F. Meinecke: Akademischer Lehrer und emigrierte Schüler

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Titel
Akademischer Lehrer und emigrierte Schüler. Briefe und Aufzeichnungen 1910-1977. Eingeleitet und bearbeitet von Gerhard A. Ritter


Autor(en)
Meinecke, Friedrich
Reihe
Biographische Quellen zur Zeitgeschichte 23
Erschienen
München 2006: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
514 S., 19 Abb.
Preis
€ 59,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Winfrid Halder, Institut für Geschichte, Technische Universität Dresden

In den letzten Jahren hat die Beschäftigung der deutschen Geschichtswissenschaft mit ihrer eigenen – jüngeren – Vergangenheit besondere Konjunktur. Der Hinweis auf die vielbeachtete Sektion zum Thema „Deutsche Historiker im Nationalsozialismus“ auf dem Frankfurter Historikertag im September 19981, die sich daran anschließenden Debatten nicht zuletzt in der Tagespresse und die Fülle wissenschaftlicher Veröffentlichungen zu diesem Themenfeld mag an dieser Stelle genügen. Vor dem Hintergrund der äußerst kontrovers geführten Auseinandersetzungen um die Rolle auch nach 1945 noch prominenter Fachvertreter, die Deutschland nach der Errichtung der NS-Diktatur nicht verlassen hatten, ist eine spezielle Gruppe von Historikern bislang eher vernachlässigt worden: Es handelt sich um diejenigen Angehörigen der „Zunft“, welche durch das nationalsozialistische Regime zur Emigration gezwungen wurden. Unlängst sind erfreuliche einschlägige Publikationen erschienen2, die das vorhandene Forschungsdefizit aber noch nicht vollständig beheben können. Bezeichnend ist, dass über keinen der wichtigen emigrierten Fachvertreter bislang eine umfassende biografische Studie existiert, während über im Lande gebliebene Kollegen wegweisende Monografien erschienen sind.3 Als Ausnahme ist lediglich Hans Rothfels zu nennen, der im Spektrum der emigrierten Historiker jedoch in mancher Beziehung als Sonderfall zu betrachten ist.4

Somit ist das Erscheinen des vorliegenden, von Gerhard A. Ritter erarbeiteten Bandes uneingeschränkt zu begrüßen – nicht zuletzt deshalb, weil es in letzter Zeit auch um einen so bedeutenden Historiker wie Friedrich Meinecke „sehr still geworden“ ist, wie Ritter in seinem Vorwort zu Recht anmerkt (S. 7). Meinecke, der zeitweilig „im westlichen Ausland als der führende Repräsentant der deutschen Geschichtswissenschaft angesehen wurde“ (ebd.), und seine emigrierten Schüler: Das ist allemal ein lohnendes Thema.

Der Band stellt unter verschiedenen Aspekten eine wesentliche historiografiegeschichtliche Bereicherung dar. Zunächst setzt Ritter in seiner ausführlichen Einleitung (S. 13-111) nach einer Skizze zu Meineckes Werdegang und politischer Orientierung den Akzent auf dessen Wirken als akademischer Lehrer. Ritter hebt dabei als herausragendes Charakteristikum von Meineckes Tätigkeit als Hochschullehrer und insbesondere als Anreger und Betreuer einer Vielzahl wissenschaftlicher Qualifikationsarbeiten hervor, dass dieser als stets gesprächsbereiter, seine eigenen Anschauungen niemals absolut setzender Mentor in der Lage war, Schüler mit ganz unterschiedlicher politischer und wissenschaftlicher Ausrichtung in sein Seminar zu integrieren. Dies ist auch der entscheidende Grund dafür, dass Meinecke keine „Schule“ im engeren Sinne bildete: Er besaß Offenheit und Toleranz genug, um jüngere Nachwuchswissenschaftler eigene Wege gehen zu lassen, wobei diese in Wissenschaft und Politik nicht selten Standpunkte vertraten, die Meinecke selbst keineswegs teilte.

Jenseits des gemeinsamen Lebensschicksals Emigration weisen auch die hier versammelten, mit Meinecke verbundenen Historikerinnen und Historiker (der „Schüler“-Begriff ist weit ausgelegt; so hat Meinecke nicht bei allen berücksichtigten Wissenschaftlern als Doktorvater oder Habilitationsbetreuer fungiert) beinahe mehr Unterschiede denn Gemeinsamkeiten auf. Dies wird nicht zuletzt deutlich in den konzisen Kurzbiografien, die einen großen Teil der Einleitung ausmachen (S. 32-105). Das politische Spektrum reicht hier von dem nationalkonservativen Hans Rothfels bis zum „Linksaußen“ Eckart Kehr. Zwischen diesen beiden Polen bewegen sich gewissermaßen im politischen Sinne Hans Baron, Dietrich Gerhard, Felix Gilbert, Hedwig Hintze, Hajo Holborn, Gerhard Masur, Gustav Mayer, Hanns Günther Reissner, Hans Rosenberg und Helene Wieruszowski. Hinsichtlich der wissenschaftlich-methodischen und thematischen Ausrichtung dieses Kreises ist die Bandbreite kaum geringer: Während etwa Gerhard Masur zeitlebens mit Meineckes geistes- und ideengeschichtlicher Tradition verbunden blieb, wurde Hans Rosenberg zum entscheidenden Impulsgeber für die moderne Sozialgeschichte. Rosenberg hat seine frühzeitig einsetzende wissenschaftliche Distanzierung von Meinecke unzweideutig zum Ausdruck gebracht; so notierte er (um 1948) bezogen auf Meinecke: „[…] he tends to treat the history of ideas in a social & econ.[omic] – & sometimes even pol.[itical] vacuum.“ (S. 388)

