F. Backhaus u.a. (Hrsg.): Die Frankfurter Judengasse

Titel
Die Frankfurter Judengasse. Jüdisches Leben in der Neuzeit


Herausgeber
Backhaus, Fritz; Engel, Gisela; Liberles, Robert; Schlüter, Margarete
Reihe
Schriftenreihe des Jüdischen Museums Frankfurt am Main 9
Erschienen
Frankfurt am Main 2006: Societäts Verlag
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christine Magin, Arbeitsstelle Inschriften, Historisches Institut, Universität Greifswald

Die 19 Beiträge dieses Sammelbandes gehen auf Vorträge einer im Jahr 2004 in Frankfurt veranstalteten Tagung zurück. In der Einleitung (S. 9-12) formulieren die Herausgeber/innen den erstaunlichen Befund, dass trotz der überragenden wirtschaftlichen, demografischen, kulturellen und religiösen Bedeutung der Frankfurter Gemeinde in der Frühen Neuzeit – nach Prag die größte Judengemeinde im alten Reich – die Forschung zur voremanzipatorischen Zeit seit den 1930er-Jahren kaum vorangekommen ist. Das Erkenntnisinteresse dieses Bandes ist es daher, vor dem Hintergrund des sich allgemein verstärkenden Interesses an der Geschichte der Frühen Neuzeit verschiedene Aspekte jüdischen Lebens im Frankfurter Ghetto, in dem die Juden von 1462 bis 1796 zwangsweise siedelten, zu beleuchten.

Der einführende Beitrag von Benjamin Ravid (S. 13-30) bietet einen umfassenden Überblick über die historische Entwicklung von separaten, aus Eigeninteresse eingerichteten jüdischen Wohnvierteln hin zum zwangsweise bezogenen Ghetto. Die folgenden, in aller Regel wohltuend prägnanten Studien sind sechs Themenbereichen zugeordnet: Geschichtsschreibung und Sachüberreste, Ethnografie, politische und soziale Strukturen, Juden vor Gericht, Christlich-jüdische Beziehungen, Liturgie und Brauchtum.

Christhard Hoffmann (S. 33-51) befasst sich mit der Wahrnehmung und Deutung des Ghettos in Wort und Bild durch die deutsch-jüdische Geschichtskultur und Historiografie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die zwischen einer romantisierenden Verklärung der Vergangenheit und ihrer von Emanzipationsbestrebungen getragenen Ablehnung einzuordnen ist. Annette Weber (S. 52-63) untersucht die Selbstwahrnehmung der Frankfurter Juden vor der Emanzipation, zunächst anhand der ‚Bilder aus dem altjüdischen Familienleben’ von Moritz Daniel Oppenheim (entstanden seit 1866). Diese geben vor, authentische Lebenswirklichkeit abzubilden, zeigen aber alte Lebenstraditionen und sind daher als Medien der historisierenden Selbstvergewisserung zu charakterisieren. Frankfurter Kultgerät und Kleidung des 18. Jahrhunderts kamen in absichtlich altmodischen und traditionsgebundenen Formen daher, die aus einem auf dem hohen Alter der Gemeinde beruhenden, elitären Selbstbewusstsein der Juden resultierten.

Drei Beiträge widmen sich dem als historische Quelle einzigartigen und vielfach konsultierten, aber in seiner Zeitgebundenheit bisher nicht untersuchten Werk des lutherischen Gelehrten Johann Jacob Schudt. Seine umfassende, 1714-1718 erschienene Studie ‚Jüdische Merckwürdigkeiten’ zu Geschichte, Kultur, Ritus und Sprache vor allem der Frankfurter Juden wird nach einem von Yaacov Deutsch (S. 67-76) verfassten inhaltlichen Überblick von Maria Diemling (S. 77-89) im Hinblick auf die Wahrnehmung des jüdischen Körpers sowie von Aya Lahav-Elyada (S. 90-99) hinsichtlich der Aussagen über die als defizitär beschriebene hebräische und jiddische Sprache untersucht. Schudts Positionen einerseits als Beobachter mit wissenschaftlich-antiquarischem Interesse und andererseits als Christ, der letztlich eine Bekehrung der Juden anstrebte, sowie schließlich als Lutheraner, der sich als Teil des neuen ‚verus Israel’ verstand, werden dabei überzeugend herausgearbeitet.

