Titel
Russischer Alltag. Sowjetische Moderne und Umbruch


Autor(en)
Goehrke, Carsten
Erschienen
Zürich 2005: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Gestwa, Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Eberhard Karls Universität Tübingen

Mit dem dritten Band zur Sowjetperiode und zum Umbruchjahrzehnt nach 1992 findet Carsten Goehrkes monumentale Alltagsgeschichte Russlands ihren angemessenen Abschluss. Auch bei der Geschichte der Sowjetmoderne bleibt Goehrke seiner Konzeption treu, so dass der letzte Band noch einmal die Stärken und Schwächen dieser bislang einzigartigen Großsynthese deutlich macht.1 Bei seinem Durchmarsch durch das 20. Jahrhundert konzentriert sich Goehrke auf drei Zeitbilder. Die Zeit des Vorkriegsstalinismus (1929-1941) beschreibt er als das Werden einer Fassadengesellschaft mit ihren Schauplätzen und Gegenwelten. Das zweite Zeitfenster von 1964 bis 1985 wählt er, um eine Brücke zu schlagen „von der ‚goldenen’ Phase der ersten zehn Breschnjewjahre, in welcher die Leistungsfähigkeit des Sowjetmodells ihren Zenith erreichte, bis zur ‚Stagnationsphase’ und Delegitimierung des Systems zwischen 1975 und 1985“ (S. 304). Die Transformationsperiode zwischen 1992 und 2000 sieht Goehrke zwischen Apokalypse, Aufbruch und Sowjetnostalgie. Er spricht vom „Überlebenskampf“ und nimmt sowohl die „neuen Russen“ als auch die „alten Mentalitäten“ in Blick. Während das letzte Zeitbild auf 35 Seiten recht knapp abgehandelt wird, steht der Vorkriegsstalinismus als Sattelzeit der Sowjetmoderne mit knapp 260 Seiten eindeutig im Vordergrund.

Goehrkes Konzentration auf die drei Zeitbilder hat zur Folge, dass der Zweite Weltkrieg, die Nachkriegszeit und Tauwetterperiode nur am Rand Erwähnung finden. Das ist nicht nur bedauerlich, sondern bedenklich. Zum einen stellt der Alltag der Kriegs- und Nachkriegszeit eines interessantes Themenfeld dar, dessen Erforschung guten Aufschluss über die Mechanismen sowjetischer Alltagsbewältigung gibt, um liebgewonnene Stereotypen über den menschenverachtenden und intoleranten homo sovieticus kritisch zu überdenken. Trotz aller Gewaltbereitschaft und Ausgrenzung zeigte gerade das soziale Miteinander während der von Hunger und Not geprägten 1940er Jahre immer wieder, dass selbst der Sowjetgesellschaft bürgerliche Werte wie Menschenwürde, Hilfsbereitschaft und Toleranz keineswegs fremd waren. Zum anderen sind die beiden Dekaden zwischen 1941 und 1964 ein Schwerpunkt der neueren Sowjetunionforschung. Vor allem Elena Zubkova und Amir Weiner haben in ihren vielbeachteten Werken – die Goehrke offensichtlich übersehen hat – nachdrücklich und überzeugend auf die Zentralität der Kriegs- und Nachkriegszeit in der Sowjetgeschichte hingewiesen.2

Keine Erwähnung finden leider auch die Studien von Golfo Alexoupolos, Donald Filtzer, Julie Hessler und Susan Reid, obwohl sie wichtige alltagshistorische Themen behandeln. Bei der Analyse der Breschnjewzeit geht Goehrkes Darstellung über die sowjetische Meinungsforschung der 1960er- und 1970er-Jahre hinweg, obwohl die verfügbaren Umfrageergebnisse aufschlussreiche Einblicke in den sowjetischen Alltag sowie in Denk- und Handlungsweisen geben.3

Trotz dieser Recherchelücken ist anzuerkennen, dass sich Goehrke die Mühe gemacht hat, die weitläufige Forschungslandschaft zu sichten, um neue Trends und Studien bei seinen Überlegungen aufzugreifen. So schenkt er der Frauen-, Kinder- und Familiengeschichte viel Aufmerksamkeit. Auf die in den letzten Jahren entdeckten und ausgewerteten Tagebücher aus der Stalin-Zeit geht er wiederholt sehr ausführlich ein, um mittels interessanter Innenansichten aufschlussreiche Eindrücke von den recht widersprüchlichen individuellen Erfahrungs- und Vorstellungswelten zu vermitteln. Wie in den beiden ersten Bänden macht Goehrke auch diesmal aus seinem Faible für den Wandel der Siedlungslandschaften und Wohnwelten keinen Hehl. Dazu hat er profunde Sachkenntnisse erworben. Sie erlauben dichte Beschreibungen, die seiner Alltagsgeschichte Anschaulichkeit verleihen.

