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Titel
Dem Schweigen entronnen. Religiöse Zeugnisse von Frauen des 16. bis 19. Jahrhunderts


Herausgeber
Brodbeck, Doris
Erschienen
Anzahl Seiten
328 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Karin Manz, Allgemeine Pädagogik, Pädagogisches Institut der Universität Zürich

Die Aufarbeitung religiöser Bildungs- und Lebensentwürfe von Frauen erlebt in letzter Zeit einen erneuten Aufschwung. Neben der biographischen Erschliessung geht es der historischen Bildungsforschung auch um die Erforschung kommunikativer Praktiken. Hinter dem vorliegenden Gemeinschaftswerk Schweizer Theologinnen steht die Intention, aufzuräumen mit der Vorstellung, „Frauen der Vergangenheit seien eins gewesen“, nämlich „schweigsam, duldsam und gebunden“. Die vermeintlich Stummen der Geschichte sollen sprechen dürfen, denn „Sprechen ist nicht männlich“ (aus dem Vorwort von Ina Praetorius). Vertreterinnen unterschiedlicher Konfessionen und christlich-religiöser Frömmigkeitsbewegungen (1) melden sich zu Wort in der Funktion als Diakonisse, Ordensschwester, Heilsarmeepredigerin, Schriftstellerin oder Frauenrechtskämpferin. Alle Frauen, deren Zeugnisse wir hier vorfinden, haben sich gegen das Paulus-Wort „Die Frauen sollen schweigen in der Gemeinde“ (1. Kor 14,34) aufgelehnt und ihre Glaubensüberzeugungen schriftlich niedergelegt. Es sind eindrückliche Beispiele eigenständiger Denkarbeit entstanden, die gelegentlich sogar in neue theologische Konzepte münden und die weibliche Emanzipation vorantreiben.

Das Buch ist als Lesebuch konzipiert und macht eine Vielfalt an unbekannten Texten Schweizer Autorinnen zugänglich. Die Quellen sind in ihrer Sprache weitgehend unbearbeitet belassen, die französischen Texte zweispaltig mit der deutschen Übersetzung abgedruckt. Von seriöser Forschungsarbeit zeugen die Verweise auf Bibelstellen in den Originaltexten und deren Zusammenstellung im Anhang, die Rückschlüsse auf die Lektüre und Rezeption biblischer Bücher der Autorinnen zulassen. Zahlreiche Abbildungen und Photographien zeigen die Autorinnen oder deren Wirkungsstätten. Nach einer kurzen biographischen Einführung zur jeweiligen Autorin (3-6 Seiten) mit Literaturangaben für weiterführende Lektüre folgen auf durchschnittlich weiteren acht Seiten Ausschnitte aus Briefen, Tagebüchern, Büchern, Veröffentlichungen oder Flugblättern. Die Biographien sind informativ gehalten und vermögen die nachfolgenden Texte zu kontextualisieren.

Dieses Konzept zeigt sogleich Stärken und Schwächen des vorliegenden Werkes auf. Die Sammlung von achtzehn, zum Teil absolut unbekannten Frauen aus vier Jahrhunderten, die sich zu ihrem Glauben, zu Zweifel und persönlichen Fragen äußern, ist beachtenswert und vermag Einblick in einen weiblich geprägten, religiösen „Diskurs“ zu geben. Solchermaßen den Appetit angeregt, werden einem im Folgenden jedoch nur Text-Häppchen serviert. Wer Lust nach mehr Lesestoff verspürt, ist auf die eigene Initiative verwiesen. Die Literaturangaben der Dokumentensammlung verweisen auf schon geleistete Forschungsarbeit, wenn auch zum Teil auf unveröffentlichte Werke wie Lizenziatsarbeiten.

Ausgehend von den jüngsten Autorinnen taucht man rückwärts gerichtet in die Geschichte ein, eine auf den ersten Blick etwas ungewohnte Leserführung. Den Anfang machen Frauen, die für die religiöse Emanzipation der Frau eintreten (S. 18): die Bernburgerin Helene von Mülinen; die Westschweizer Abolitionistin Emilie de Morsier; Catherine Booth-Clibborn, die Tochter des Heilsarmee-Gründers William Booth; die bekannte Schriftstellerin und „Heidi“-Autorin Johanna Spyri-Heusser sowie Stimmen der Luzerner Marienkinder (Auszüge aus den kollektiven Tagebüchern der Vereinigung). Nicht nur die kämpferische Sprache der Heilsarmistin Catherine Booth-Clibborn, auch die Rede der in Paris wirkenden Emilie de Morsier zur Eröffnung eines internationalen Kongresses 1889 in Versailles zeugen davon, dass diese Frauen gewohnt sind, vor Publikum zu sprechen, für ihre Anliegen einzutreten und praktische Lösungen anzustreben. Der persönliche Glaube dient dabei zur Stärkung der eigenen Position. Booth-Clibborn fragt beispielsweise: „Was sind die Bedingungen, unter denen man kämpfen und auch siegen kann?“ (S. 62) und formuliert folgende Prinzipien: klare Vorstellungen von einem Unternehmen haben, Mut, Durchhaltevermögen, Glauben, Zuneigung, Gehorsam und praktisches Geschick.

Der zweite Teil umfasst Texte von Autorinnen, die sich der Armen- und Krankenpflege verpflichten (S. 101): die Vorsteherin des Diakonissenhauses in Riehen bei Basel Trinette Bindschedler; die Menzinger Oberin Sr. Bernarda Heimgartner; Sophie von Wustemberger, die Gründerin des Berner Diakonissenhauses; die russische Baronin Juliane von Krüdener und die Benediktinerin Maria Wiborada Treichlinger. Dass Klosterfrauen und Diakonissen sich pflegerisch betätigen erstaunt nicht, dass sie jedoch eigene Häuser gründen und sich jahrzehntelang bewusst gegen die männliche Führung eines Pfarrers aussprechen wie Trinette Bindschedler schon eher. Diese Frau beeindruckt durch grosses Engagement in der seelsorgerischen Betreuung und Führung ihrer Mitschwestern und kommuniziert ihren Glauben offensiv nach aussen.

