F. Fellner: Österreichische Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert

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Titel
Österreichische Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon


Autor(en)
Fellner, Fritz; Corradini, Doris
Reihe
Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 99
Erschienen
Anzahl Seiten
476 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karel Hruza, Mittelalterforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften

Hinter dem Lexikon steht, wie Fritz Fellner in der Einleitung mitteilt, ein ambitionierter Plan: „Die Zielsetzung […] war, ein Lexikon in der Art eines biographisch-bibliographischen Handbuchs zu schaffen: darin sollten nicht nur die wichtigsten Personaldaten verzeichnet sein […], sondern es sollte durch Erfassung der Daten des familiären Hintergrunds, der Ausbildung und des Berufsweges, verbunden mit einer bibliographischen Übersicht über die wissenschaftlichen Leistungen, für jede Person das Skelett einer Gelehrtenbiographie geschaffen werden. Abweichend von den großen biographischen Handbüchern […] verzichteten wir darauf, das lexikalische Material in ausgewählte biographische Essays über die Koryphäen der Geschichtswissenschaft umzusetzen, sondern bemühten uns vielmehr, in unserem Lexikon einen nach formalen Kriterien erfassten, möglichst großen Personenkreis in einem zeitlich klar umrissenen Rahmen mit ihren Lebens- und Werkdaten zusammenzustellen. […] Das Lexikon umfasst ca. 140 Geburtsjahrgänge (von ca. 1830 bis etwa 1970) […]. Wir bemühten uns, alle Historikerinnen und Historiker zu erfassen, die zwischen 1900 und 2000 a) auf dem Gebiet des heutigen Österreich geboren und innerhalb, aber auch außerhalb des Staates in einem weit gefassten Rahmen geschichtswissenschaftlicher Tätigkeit gewirkt haben, b) außerhalb Österreichs geboren, aber innerhalb der Grenzen des heutigen Österreich beruflich tätig waren. […] Als beruflichen Rahmen und Kriterium für die Aufnahme […] legten wir fest: a) Lehr- und Forschungstätigkeit als Dozent oder Professor an einer Universität, b) Anstellung im wissenschaftlichen Dienst an Archiven oder Museen, c) Veröffentlichung von historischen Werken mit wissenschaftlichem Anspruch als freischaffende Schriftsteller oder als Journalisten […].“ Über die eigentlichen historischen Fächer (inkl. Geschichtstheorie und Geschichtsphilosophie, Kunstgeschichte, Rechtsgeschichte, Byzantinistik, Ägyptologie) hinaus wurden zudem historisch arbeitende Vertreter der Soziologie, Politikwissenschaft und Publizistik berücksichtigt, nicht aber Vertreter der Literatur- und Sprachwissenschaften und der Musikgeschichte. All das mündet in Personenartikel mit folgendem Aufbau: 1. Eckdaten (Name, Lebensdaten). 2. Familie. 3. beruflicher Lebensweg. 4. Werkverzeichnis (ausgewählt). 5. Sekundärliteratur.