Fritz Backhaus (S. 103-117) befasst sich mit der in drei Schüben erfolgenden Bevölkerungsexplosion des 16. Jahrhunderts, die durch den Erfolg der Frankfurter Messe sowie die Ansiedlungspolitik des Stadtrates hervorgerufen wurde und den Juden Verdienstmöglichkeiten im Kreditwesen sowie im Geld- und Warenhandel bot. Diese günstigen Existenzbedingungen in einem politischen, ökonomischen und kulturellen Zentrum führten laut Rotraud Ries (S. 118-130) dazu, dass die Frankfurter jüdische Oberschicht vergleichsweise ortsverhaftet und in sich geschlossen blieb: „Sie konnten sich aus ihrer Sicht nicht verbessern“ (S. 129). Melanie Aspey (S. 131-142) belegt anhand neuer Dokumente aus dem Archiv der Familie Rothschild, wie deren Mitglieder ihre Bindung an das Frankfurter Stammhaus des 1812 gestorbenen Mayer Amschel Rothschild pflegten. Zahlreiche der insgesamt 20.000 Briefe vor allem seiner fünf Söhne belegen, dass etwa dem Kauf eines Gartens (dem das traditionelle Verbot des Landbesitzes entgegenstand) durch Amschel Rothschild 1816 oder der Verleihung der Wiener Ehrenbürgerschaft 1843 an Salomon Rothschild große Bedeutung für die gesamte jüdische Gemeinschaft beigemessen wurden.

Gundula Grebner (S. 145-160) legt rechtspraktische Aspekte der Judeneide dar, die in Frankfurt sowohl im Rahmen von Gerichtsverfahren als auch bei anstehender Aufnahme in die ‚Stättigkeit’ und für die Besteuerung geleistet wurden. Sie bemüht sich um eine Klassifizierung der Formeln und Vorschriften nach Anwendungszusammenhängen, die über die traditionellen Bestimmungen ‚judenfreundlich’ bzw. ‚judenfeindlich’ hinausgeht. Birgit E. Klein (S. 161-170) stellt Vorgeschichte, Verordnungen und Folgen der Frankfurter Rabbinerversammlung von 1603 vor, die eine Justizverfassung für die deutschen Gemeinden beschloss. Der Kontext landesherrlicher Jurisdiktionsansprüche, der Konkurrenz der Frankfurter und Prager Gemeinden um die Vorrangstellung im Reich und des gegen die Juden angestrengten, existenzbedrohenden Hochverratsprozesses ist jetzt ausführlicher in Kleins 2003 publizierter Habilitationsschrift nachzulesen.1 Mit Juden vor reichsstädtischen Gerichtsinstanzen (Rechneiamt, bei Audienzen des jüngeren Bürgermeisters und vor dem jüdischen Bet Din) befasst sich Gabriela Schlick (S. 171-185). Streitgegenstände waren der Handel mit Lotterielosen, Wechsel und Schulden sowie innerjüdische Sachverhalte. Anstelle von Analysen bietet sie leider häufig nur Nacherzählungen der Vorgänge, die im Hinblick darauf, ob es sich um typische und repräsentative oder eher ungewöhnliche Fälle handelt, nicht weiter hinterfragt werden.

