M. Sorokina u.a.: Aleksandr S. Lappo-Danilevskij

Titel
Politische Ideen im Rußland des 18. Jahrhunderts. Ihre Geschichte im Zusammenhang mit der allgemeinen Entwicklung der russischen Kultur und Politik


Autor(en)
Lappo-Danilevskij, Aleksandr S.
Herausgeber
Sorokina, Marina Ju.
Erschienen
Köln 2005: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
462 S.
Preis
€ 54,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elina Knorpp, Köln

Mit der Monografie "Istorija polititscheskich idei w Rossii w XVIII weke w swjasi s obschtschim chodom raswitija ejo kultury i politiki" des Historikers Aleksandr Lappo-Danilevskij (1863-1919) liegt eine russische Erstausgabe des Werkes vor. Als Grundlage für die Veröffentlichung diente der handschriftliche Originaltext des Autors, der im Archiv der Russischen Akademie der Wissenschaften aufbewahrt wird. Lappo-Danilevskij galt zu sowjetischen Zeiten als „reaktionärer“ Historiker. Erst in den 1980er Jahren entstand seitens der sowjetischen Forschung ein Interesse am Werk der "vorrevolutionären Wissenschaftler" allgemein, und so auch an Lappo-Danilevskij speziell. Die erste Publikation eines Archiv-Manuskripts des Wissenschaftlers erfolgte aber erst 1990.1

Bis jetzt sind immer noch zwei Drittel seines Werks unveröffentlicht. Somit stellt die Publikation seines zentralen Werkes: "Politische Ideen im Russland des 18. Jahrhunderts" einen besonderen Beitrag zur slawischen und russischen Geschichte, Kulturgeschichte, Philosophie und Wissenschaftsgeschichte dar. Durch die Herausgabe in einem deutschen Verlag wird das Buch in erster Linie für die westlichen Leser/innen gut zugänglich.

Die Idee zu diesem Werk hatte Lappo-Danilevskij schon Anfang der 1890er Jahre, wovon auch seine Notizen und Briefe zeugen (S. XXIII). So wurden die ersten Kapitel bereits 1906-1907 fertig gestellt, aber weiterhin ständig überarbeitet. Schließlich war im Jahr 1919 eine Veröffentlichung des ersten Teiles geplant, die aber aufgrund des plötzlichen Todes von Lappo-Danilevskij nicht zustande kam.

Das Werk ist in zwei Bücher gegliedert. Die vorliegende Veröffentlichung beinhaltet das erste Buch und einen Teil des zweiten Buches. Somit täuscht auch der Titel "Politische Ideen im Russland des 18. Jahrhunderts", denn diese Ausgabe behandelt hauptsächlich das 17. Jahrhundert und lediglich den Anfang des 18. Jahrhunderts. Der geplante zweite Band soll sich dem 18. Jahrhundert – beginnend mit der Regierung Peters des Großen – widmen. Laut der Herausgeberin Marina Sorokina entspricht der Text, obwohl nicht vollendet, der letzten Vorstellung des Autors. Die Struktur des Buches folgt der Systematisierung von A. I. Andreev, einem Schüler des Verfassers, die Kapitelüberschriften stammen von Lappo-Danilevskij selbst.

Das Buch ist in einer gut lesbaren Sprache verfasst. Der Sprachstil ist typisch für die Wissenschaftstexte in den Jahrzehnten um 1900: nicht trocken, sondern fast schon erzählerisch. Stellenweise kommen Wiederholungen im Text vor, die von der Unvollendetheit des Textes zeugen. Die Publikation lässt sich grob in drei Teile gliedern: "Der Einfluss der westeuropäischen Kultur auf die Moskauer Rus zur Zeit der konfessionellen Gegensätze" (S. 12-139), "Die Reaktion gegen die lateinisch-polnische Richtung in der Moskauer Bildung und ihre Bedeutung für die weitere Entwicklung des russischen Denkens im Bereich der Moral und Politik" (140-168) sowie "Der Einfluss des Protestantismus" (169-277).

Das Buch bietet insgesamt eine umfassende Darstellung der Entwicklung der "russkaja mysl" (des russischen Denkens) vor allem im Bereich der Moral und Politik. Dabei geht der Autor ausführlich auf die Bildungssituation zuerst in Malorossija (Ukraine) und später in der Moskauer Rus ein. Es werden sowohl die Bildungsinhalte an den Akademien und Schulen als auch die Hauptthesen der zentralen Traktate mit ihren Äußerungen zu Politik und Gesellschaftswesen erläutert.

Die Entwicklung sowie der Einfluss auf die politischen Ideen in Russland werden anhand der Verbreitung bestimmter Werke oder Hauptgedanken darin verfolgt. So untersucht der Verfasser unter anderem, welche Werke in dieser Zeit publiziert oder übersetzt wurden – dabei geht er teilweise auf die Qualität der Übersetzungen, die darin enthaltenen Fehler und die in der Übersetzung ausgelassenen Kapitel ein. Es werden auch Bestandslisten aus unterschiedlichen Bibliotheken herangezogen.