Ein Novum besteht in der Dateneruierung. Die um das Jahr 2000 in Frage kommenden gegenwärtigen ca. 750 Personen wurden mittels Fragebogen gebeten, ihre „Daten“ den Bearbeitern zuzusenden. 460 Personen haben das in verschiedener Ausführlichkeit getan. Diese Vorgehensweise hat bereits Wolfgang Weber 1984 in seinem „Biographischen Lexikon zur Geschichtswissenschaft“ angedacht 1, als er in seiner Einführung schrieb: „Es ist klar, daß das Interesse an der Historiographie sich aber nicht auf diejenigen rund 710 Gelehrten [seines Lexikons] beschränkt […]. Sollte sich ein entsprechendes Bedürfnis zeigen, könnte daher an eine Erweiterung beispielsweise in Form von Folgebänden gedacht werden, in die nicht nur sämtliche Lehrstuhlinhaber von 1970 bis zur Gegenwart, sondern auch alle übrigen Fachhistoriker bis zum Privatdozenten sowie sonstige Autoren geschichtswissenschaftlicher Werke aufzunehmen wären. Ebenso wäre möglich, stärker auf die Veröffentlichungen der Autoren einzugehen. Beides würde freilich voraussetzen, daß sich die betreffenden Gelehrten zu entsprechender Mitarbeit bereit finden, weil sich das biografische Material bei zeitgenössischen Autoren erfahrungsgemäß nur auf diese Weise vervollständigen läßt.“ Für den von Weber bearbeiteten deutschsprachigen Raum wäre das ein riesiges, wohl unmögliches Unternehmen geworden, das sich im verhältnismäßig kleinen Österreich jedoch realisieren ließ. Ob es allerdings unbedingt nötig ist, die Verweigerer der Fragebogenaktion und die einfach Vergesslichen in einem Namenverzeichnis zu benennen, um sich vor Fragen zu schützen, warum sie denn nicht ins Lexikon aufgenommen wurden, bezweifle ich. Eine kurze erläuternde Bemerkung hätte ausgereicht.

Es handelt sich wie angekündigt um die Präsentation „aller“ Historikerinnen und Historiker, also auch der Nicht-Lehrstuhlinhaber, Nicht-Professoren und Nicht-Habilitierten, deren Arbeitsleistung (trotzdem) fallweise beachtlich war und ist. Aufgenommen wurden 1030 Personen, „von denen ca. 580 im Jahr 2005 bereits verstorben waren“. Aus der großen Datenmasse wird die Forschung alsbald ihre Resultate ziehen können: Das Lexikon ist prädestiniert für eine Auswertung, wie sie zuletzt von Anne Christine Nagel an Wolfgang Webers Lexikon mit Erfolg vorgeführt wurde, und bietet genügend Anreize, etliche Desiderata der österreichischen Forschung zu beseitigen. Dazu gehört die biografisch-werkgeschichtliche Analyse maßgebender Historikerinnen und Historiker über die bisher problematisierten großen Namen Otto Brunner, Theodor Mayer (und andere) hinaus. Hier gibt das Lexikon nur indirekte Fingerzeige, denn es enthält sich jeder Wertung der Personen und ihrer Arbeiten, wie auch politische Mitgliedschaften und Aktivitäten nur selten angeführt werden. So wird der Interessierte selber eruieren müssen, warum etwa eine Karriere 1938 abrupt unterbrochen oder beendet wurde, eine andere dagegen erst begann, oder warum sich etliche Historiker 1945 in Pension begaben oder ihres Amtes „enthoben“ wurden. Hier liegt eben der wesentliche Unterschied zu Lexika mit wertenden Beschreibungen, in denen freilich nicht immer alle „Fakten“ angeführt werden und die schnell an Aktualität verlieren können. 2

Einige (nicht immer überraschende) Beobachtungen sind schon beim ersten Durchblick zu machen: Österreichische Historiker/innen verhielten sich während der zweiten Jahrhunderthälfte verhältnismäßig immobil, nicht selten wurden alle Karriereschritte – vielleicht mit kurzen Unterbrechungen – an einem Ort vollzogen: Schule, Studium, Promotion, Habilitation und weitere Berufslaufbahn. Ebenso konnten Diplomarbeit, Dissertation, Hausarbeit am Institut für Österreichische Geschichtsforschung und Habilitation bei ein und demselben Professor zu beinahe fast ein und demselben Thema stattfinden. Beachtenswert ist gegenwärtig die Anzahl von Historiker/innen, die nicht an einer Universität wirken. Dass der Anteil der Historikerinnen in den letzten Jahrzehnten erheblich anstieg, wird bestens dokumentiert, ebenso die geringe Anzahl an Professorinnen. Und natürlich eröffnet das Lexikon Möglichkeiten für neugierige Blicke: Was man etwa über die Herkunft dieses oder jenes Professors schon immer wissen wollte, kann man finden, wenn er es denn angegeben hat. Und jener teuer „eingekaufte“ Kollege, der so hohe Forderungen gestellt hat, hat so wenig publiziert? Manche gegenwärtige Historiker/innen zeigen sich als eitle Menschen (oder beantworteten eifrig die an sie gestellten Fragen): Die Angaben zur Familie bzw. den Vorfahren sind so ausführlich, als würde gleichsam der Biograf schon vor der Tür stehen.

