Titel
Berlin Electropolis. Shock, Nerves, and German Modernity


Autor(en)
Killen, Andreas
Erschienen
Anzahl Seiten
277 S.
Preis
$ 49.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karen Nolte, Graduiertenkolleg: "Oeffentlichkeiten und Geschlechterverhaeltnisse. Dimensionen von Erfahrung." der JW-Goerthe Universität in Frankfurt und der Gesamthochschule Universität Kassel

Die Geschichte der Nervosität im Wilhelminischen Deutschland hat in den letzten Jahren besonders viel Interesse in der Geschichtswissenschaft gefunden. Schon in den 1970er-Jahren hat die Schweizer Medizinhistorikerin Esther Fischer-Homberger eine nach wie vor grundlegende Untersuchung zur „traumatischen Neurose“ vorgelegt.1 Die inzwischen zum Klassiker gewordene Studie „Das Zeitalter der Nervosität“ von Joachim Radkau 2, die rund zwanzig Jahre später erschien, hat sich dem Thema Nervosität, Neurasthenie und Nervenkrankheiten erstmals kulturhistorisch genähert. Offenbar war die Nervosität der Deutschen, die immer wieder als Ausdruck der „Fin de Siècle“-Stimmung schlechthin beschrieben wurde, für die Forscher/innen des ebenfalls krisenhaft wahrgenommenen ausgehenden 20. Jahrhunderts ein besonders attraktives Forschungsfeld. Auch Volker Roelcke untersuchte in seiner ein Jahr später erschienenen Studie Nervenkrankheiten unter der Fragestellung „Krankheit und Kulturkritik“ und führte somit medizin- und kulturhistorische Forschungsansätze zusammen.3 Allen drei Studien gemeinsam ist, dass sie Nervosität im Kontext der Industrialisierung, Urbanisierung und der in Folge dieser Entwicklungen von den Zeitgenossen als krisenhaft wahrgenommenen Moderne interpretieren.

Auch der US-amerikanische Kulturhistoriker Andreas Killen wählt diese Perspektive, so dass man zunächst gespannt ist, ob eine weitere Studie über Nervosität noch Neues zutage fördern wird. Killen zentriert seinen Blick auf Berlin, das sich um 1900 zur dynamischsten Metropole Europas und von der „Handwerksstadt“ zur „Electropolis“ entwickelte. Mit der Darstellung dieses historischen Wandels der Hauptstadt des vereinigten Deutschen Reiches und der Analyse der sozialen Kosten dieses Prozesses lässt der Autor sein Buch beginnen. In den folgenden Kapiteln behandelt Killen bekannte Aspekte der Geschichte der Nervosität: Zuerst wird die Geschichte der Elektrotherapie und die Etablierung des Faches Neurologie dargestellt, gefolgt von Überlegungen zu Eisenbahnunfällen, den neuen Möglichkeiten für traumatisierte Arbeiter durch die von Bismarck eingeführten Sozialversicherungen und zu der daraus resultierenden Pathogenese der „Massennervosität“. Im Weiteren analysiert der Autor den Paradigmenwechsel bei Nervenkrankheiten von somatischen zu psychischen Krankheiten im Ersten Weltkrieg anhand der Elektrotherapie. Schließlich endet er mit der Darstellung der nervösen Berufserkrankungen von Telefonistinnen und der Debatte über diese „weibliche“ Variante der „traumatischen Neurose“. Andreas Killen macht keinen Hehl daraus, dass seine Studie dieser größtenteils schon breit erforschten Themen auf sehr guten Untersuchungen basiert. Der Autor ruft die Forschungsergebnisse der schon genannten deutschsprachigen Studien und auch englischsprachigen Arbeiten wie die von Paul Lerner 4 zum Thema auf, bringt die zum Teil recht unterschiedlichen Forschungsperspektiven zusammen und spitzt sie mit Blick auf die Berliner Verhältnisse zu.

Anders als bisher geschehen, nimmt Killen das Verhältnis von Technik, Urbanität und Nervenkrankheit genauer in den Blick. Durch den Fokus auf Berlin kann er zeigen, wie genau dieses Verhältnis von Ärzten einerseits und von Kranken andererseits wahrgenommen wurde. Killen bezieht neben gedruckten Quellen zuweilen archivalisches Material in seine Analysen mit ein – schade, dass er nicht noch mehr Einblicke in die Interaktionen zwischen Ärzten der Berliner Charité respektive den Gutachtern bei Rentenanträgen und Neurastheniekranken gibt.

Die bislang noch nicht gründlich erforschte frühe Phase der Elektrotherapie in den 1870er- und 1880er-Jahren, die von der „Berliner Schule“ maßgeblich vorangetrieben wurde, behandelt Andreas Killen im zweiten Kapitel seines Buches: Hier zeigt er überzeugend, wie Professionalisierungsbestrebungen der Neurologen zum Einen und der Wunsch der bürgerlichen Nervenkranken, von dem Stigma der Geisteskrankheit befreit zu werden, zum Anderen durch die Elektrotherapie befördert wurden. Die Neurologen der „Berliner Schule“ behaupteten, dass die Krankheitsursache der Neurasthenie allein in mikroskopisch feinen Verletzungen von Nerven zu suchen und dieses Leiden somit rein somatischen Ursprungs sei. Diese Krankheit, die als unmittelbare Konsequenz der Lebensbedingungen der Moderne angesehen wurde, sollte auch mit Hilfe modernster Technik therapiert werden. Mit der Elektrotherapie unterstrichen die Neurologen nicht nur den somatischen, sondern auch den modernen Charakter von Neurasthenie und machten sich – eine aufstrebende Gruppe jüdischer Mediziner – selbst zu Experten auf diesem Gebiet.