Der erste Teil diskutiert den Einfluss der Scholastik in der Moskauer Rus und dient als Einführung in die Tradition der orthodoxen Scholastik (prawoslawnaja scholastika) und ihre Hauptlehren. Der Autor zeigt auf, wie sich die westeuropäische lateinische Scholastik einen Zugang zu den russischen Schulen verschaffte.

"Die orthodox-russische Scholastik war bestrebt, ihre Dialektik aus der griechischen Bildung zu schöpfen, was sich selbstverständlich auch auf die Richtung der politischen Ideen auswirken sollte." (S. 15) Da aber die Autorität und der Einfluss der griechischen Bildung mit der Zeit nachließ, wurde auch die lateinische Dialektik zu Rate gezogen, die – hauptsächlich vermittelt durch polnische Schulen – Einfluss gewann. Kleinrussen – so nennt der Autor die Vorfahren der heutigen Ukrainer 2 – spielten dabei eine wichtige Rolle: Viele von ihnen studierten in Polen und lehrten später in den Bruderschafts-Schulen oder an der bekannten Kiewo-Mohyljanska Akademie.

Die geschichtlich-politische Situation der Ukraine war in gewisser Weise auch für den weiteren Verlauf und die Entwicklung des politischen Denkens von Bedeutung.3 Da ihre Bevölkerung griechisch-orthodox war und im Doppelstaat Polen-Litauen über weniger Privilegien als die Katholiken verfügte, führte dies zu einem Kampf um die Freiheit des Glaubensbekenntnisses. Dieser wurde unter anderem in der schriftlichen Polemik ausgetragen, in der man auch Methoden der lateinischen Gelehrten benutzte, um sie mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen. Ein wichtiges Traktat dieser Zeit, auf das Lappo-Danilevskij genauer eingeht, ist die "Apokrisis" von Christofor Filalet 4, welche eine wichtige Rolle für die Geschichte des Rechts- und politischen Denkens spielt.

Nachdem die Ukraine unter die Herrschaft des russischen Zaren gefallen war, wurden kleinrussische Gelehrte nach Moskau berufen und verbreiteten dort sowohl ihre Schullehre als auch die lateinisch-polnische Scholastik. Der Autor widmet den zweiten Teil der Monografie der Reaktion der Moskauer Bildungseinrichtungen, und geht auf den Kampf der Westler gegen die Anhänger der orthodox-griechischen Lehre ein.

Das zweite Buch ist zwar als umfassende Darstellung des protestantischen Einflusses angekündigt, der Autor geht hier aber weniger vielseitig an das Thema heran. Vielmehr erläutert er die Zusammenhänge und Entwicklungen innerhalb des russischen Denkens anhand ausgewählter Gelehrter oder deren Traktate, wie z.B. Modschewskijs "De Republica emendanda", Krischanitschs "Politika", "Polititschnye dumy" und andere. Hier werden die Hauptthesen dieser Werke herausgearbeitet und ihre Ausführungen zur Rolle des Zaren, zur Monarchie, zur Gesellschaftsordnung, zum bürgerlichen Recht, zum Glauben, aber auch zu Wahrheit, Gerechtigkeit und nationalem Selbstbewusstsein sowie zur Lutheranischen Lehre dargelegt.

Ein ausführlicher Anmerkungs- und Bibliografieteil schließt die Monografie ab. Eine Zeittafel hätte vielleicht eine zusätzliche Hilfe bieten können. Die Monografie zeugt insgesamt von einer herausragenden Leistung des Autors und ist als Bereicherung der osteuropäischen Forschung anzusehen. So kann man froh sein, dass dieses Werk nach so vielen Jahren der Vergessenheit nun endlich veröffentlicht wurde.

Anmerkungen:
1 Es handelt sich um die Einführungskapitel des hier zu besprechenden Werkes, die 1990 unter dem geänderten Titel "Istoria russkoj obschtschestwennoi mysli i kultury XVII-XVIII ww." (Geschichte des russischen Gesellschaftsdenkens und der Kultur im 17.-18. Jh.) im Verlag "Nauka" veröffentlicht wurden.
2 Das von Kleinrussen (malorossy)/ Ukrainern bewohnte Gebiet nennt Lappo-Danilevskij Kleinrussland (Malorossia) oder auch Ukraine. Im Polnischen war aber anscheinend schon das Wort "Ukraine" geläufig. So schreibt beispielsweise Christofor Filalet in seiner "Apokrisis": "Nis inszego tak bardzo R. Ptey i Ukrainy ne turbuje, jako unia" (S. 287).
3 Die Ukraine, die schon seit dem 14. Jahrhundert zu Polen-Litauen gehörte, wurde nach der Lubliner Union von 1569 endgültig an Polen angeschlossen.
4 Es wurde 1597 in polnischer Sprache in Wilna veröffentlicht.

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