Bei Goehrkes Gewichtung alltagshistorischer Themenfelder fällt auf, dass die neuerdings in ihrer Bedeutung aufgewerteten Aspekte der Sport-, Medien- und Konsumgeschichte zwar nicht ausgespart werden, aber meist nur am Rand Erwähnung finden. Gleichsam kommt die Lagerwelt als Schattenseite der Sowjetzivilisation ein wenig zu kurz. Der Archipel GULag war ein Krebsgeschwür, das dem Gesellschaftskörper erheblichen Schaden zufügte. Wie der Lageralltag in den gewöhnlichen Sowjetalltag hineinreichte und ihn prägte, wäre fraglos ein aufschlussreicher Fragenkomplex gewesen, der mehr Aufmerksamkeit verdient hätte.
Für die nachstalinistische Zeit ist ungenügend beleuchtet, dass die Sowjetunion seit den 1950er-Jahren immer mehr zu einem global player und ihre Hauptstadt zu einer Weltmetropole wurde. Sowjetbürger hatten vielfältige Möglichkeiten, in Kontakt mit Menschen aus dem Westen, dem Ostblock und vor allem auch aus der Dritten Welt zu kommen. Das konnte nicht ohne Wirkung auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie die Alltagsgestaltung bleiben. Zugleich wird der Kalte Krieg als konstitutiver Faktor sowjetischer Kultur- und Gesellschaftsentwicklung kaum ausreichend in die Gesamtbetrachtung einbezogen. Seit den 1950er-Jahren bildete sich auch in der Sowjetunion eine spezifische Cold War Culture heraus, die nicht nur politikbezogene Diskurse und Symbole, sondern auch Ordnungsvorstellungen und Alltagspraxen umfasste.4

Insgesamt scheint mir Goehrke die sowjetische Alltagsgeschichte zu sehr aus sich selbst heraus zu beschreiben. Seine Vergleiche ergehen sich meist darin, mit den althergebrachten Konzepten von Rückständigkeit und Zivilgesellschaft die sowjetische Entwicklung an der westlichen Elle zu messen, um so die längst bekannte These von der sowjetischen Defizitgesellschaft neu zu bestätigen. Dabei bleibt vielfach unbeachtet, dass vieles, was sich in der Sowjetunion beobachten ließ, keine Besonderheiten des Sozialismus, sondern Prozesse waren, die in durchaus ähnlicher Weise in zahlreichen Industriegesellschaften stattfanden. Dazu zählen z.B. das Entstehen von gesichtslosen Trabantenstädten, in denen ein großer Teil der Stadtbewohner konzentriert war, die „Ruralisierung“ der Städte durch ländliche Zuwanderer, der Zerfall traditioneller Strukturen, wachsende Gewaltbereitschaft in Umbruchzeiten. Leider geht Goehrke nicht näher auf die Diskussionen um die Modernität der Sowjetzivilisation ein, in deren Rahmen neue komparative Strategien über den üblichen Ost-West-Vergleich hinaus erprobt werden.5

Das Problem der unzureichenden komparativen Einbindung des sowjetischen Alltags zeigt sich insbesondere in den Schlussfolgerungen. Hier erliegt Goehrke der Gefahr, jahrhunderteübergreifende Kontinuitäten vom russischen Mittelalter bis in die Sowjetzeit zu konstruieren. Die Merkmale der sowjetischen Industriezivilisation werden viel zu einseitig mit der angeblich ungebrochenen Wirkkraft alter Traditionen erklärt. So scheint mir fraglich, ob die städtischen Baukonzepte des 20. Jahrhunderts tatsächlich dem Modell des „eingehegten Bauernhofs“ und der „moskowischen Stadtanlage“ folgten (S. 451). Ob sich die protzigen Villen der neuen Russen wirklich als „eine moderne Variante mittelalterlichen Wohngefühls“ fassen lassen, mag ebenfalls dahin gestellt sein. Zweifellos ist es recht einfach, die bäuerliche Landumverteilungsgemeinde mit ihrer rigiden Sozialkontrolle und ihrem starken Konformitätsdruck zur Grundlage für den gesellschaftlichen Kollektivismus der Sowjetzeit zu erklären. Umso schwieriger ist es aber, diesen Nexus stichhaltig zu belegen.
Während Goehrke anfangs gegen Jörg Baberowskis „eher holzschnittartige Deutung“ polemisiert, den Stalinismus als „letztlich aus der Gewaltkultur des russischen Dorfes hervorgewachsene Gewaltherrschaft“ (S. 21) zu verstehen, macht er später selber nichts anderes, als die Phänomene von Menschenverachtung und Gewalt, welche „die gesamte russische Geschichte in all ihren Sphären und auf allen Ebenen (beherrschten)“ (S. 454), aus der fortgesetzten bäuerlichen Prägung der russischen bzw. sowjetischen Gesellschaft zu erklären.