Rosenberg war nicht der einzige, der Meineckes Ansatz für zu einseitig hielt und daher nach anderen methodischen Zugängen suchte. Der gerade von dem 1928 promovierten Meinecke-Schüler Rosenberg inspirierte Aufstieg der modernen Sozialgeschichte in der deutschen Geschichtswissenschaft seit den späten 1960er-Jahren hat sicherlich dazu beigetragen, dass die geistesgeschichtlich orientierte Forschung nach Art Meineckes in den Hintergrund getreten ist. Das zeitlebens durch hohe Wertschätzung gekennzeichnete persönliche Verhältnis zwischen Meinecke und Rosenberg blieb davon jedoch unbeschadet; Rosenberg sandte Meinecke nach dem Ende des NS-Regimes aus New York Care-Pakete, die diesem und seiner Frau das Überleben erleichterten. Meinecke wiederum holte Rosenberg als einen seiner Wunschkandidaten 1949/50 auf eine Gastprofessur an der just gegründeten Freien Universität in Berlin. Dort hätte Meinecke Rosenberg auch gerne fest installiert gesehen – dieser blieb jedoch in den USA.

Der inhaltliche Spannungsbogen, den die in dem Band abgedruckten rund 200 Quellen aus unterschiedlichen Archiven umreißen, ist groß. Dokumentiert wird beispielsweise Rothfels’ unverkennbarer Zorn darüber, dass Meinecke Anfang der 1930er-Jahre durchaus nicht bereit war, Rothfels’ politisch grundierten Intentionen im Hinblick auf die 1928 gegründete, für die staatliche Forschungsförderung bedeutsame Historische Reichskommission entgegenzukommen (S. 134ff.) – Meinecke hatte dort den Vorsitz. Aufschlussreich ist auch Meineckes Urteil über Eckart Kehrs Interpretation der Steinschen Reformära in Preußen, in der er ein „Zerrbild“ sah, ohne zu verschweigen, dass er Kehr für einen „sehr begabten Autor“ halte (S. 441). Auch die Tatsache, dass Ritter Dokumente aus einem sehr langen, weit über Meineckes Tod (1954) hinausreichenden Zeitraum ausgewählt hat, macht den Band zu einer historiografiegeschichtlichen Fundgrube ersten Ranges. In den Briefen und anderen Quellen spiegeln sich eben nicht nur die persönlichen Beziehungen der „Schüler“ zum „Lehrer“, sondern auch eine Vielzahl von Hauptthemen und -kontroversen der deutschen Geschichtswissenschaft vom späten Kaiserreich bis zur Bundesrepublik der 1970er-Jahre. Darüber hinaus trägt der Band auch manches zum in jüngerer Zeit viel diskutierten Thema der „Amerikanisierung“ (West-)Deutschlands bei, denn die große Mehrzahl der emigrierten Meinecke-Schüler wandte sich in die USA, und einige von ihnen waren nach 1945 wichtige Mittler zwischen deutscher und amerikanischer Geschichtswissenschaft (so etwa Dietrich Gerhard, Hajo Holborn und natürlich auch Hans Rosenberg).

Der inhalts- und facettenreiche Band wird in Zukunft nicht allein für die historiografiegeschichtliche Forschung ein unverzichtbares Hilfsmittel sein. Zugleich dürfte er, so ist jedenfalls zu hoffen, für die weitere Auseinandersetzung mit emigrierten deutschen Historikerinnen und Historikern einen wichtigen Impuls geben.

Anmerkungen:
1 Schulze, Winfried; Oexle, Otto Gerhard (Hgg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, 4. Aufl. Frankfurt am Main 2000.
2 Keßler, Mario (Hg.), Deutsche Historiker im Exil (1933–1945). Ausgewählte Studien, Berlin 2005; Eakin-Thimme, Gabriela, Geschichte im Exil. Deutschsprachige Historiker nach 1933, München 2005.
3 Vgl. insbesondere: Cornelißen, Christoph, Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001; Etzemüller, Thomas, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001; Nordalm, Jens, Historismus und moderne Welt. Erich Marcks (1861–1938) in der deutschen Geschichtswissenschaft, Berlin 2003, und zuletzt Mühle, Eduard, Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung, Düsseldorf 2005.
4 Aus der Fülle der einschlägigen Publikationen sei hier nur verwiesen auf Borgmann, Karsten (Hg.), Hans Rothfels und die Zeitgeschichte, Historisches Forum 1/2004, online unter URL: <http://edoc.hu-berlin.de/e_histfor/1>; Hürter, Johannes; Woller, Hans (Hgg.), Hans Rothfels und die deutsche Zeitgeschichte, München 2005; Eckel, Jan, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie, Göttingen 2005.

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