In seinen Kapiteln über die Nervenkrankheiten „traumatisierter“ Eisenbahnarbeiter und über die Elektrotherapie während des Ersten Weltkriegs spitzt der Autor bekannte Forschungsergebnisse zu und reichert seine Ausführungen mit Fallgeschichten aus dem Archiv der Berliner Charité an. Killen betont, dass mit den Bismarckschen Sozialversicherungen Techniken bereitgestellt wurden, Traumata, Unfälle und Armut, die auf das moderne Leben zurückgeführt wurden, rational zu bewältigen. Er nimmt dabei besonders die Position der Neurologen als gutachtende Experten in den Blick: Nun wurden eben jene Nervenärzte, die vor dem Ersten Weltkrieg durch die Somatisierung Nervenkranke vom Ruf als hysterische Simulanten befreit hatten, zu den Instanzen, die „Kriegshysteriker“ von legitimen Kranken abgrenzten. Das Gerät zur Elektrotherapie wandelte sich zu Simulantentester. Die Situation der traumatisierten Soldaten im Ersten Weltkrieg, die Hintergründe der „Kaufmann-Kur“ sowie die kontroverse Debatte zur Ätiologie von Neurasthenie hat schon Hans-Georg Hofer in seiner vor zwei Jahren erschienenen Studie mit Blick auf die österreichischen Verhältnisse eingehend untersucht.5 Killen konzentriert sich hingegen auf die Auseinandersetzungen über die bzw. mit der Ätiologie der Neurasthenie an der Berliner Charité: Die somatisierende Ätiologie geriet nun auch hier ins Abseits. Die psychologische Deutung der kriegsbedingten Nervenkrankheiten führte jedoch keineswegs dazu, erlittene Traumen behutsam zu therapieren. So wurden die als besonders „harte Fälle“ kategorisierten „Kriegszitterer“ gar mit der Absicht in die psychiatrischen Abteilungen der Charité gebracht, sie – angesichts der Zustände dort – dazu zu bewegen, ihre Symptome „aufzugeben“.

Der Autor arbeitet auch anhand des Umgangs mit nervösen Telefonistinnen, die bei der Arbeit Stromschläge erlitten hatten und dem Stress der Arbeit nicht gewachsen waren, den Wandel der fachlichen und gesellschaftlichen Wertung des Krankseins an der Moderne heraus. Die „Fräuleins vom Amt“ wurden zunächst neben den Eisenbahnarbeitern als die Berufsgruppe anerkannt, die wie keine andere von den „Kosten“ der Technisierung um 1900 betroffen waren. Wie bei den männlichen Nervenkranken wurde in der Krankheitslehre über beruflich bedingte Nervenkrankheiten der „Nervenschock“ nun zum „Nervenschreck“ – das heißt nicht die Nerven waren verletzt, sondern die Psyche hatte Schaden genommen. Die arbeitsbedingte Nervosität wurde nicht mehr als Problem des Modernisierungsprozesses angesehen, welches ein Individuum betraf und durch die Solidargemeinschaft der Versicherten „gelöst“ wurde. Volker Roelcke hat anhand der psychiatrischen Degenerationslehre die These vertreten, dass sich in den 1920er-Jahren ein Wandel von der individuellen zur kollektiven Pathologie vollzogen habe 6. Killen kommt unabhängig davon zu dem Schluss: „Losing its anchorage in the individual body, nervous illness became inscribed in more collective notions of heredity and mass psychology […]” (S. 14). Gleichzeitig betont Killen, dass die Neurasthenie in der Weimarer Zeit zunehmend als Hinweis auf Degeneriertheit pathologisiert wurde und die Verantwortlichkeit für diese Disposition dem Individuum zugewiesen wurde.

Auch wenn den Leser/innen im Buch Andreas Killens viel Bekanntes zur Geschichte der Neurasthenie begegnet, ist es doch lesenswert. Der Autor verortet das viel bearbeitete „Zeitalter der Nervosität“ in Berlin, bringt bisherige Thesen zur Nervosität der Deutschen und zur wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung auf diese Weise gekonnt zusammen und verdichtet sie. Zudem legt der Autor erstmals eine detaillierte Studie zur Geschichte der Elektrotherapie von ihren Anfängen in der 1870er-Jahren bis in die Weimarer Zeit vor, die er eloquent in die Sozial- und Kulturgeschichte der Metropole Berlin einbettet.

Anmerkungen
1 Fischer-Homberger, Esther, Die traumatische Neurose: Vom somatischen zum sozialen Leiden, Bern 1975.
2 Radkau, Joachim, Das Zeitalter der Nervosität: Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998.
3 Roelcke, Volker, Krankheit und Kulturkritik: psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im bürgerlichen Zeitalter (1790–1914), Frankfurt am Main 1999.
4 Lerner, Paul, Hysterical Men, War, Psychiatry, and the Politics of Trauma in Germany 1890-1930, Ithaca/NY 2003.
5 Hofer, Hans-Georg, Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie (1880–1920), Köln, Weimar, Wien 2004.
6 Vgl. Roelcke, Krankheit und Kulturkritik [wie Anm. 3].