N. Freytag u.a. (Hrsg.): Religiöse Ekstase

Titel
Wunderwelten. Religiöse Exstase und Magie in der Moderne


Herausgeber
Freytag, Nils; Sawicki, Diethard
Erschienen
München 2006: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
190 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Flemming Schock, Institut für Europäische Kulturgeschichte, Universität Augsburg

Der Erklärungsbedarf über die Kulturgeschichte reißt nicht ab. Es gehört mittlerweile zum guten Ton und auch zu den Qualitäten kulturgeschichtlich ausgerichteter Studien, das Selbstverständnis innerhalb des geschichtswissenschaftlichen ‚Mainstreams’ zu reflektieren, die eigene Praxis methodisch und perspektivisch offen zu legen und zugleich Historiografiegeschichte zu betreiben. In der Einleitung zum Sammelband „Wunderwelten“ gelingt dies Nils Freytag und Diethard Sawicki kenntnisreich und kompakt. Präzise arbeiten sie das Profil einer für die Komplexität historischer Wirklichkeiten sensibilisierten Kulturgeschichte heraus.

Historische Selbst- und Weltdeutungen scheinen desto fremder, je weiter sie zurück liegen. Deswegen, so Freytag und Sawicki, seien Fragestellungen einer an ‚Alterität’ interessierten Kulturgeschichte bislang eher auf die Frühe Neuzeit angewendet worden. Für das ‚bürgerliche Zeitalter’ wird eine frappierende „Leerstelle“ (S. 12) diagnostiziert. Anknüpfend daran ist es Ziel des Bandes, das Modernisierungsparadigma gegen den Strich zu bürsten und an die Stelle einer „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) das Postulat einer „Verzauberten Moderne“ zu setzen. Ein Signum des ‚bürgerlichen Zeitalters’ sei „das Nebeneinander und Ineinandergreifen vermeintlich vormoderner, magisch-religiöser und scheinbar moderner aufgeklärt-zweckrationaler Weltsichten“ (S. 13f.).

Die Einsicht in die Nichtlinearität des Modernisierungsprozesses soll durch sechs Aufsätze exemplarisch untermauert werden, die insgesamt fünf Forschungsfeldern zugeschrieben werden. Leider sind die Abschnitte nicht mehr in der Gliederung erkenntlich, die zudem die Sequenz der Bereiche aus der Einleitung nicht übernimmt. Zunächst geht es um die Erweiterung der Religions- und Frömmigkeitsgeschichte: „Das erträumte Leben. Traumaufzeichnungen eines Basler Pfarrers aus dem Umfeld der Erweckungsbewegung“ von Lambert Kansky wendet sich der pietistischen Offenheit für übernatürliche Phänomene zu. Zunächst gibt Lambert eine griffige Skizze des erhitzten religiösen Klimas im Basel der 1820er-Jahre und entwickelt die Wandlung des Pfarrers Nikolaus von Brunn von der Position des Aufklärers zu einer „stark endzeitlich geprägten pietistischen Frömmigkeit“ (S. 31). Kansky arbeitet das Konzept der Traumaufzeichnungen Brunns heraus, leider fehlt es durch spärliche Quellenzitate ein wenig an Anschaulichkeit. Insgesamt gefällt die Einbettung des eschatologischen Weltbildes von Brunn in den weiteren theologischen und gesellschaftlichen Rahmen. In ihm habe der Traum ungeachtet einer von Eliten betriebenen „Entzauberung […] in der Aufklärung“ (S. 48) für weite Kreise der Volkskultur seine Funktion als Mittel der Daseinsbewältigung behauptet.

Den zweiten Beitrag aus dem Bereich Religions- und Frömmigkeitsgeschichte liefert die Kirchenhistorikerin Nicole Piersching („Katholische Führungspersönlichkeiten zu Besuch bei der Ekstatikerin Maria von Mörl“). Sie wirft ein neues Licht auf das Phänomen der Wallfahrt im 19. Jahrhundert: Die ekstatische Seherin Maria von Mörl entfachte einen Frömmigkeitskult, der bis in die Reihen des ultramontan gestimmten Führungspersonal des deutschen Katholizismus reichte. So war nicht nur Joseph Görres von ihr angetan. In einem ersten Schritt arbeitet Piersching anhand von Briefzeugnissen das Selbstbild und die spezifische Frömmigkeit Mörls deutlich heraus, was gerade auch durch einen Vergleich mit der weiteren Frömmigkeitspraxis instruktiv gelingt. Darauf folgt ein Panorama der Besucherreaktionen, die gleichermaßen mystizistische Motive wie ‚rational’-wissenschaftliche Erkenntnisinteressen einschlossen. Die (nonverbalen) Zeichen der ekstatischen Maria von Mörl „gewannen […] für den Einzelnen vor dessen Erwartungs- und Wissenshorizont eine Bedeutung, die Impulse für das eigene Leben setzen konnte“ (S. 135). Überzeugend zeigt der Beitrag, wie stark ein verbreiteter Wunderglaube in der Wahrnehmung ekstatischer Jungfrauen als ‚göttliche Kommunikationsmedien’ den konservativen Katholizismus der 1830er-Jahre mitformte.