Aus Goehrkes Sicht hängt die zukünftige Entwicklung darum maßgeblich davon ab, ob „Russland aus diesem Teufelskreis traditioneller, letztlich vormoderner Vorstellungswelten heraus(kommt)“ (S. 455). Angesichts derart starker Thesen stellt sich mit Nachdruck die Frage, was Goehrke in seinem relativ dichotomischen Verständnis eigentlich unter „Moderne“ und „Tradition“ versteht. In seiner Geschichte des Sowjetalltags werden liebgewonnene Stereotypen zu oft festgeschrieben und zu selten hinterfragt.
Mit seinem dreibändigen Standardwerk erhebt Goehrke den Anspruch, ein breites Lesepublikum zu erreichen. Deshalb bemüht er sich, in einem Stil jenseits der akademischen Schwerfälligkeit und des fachspezifischen Jargons zu schreiben. Nach der Lektüre aller drei Bände mit ihren 1.600 Seiten frage ich mich, ob dieses Unterfangen gelungen ist. Den Kapiteln fehlt es doch an der notwendigen essayistischen Leichtigkeit, um die kundigen Leser zu überzeugen und die interessierten Laien zu fesseln. Mit seiner enzyklopädischen Materialfülle stellt dieses Opus magnum des Züricher Emeritus einen weitläufigen Steinbruch dar, der so manchen historiografischen Edelstein birgt. Die Lektüre ist zweifellos gewinnbringend, setzt jedoch eine gewisse Ausdauer voraus.

Anmerkungen:
1 Vgl. zu den ersten beiden Bänden die Rezension bei H-Soz-u-Kult, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-2-063>.
2 Zubkova, Elena, Russia after the War. Hopes, Illusions, and Disappointments, 1945-1957, Armonk/NY 1998; Weiner, Amir, Making Sense of War. The Second World War and the Fate of the Bolshevik Revolution, Princeton 2001.
3 Vgl. Sociologija v SSSR. 2 Bde.; Zemtsov, Ilya, Soviet Sociology. A Study of Lost Illusions in Russia under Soviet Control of Society, Fairfax, Virginia 1985; Rossijskaja sociologija shestidesjatych godov. V vospominanijach I dokumentov, Sankt Peterburg 1999; Gruschin, Boris, Institut obschtschestvennowo mnenija – otdel Komsomolskoj Prawdy, in: Pressa w obschtschestwje (1959-2000). Ozenki shurnalistow i soziologow, Moskwa 2000, S. 46-64; ders., Mnenija o mirje i mir mnenij, Moskwa 1967; ders., Zum Freizeitproblem in der UdSSR, Moskau 1970; ders., Tschetyrje shisni Rossi w serkalje oprosow obschtschestwennowo mnenija, Moskwa 2001.
4 Hixson, Walter L., Parting the Curtain. Propaganda, Culture and the Cold War, London 1997; Reid, Susan, Cold War in the Kitchen. Gender and De-Stalinization of Consumer Taste in the Soviet Union under Khrushchev, in: Slavic Review 61 (2002), S. 211-252; Caute, David, The Dancer Defects. The Struggle for Cultural Supremacy during the Cold War, Oxford 2003; Richmond, Yale, Cultural Exchange and the Cold War. Raising the Iron Curtain, University Park, PA 2003.
5 Vgl. z. B.: Scott, James C., Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven/London 1998; Kotkin, Stephen, Modern Times. The Soviet Union and the Interwar Conjuncture, in: Kritika 2 (2001), S. 111-164; Josephson, Paul, Industrialized Nature. Brute Force Technology and the Transformation of the Natural World, Washington, DC 2002; Hoffmann, David L., Stalinist Values. The Cultural Norms of Soviet Modernity 1917-1941, Ithaca/London 2003; Weiner, Amir (Hg.), Landscaping the Human Garden. Twentieth-Century Population Management in a Comparative Framework, Stanford 2003.

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