Was bleibt zu kritisieren? Dass bei der riesigen Menge an verarbeitetem Material Fehler vorkommen und einige Personen durchs Erfassungsraster gerutscht sind, ist nicht zu vermeiden. Bei der jungen Generation könnten etwa die Namen Arno Strohmeyer oder Thomas Ertl genannt werden, bei den älteren etwa der Rechtshistoriker Wilhelm Weizsäcker (1941–1943 in Wien). Dass allerdings die spätestens seit den wegweisenden Studien Peter Schöttlers bekannte Lucie Varga fehlt – sie erscheint nur als Ehefrau Franz Borkenaus mit dem falschen Todesjahr 1961 (richtig 1941) –, ist schmerzlich und hätte bei der Endredaktion doch auffallen müssen. Der berühmt-berüchtigte Taras Borodajkewycz kam 1943 (nicht 1942) an die Deutsche Universität Prag. Bei Otto Brunner sollten bei der Literatur doch die Arbeiten Gadi Algazis angeführt werden 3, und bei Brunners Hauptwerk „Land und Herrschaft“ ist (abgesehen für wissenschaftsgeschichtliche Studien) die 4. Auflage von 1959 maßgeblich, alle späteren Auflagen bzw. Neudrucke sind unverändert. Nicht jede Gewichtung erscheint angemessen: Dass etwa der Artikel zu Heinrich Srbik ausführlicher als der zu Brunner geriet, obwohl letzterer für die Gegenwart sicher der interessantere Historiker ist, wird mit der Vorliebe der Bearbeiter zusammen hängen. Aber das sind Kleinigkeiten im Vergleich zur solide verarbeiteten Materialmenge, und: Auch das Grundlagenmaterial (Nachrufe, Lexikonartikel usw.) ist nicht fehlerfrei, dessen Kontrolle fallweise nicht zu leisten.

Verantwortlich für Konzept und Anlage des Lexikons und die Personenauswahl ist Fritz Fellner (geb. 1922), der durch etliche wissenschaftsgeschichtliche Studien hervorgetreten ist. Dass er als emeritierter Professor über eine Assistentin verfügt, verblüfft zunächst, bis man erfährt, dass diese über eine (Fritz Fellner-)Privatstiftung bezahlt wurde. So ist das Lexikon eine Privatarbeit, die jedoch mit Unterstützung der öffentlichen Hand gedruckt wurde. Die Hauptlast der Arbeit, das Zusammentragen und Verarbeiten der riesigen Materialmenge, hat in bewundernswerter Weise Fellners Assistentin Doris A. Corradini erledigt. Beiden ist zu diesem einzigartigen Lexikon zu gratulieren, denn das ambitionierte Programm ist überzeugend verwirklicht worden. Die Fachwelt bekommt in Zeiten größten wissenschaftsgeschichtlichen Interesses ein wertvolles und sehr hilfreiches Grundlagenwerk in die Hand.

Anmerkungen:
1 Weber, Wolfgang, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Lehrstuhlinhaber für Geschichte von den Anfängen des Faches bis 1970, Frankfurt am Main 1984. Der Aufbau der Artikel ähnelt demjenigen des rezensierten Lexikons.
2 Ich nenne etwa: Bruch, Rüdiger vom; Müller, Rainer A. (Hgg.), Historikerlexikon. Von der Antike bis zur Gegenwart, München 2002.
3 So vor allem: Algazi, Gadi, Otto Brunner – „Konkrete Ordnung“ und Sprache der Zeit, in: Schöttler, Peter (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945, Frankfurt am Main 1997, S. 166-203.

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