Bernhard Gissibl beschließt das Feld einer erweiterten Geschichte von Religion und Frömmigkeit. Er stellt das Phänomen der Ekstase auf eine weitere Basis: „Zeichen der Zeit? Wunderheilungen, Visionen und ekstatische Frömmigkeit im bayerischen Vormärz“ zeigt eine überraschende Facette der ‚Biedermeier’-Zeit. Oberbayerische Gemeinden der 1830er- und 1840er-Jahre erwiesen sich als fruchtbarer Boden für „Aber- und Wunderglauben“ (S. 88) der Landbevölkerung. Anhand des Fallbeispiels der Gemeinde Waakirchen zeigt Gissibl, dass wunderbare Begebenheiten, in diesem Fall ekstatische Zustände verschiedener Frauen, „das Resultat einer von priesterlicher Seite geförderten und gesteuerten Mobilisierung weiblicher Frömmigkeit“ (S. 97) sein konnten. Bei der komplexen, sehr quellennahen Argumentation gefällt besonders, wie die schwelenden Konfliktlinien von Staat und Kirche herausarbeitet werden und gezeigt wird, wie Geistliche fähig waren, sich ‚modernes’ naturwissenschaftlich-medizinisches Vokabular (Magnetismus, Somnabulismus) anzueignen, um sich strukturell an die Moderne anzupassen.

Rhody Hayward trägt unter dem Titel „Dämonenlehre, Neurologie und Medizin in Großbritannien um 1900“ zur Erweiterung der Medizingeschichte bei. Zudem ergänzt er im Sinne des Selbstverständnis des Sammelbands die ‚neue Kulturgeschichte’ um ihren transnationalen Blickwinkel. Hayword geht mit der ‚Meistererzählung’ der Psychiatriegeschichte am Beispiel der englischen Situation hart ins Gericht: Auf der Basis einer breiten Literaturkenntnis demonstriert er, wie sich wissenschaftlicher und populärer Diskurs eines gerade innerhalb religiöser Bewegungen (Spiritismus, Pfingstkirchen) verbreiteten Dämonenglaubens gegenseitig anregten. Dämonologen eigneten sich Diskurse aus Psychologie, Neurologe und Epidemologie an und ebenso vice versa: „Der Gedanke einer neuzeitlichen Umsessenheit durch Dämonen wurde von Autoren aus dem medizinischen Bereich untermauert“ (S. 171).

Dass die These von der ‚Verzauberung der Moderne’ unter anderem auch für sozialgeschichtliche Zugänge neue Perspektiven eröffnen kann, zeigt Owen Davies am Beispiel englischer Hexenprozesse („Hexereivorwürfe im England des 19. und 20. Jahrhunderts“). Überraschend ist nicht nur, dass die Verbreitung des Hexenglaubens in der Grafschaft Somerset noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts reich dokumentiert ist. Der eigentliche Clou ist Davies’ bislang kaum berücksichtige Quellengattung, die der „umgekehrten Hexenprozesse“: Vor weltlichen Gerichten traten vermeintliche Hexen als Kläger auf. Die Beklagten stammten fast alle aus der Arbeiterklasse, was Davies anhand einer breiten Quellenbasis illustrativ herausstreicht. Das bedeute jedoch nicht, dass Hexereivorwürfe ein Phänomen allein der sozialen Unterschicht waren, sondern nur, „dass diese eher handgreiflich gegen vermeintliche Hexen vorging“ (S. 150). Davies gibt spannende Einblicke in die Prozesse dörflicher Kommunikation und stellt aufgrund kulturell-sozial determinierter Geschlechtscharaktere die Hexereivorwürfe als „Typus weiblicher Konflikte“ (S. 151) heraus. Die Mikrostudie zeigt zudem, wie sich im Deutungshorizont von Krankheiten der Rekurs auf das vormoderne Hexenmotiv weiter lange hielt.

Der Dynamik der neupietistischen Erweckungsbewegung („Erweckungsbewegung und Rationalismus im vormärzlichen Brandenburg und Preußen“) und ihrer brisanten Folgen für die Politik widmet sich der Beitrag von David Ellis. Ihn ordnen die Herausgeber dem Bereich der „neue[n] Grundeinsichten in den politischen Raum“ an. Präzise beschreibt der Autor Entwicklungslinien, Denkweisen und Ethos einer den Liberalismus bekämpfenden Erweckungsbewegung. Sie habe über soziale Grenzen hinaus eine erhebliche integrative Kraft entfaltet und es schließlich zu „zentrale[r] politischer und kulturelle[r] Bedeutung“ (S. 59) gebracht: Reaktionäre der 48er-Revolution, die Clique um die Gebrüder Gerlach etwa oder später selbst Bismarck, wollen Erweckungserlebnisse gehabt haben. Ellis macht klar, wie die Amtskirche lange Zeit gegenüber den Konventikeln beunruhigte bis ambivalente Positionen einnahm und wie die ‚Erweckten’ ihrerseits Probleme hatten, eine eigene religiöse Sphäre zu etablieren.

Zur Bilanz: Der schmale Sammelband kann seinen Anspruch einlösen. Die Einzelbeiträge setzen die eingangs formulierte Methoden- und Fragenvielfalt beispielhaft um, sie sind zudem überwiegend lebendig geschrieben. Der Band irritiert, weil er vor Augen führt, wie brüchig das Konstrukt der ‚Moderne’ wird, sobald der Blick noch einmal auf die ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen’ geworfen und ‚Meistererzählungen’ aufgelöst werden. Übrig bleiben dissonante Fragmente, die zeigen, auf wie vielen Ebenen gemeinschaftlicher Sinnproduktion transzendenzorientierte Handlungsmuster auch im 19. Jahrhundert weiter maßgeblich waren – ob dies nun für die Mentalität ‚erweckter’ politischer Eliten galt, für eine dämonengläubige Medizin oder ekstasebegeisterte Massen. Insofern trägt das Theorem der ‚Verzauberten Moderne’ als Forschungsperspektive gut. Einziger Kritikpunkt: Die Titelterminologie bleibt erklärungsbedürftig. ‚Magie’ wird nur in einer Fußnote näher bestimmt. Gerade eine nähere theoretische Reflexion des ‚Wunderbaren’ hätte man sich gewünscht.

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