikulation. In seinem Antwortschreiben verwies der Rektor der Universität darauf, dass zur Zeit eine Immatrikulation nicht möglich sei, dass sich aber im Lauf der nächsten Wochen, „der akademische Senat mit der Frage einer grundsätzlichen Neuordnung der Zulassung von Frauen zum akademischen Studium befassen“ werde (S. 16). Neben dem väterlichen Netzwerk, dessen Beziehungen auch nach Tübingen reichten, nahm der Verein „Frauenstudium – Frauenbildung“, dem viele Dozenten der Universität angehörten, das Immatrikulationsgesuch Stockmayers zum Anlass, beim zuständigen Ministerium für die Zulassung von Frauen zum Hochschulstudium zu petitionieren. Die Strategie des Vereins, die Frage der Immatrikulation von Frauen an einem konkreten Einzelfall aufzuhängen, führte zum gewünschten Erfolg. In einem Schreiben vom 25. Februar 1904 wurde Stockmayer offiziell mitgeteilt, dass ihrem Studium nun nicht mehr entgegenstünde.

Für heutige Leserinnen und Leser ist es erstaunlich, dass Gertrud Strockmayer in ihren Briefen so gut wie keine Diskriminierungserfahrungen thematisiert. An einer Stelle erfährt man, dass sie ein begehrtes Universitätsstipendium zur Fertigstellung ihrer Dissertation im Fach Geschichte (im ersten Anlauf) nicht erhalten hat, weil der Dekan der Staatswissenschaftlichen Fakultät ein Gegner des Frauenstudiums sei. Edith Glaser gibt zu bedenken, dass die meisten der erhaltenen Briefe für die Eltern der Studentin bestimmt waren und „das Diskriminierungserfahrungen keine Themen sind für Briefe an die Eltern; darin formuliert sein müssen vielmehr der Erfolg, die professorale Anerkennung [...]“ (S. 274) Vielleicht war es aber auch dieser privilegierte Status als Tochter eines einflussreichen Vaters, eingebettet in familiäre und frauenbewegte Netzwerke, der Gertrud Stockmayer im Umgang mit den universitären Strukturen und Umgangsformen Sicherheit verlieh. Zweifelsohne verfügte sie aber daneben über eine gehörige Portion Humor und Witz, die ihr dabei halfen negative Erfahrungen, z. B. die mit ihrer ersten Zimmerwirtin, in Form von selbstverfassten Spottgedichten, sogenannten ‚Kneipzeitungen’, zu verarbeiten.

Tübingen scheint um die Jahrhundertwende ein schönes, beschauliches Städtchen mit hohem Freizeitwert gewesen zu sein. Neben intensiven Studienphasen berichten die Briefe Gertrud Stockmayers von Wanderfahrten, Reitausflügen, Dressurdarbietungen mit Musik, Ski- und Schlittschuhpartien mit Kommilitoninnen und Kommilitonen. Stockmayer profitierte hier zweifelsohne davon, dass ihre beiden Brüder zeitgleich mit ihr in Tübingen studierten und sie in die Welt der Korporationen, vor allem in die evangelischen Verbindungen Roigel und Luginsland, einführten. Aber auch die Professoren, einschließlich des Rektors, pflegten den Kontakt mit den Studierenden, insbesondere mit ihren Doktorandinnen und Doktoranden, luden zu Tisch oder forderten zu einer Tennispartie heraus. Gertrud Stockmayer führte ein reges gesellschaftliches Leben, verkehrte mit vielen Menschen aus ihrem familiären und universitären Umfeld. Die meisten der in den Briefen genannten Frauen und Männer hat Edith Glaser in mühseliger Kleinarbeit identifizieren können und die jeweiligen Angaben zur Person oder zur Sache in Form von Anmerkungen am Ende des Bandes unterbracht. Das erschwert die Lektüre, ist aber wohl nicht der Herausgeberin, sondern dem Verlag anzulasten. Auch ist die Kommentierung einiger Textstellen aufgrund des Detailreichtums der Briefe etwas durcheinander geraten. Begriffe und Personen werden nicht immer an der Stelle erklärt, an der sie das erste Mal auftauchen. Fußnote 234 enthält z. B. einen Briefzusatz, den Stockmayers Bruder Erich verfasst hat und der den Begriff „Weihnachtsgutsle“ (S. 252) enthält. Die Leser/innen erfahren aber erst in Fußnote 594, dass ‚Gutsle’ die schwäbische Bezeichnung für Kekse ist. Manche Begriffe wie z. B. ‚Kranzschwester’, ‚kalte Ente’, mundartliche Ausdrücke wie ‚Gelte’ werden zwar mit einer Fußnote versehen, aber in den Anmerkungen wird der Begriff lediglich wiederholt, jedoch nicht erklärt. Zweifelsohne hat die lange Zeit, in der die Edition der Briefe zwecks mangelnder Finanzierung nicht weiter verfolgt werden konnte, der Ausführung des Projekt geschadet. Für das Fachpublikum liegt eine höchst informative Briefsammlung vor, die sowohl Aufschluss über den Studienalltag als auch über das Freizeitverhalten einer der ersten Studentinnen Deutschlands erteilt. Zum Selbststudium der Studierenden ist der Band nur für Studierende mit Vorkenntnissen zu empfehlen.

1 Vgl. z.B. Lothar Mertens: Vernachlässigte Töchter der Alma Mater. Ein sozialhistorischer und bildungssoziologischer Beitrag zur strukturellen Entwicklung des Frauenstudiums in Deutschland seit der Jahrhundertwende, Berlin 1991; Claudia Huerkamp: Bildungsbürgerinnen. Frauen im Studium und in akademischen Berufen 1900-1945, Göttingen 1996; Theresa Wobbe: Wahlverwandschaften. Die Soziologie und die Frauen auf dem Weg zur Wissenschaft, Frankfurt a.M., New York 1995.

2 Vgl. Petra Clephas-Möcker, Kristina Krallmann: Akademische Bildung – eine Chance zur Selbstverwirklichung von Frauen? Lebensgeschichtlich orientierte Interviews mit Gymnasiallehrerinnen und Ärztinnen der Geburtsjahrgänge 1909-1923, Weinheim 1988; Edith Glaser: Hindernisse, Umwege, Sackgassen. Die Anfänge des Frauenstudiums in Tübingen (1904-1934), Weinheim 1992; Gitta Benker, Senta Strömer: Grenzüberschreitungen. Studentinnen in der Weimarer Republik, Pfaffenweiler 1991.

3 Vgl. z.B. Gabriele Junginger (Hg.): Maria Gräfin von Linden. Erinnerungen der ersten Tübinger Studentin, Tübingen 1991.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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