Mit „Glaubensentwürfe zwischen Pietismus und Rationalismus“ ist der dritte Teil überschrieben (S. 164). Vorgestellt werden neben der dichtenden Arztfrau und Pfarrerstochter Meta Heusser-Schweizer, Anna Schlatter-Bernet aus St. Gallen und deren enger Kontakt zur katholischen Geistlichkeit; die adlige Hortensia von Salis, Tochter einer der einflussreichsten Familien Graubündens, sowie die Luzerner Ursuline Katharina Schmid, die mit J. C. Lavater korrespondierte. Die Thuner Strumpfweberin Ursula Meyer wirkte im Exil in Frankfurt am Main als schwärmerische Prophetin und auch Marie Huber musste für ihre radikale Kritik an der Genfer Orthodoxie ins Exil nach Lyon ziehen. Pietistische Erbauungszirkel, wie sie von Ursula Meyer besucht wurden, waren schwer kontrollierbar und von der Berner Regierung denn auch als große Gefahr insbesondere für Frauen angesehen. Für einen Menschen von heute ist es schwer nachvollziehbar, wie eine junge ledige Frau Anfang des 18. Jahrhunderts vier Jahre lang als „prophetisches Werkzeug“ einer deutschen, radikal-pietistischen Gemeinschaft auftritt und verschiedene Missionsreisen unternimmt zur Verkündigung der nahenden Endzeit.

Die ältesten Dokumente stammen aus der Reformationszeit (S. 279): Die glaubenstreue Genfer Klarissin Jeanne de Jussie musste ihr Ordensleben im katholischen Frankreich fortführen; gleichsam als ihr Gegenpol kommt die ehemalige Ordensfrau einer Augustinerinnengemeinschaft und nun von der Reformation überzeugte Marie Dentière zur Sprache. Beide Frauen mit beachtlicher Bildung, literarisch aktiv, kommentieren sie die reformatorischen Ereignisse in Genf aus unterschiedlichen Standpunkten. Trotz gegensätzlicher Glaubensüberzeugungen, die sie mit Verve vertreten, sind sie sich einig, wenn es darum geht, die moralische Gleichwertigkeit der Frauen gegenüber den Männern zu verteidigen.

Obwohl die Absicht und Konzeption des Bandes sehr an die Arbeiten der feministischen Theologie der 70er- und 80er-Jahre erinnert (2) und keine provozierende These zur Geschlechtergeschichte vorlegt, ist diese frauenspezifische Quellensammlung zu begrüßen. Die Verfasserinnen, allesamt Schweizer Fachfrauen für Theologie oder Kirchengeschichte aus unterschiedlichen (Forschungs-)Generationen, haben ein abgerundetes Werk vorgelegt, das Interessierten einen ersten Zugang zum religiösen Denken von Schweizer Frauen aus der Zeit von 1500 bis 1900 ermöglicht. (3) Der Verzicht auf einen umfangreichen Anmerkungsapparat macht die Quellensammlung zu einem verständlichen, lustvollen „Lesebuch“, das sich sehr gut für einen breiten Einsatz, z. B. in der Lehre auf sekundärer oder tertiärer Stufe, eignet.

Das Buch habe sein Ziel erreicht, so die Herausgeberin, „wenn die Texte nicht nur als historische Zeugnisse gelesen, sondern auch als Fragen an die heutige Zeit und ihre Religiosität gehört werden“ (S. 11). Dies ist sicherlich gelungen. Der nicht-historisierende Zugang zu den Texten mit dem Fokus auf persönliche Erfahrungen ist v. a. Ausdruck einer theologischen Auseinandersetzung um Glaubensfragen und erlaubt kaum einen Einblick in die Sozialgeschichte von religiösen Frauen.

Ob die publizierten Texte jedoch als „Widerstandstexte“ (S. 11) bezeichnet werden können, lässt sich aus den Texten nicht von selbst erschliessen und bedingte die genaue Kenntnis des theologischen Diskurses der jeweiligen Zeit. Aus der Sicht der Frauen- und Geschlechtergeschichte hingegen fragt man sich ganz grundsätzlich, ob der erneute Verweis auf die weibliche Outsider-Position nicht doch das erfolgreiche Forschungskonstrukt einer bürgerlichen Zwei-Welten-Theorie (männlich-weiblich) fortschreibt. Die Frauen- und Geschlechterforschung hat in den letzten 30 Jahren an vielen historischen Beispielen gezeigt, dass sich Frauen in den verschiedensten Bereichen intellektuell ebenbürtig in den zeitgenössischen (männlichen) Diskurs einschalten vermögen. (4)

(1) Entsprechende Texte jüdischer Frauen in der Schweiz sind gemäss einschlägiger Recherche nicht überliefert.
(2) Beispielsweise: Elisabeth Gössmann: Das wohlgelahrte Frauenzimmer. München 1984. Dies.: Eva: Gottes Meisterwerk. München 1985.
(3) Vgl. die Zusammenstellung von Literatur und Archiven für interkonfessionelle Frauengeschichte innerhalb des Schweizer Raums: www.theologinnen.ch/geschichte.htm
(4) Beispielsweise: Elke Kleinau/Claudia Opitz: Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung. Frankfurt/M. 1996; Georges Duby/Michelle Perrot: Geschichte der Frauen. Frankfurt/M. 1993-1995.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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