Klaus Wolf (S. 189-199) untersucht die Frankfurter stadtbürgerlichen Spiele des 15. und 16. Jahrhunderts, die ‚Dirigierrolle’ des Bartholomäusstifts und das darauf aufbauende, unter Aufsicht des Rates inszenierte Passionsspiel. Die antijüdischen Elemente dieser Spiele beruhten auf biblischen und apokryphen Texten, die wegen ihres judenfeindlichen Potenzials ausgewählt und kreativ in die Handlung eingebaut wurden. Die Spiele werden von Wolf als Identifikationsangebot und integrierendes Element für die städtische Mehrheitsgesellschaft gedeutet. Wolfgang Treue (S. 200-212) arbeitet anhand einer Gegenüberstellung der Ratsoligarchie und des jüdischen Gemeindevorstands die teilweise vergleichbaren, weil auf Machterhalt und Konsolidierung zielenden Interessen beider Herrschaftseliten heraus. Die besonderen Rechtsverhältnisse der Juden führten immer wieder dazu, dass es zu prekären Situationen kam, in denen ein (opponierender) Teil der jüdischen Gemeinde, unterstützt vom Kaiser, gegen den herrschenden Gemeindevorstand und den städtischen Rat Partei ergriff. Stephan Wendehorst (S. 213-235) sieht in dem zu Beginn des 18. Jahrhunderts wiederbelebten Kaiserhuldigungs-Ritual der Frankfurter Juden eine bedeutende Quelle für Erkenntnisse nicht nur im Hinblick auf den kaisernahen Status der (ortsansässigen) Juden, sondern auch auf die politischen und verfassungsrechtlichen Verhältnisse im Reich allgemein. Ob diesem Phänomen wirklich die vom Autor behauptete außergewöhnliche Bedeutung zukommt, ob nicht vielmehr die territoriale Herrschaftspraxis maßgeblich für die jüdische Existenz war, wird weiter zu diskutieren sein. Robert Liberles gewährt in einer kurzweiligen kulturgeschichtlichen Studie (S. 236-248) Einblicke in ein Forschungsprojekt über Juden, Kaffee und Kaffeehandel im 18. Jahrhundert. Auf der Basis der Autobiographie des ebenso körperbewussten wie dem Kaffee zugeneigten Rabbiners Jakob (ben Zwi) Emden, gest. 1776, werden sowohl halachische (Segenssprüche, Sabbat- und Pessachregeln, Besuch christlicher Kaffeehäuser) als auch wirtschaftliche und alltagspraktische Konsequenzen der „Ankunft des Kaffees“ (S. 239) dargelegt.

In dem von Rivka B. Kern Ulmer (S. 251-265) untersuchten ‚Vinzhans-Lied’ (‚Megillas Vintz’) verarbeiteten die Frankfurter Juden Ereignisse um den sog. Fettmilch-Aufstand (1614-1616), der zu ihrer vorübergehenden Vertreibung aus der Judengasse geführt hatte. In einer Verbindung von traditioneller sakraler Poesie und volkstümlichen Elementen versucht der Text, die verstörenden aktuellen Ereignisse durch eine Einbettung in die biblische Geschichte zu verarbeiten. Das mit Psalmenzitaten und subtilen intertextuellen und historischen Anspielungen durchsetzte Werk wurde bis ins späte 19. Jahrhundert im Ganzen rezitiert. Geoffrey Goldberg (S. 266-276) untersucht in seiner musikhistorischen Studie den geradezu pedantisch geregelten liturgisch-musikalischen Frankfurter Brauch (‚Minhag’) für das Jahr 1818/1819, der 1862 durch Abraham Geiger unter dem Titel ‚Sefer Divrey Kehillot’ publiziert wurde. Liturgische Veränderungen deutete Geiger als Verfall der ehrwürdigen Traditionen, denen höchste Autorität zukomme. Rachel L. Greenblatt (S. 277-288) beschreibt in einem Beitrag, der zwar Prager Verhältnisse thematisiert, aber die Studie von Kern Ulmer sinnvoll ergänzt, wie auch in Prag Liturgie und lokale Geschichte zusammenwirkten. Drei spezifische Bußgebete (Selichot), verfasst u. a. von dem berühmten Rabbiner Yom Tov Lipmann Heller, wurden an einem lokalen Gedenktag gesprochen und erinnerten daran, dass nach dem Prager Fenstersturz (1618) die pro-habsburgischen Juden der Stadt befürchten mussten, zwischen die böhmisch-protestantischen und habsburgischen Fronten zu geraten.

Nahezu alle Beiträge des Sammelbandes thematisieren die ungewöhnliche Situation der Frankfurter jüdischen Gemeinde, sowohl im Hinblick auf ihre führende Rolle im Reich als auch hinsichtlich der ungewöhnlich zahlreichen, ausführlichen und vielfältigen Quellen aus der Feder jüdischer und christlicher Autoren. Das exklusive Selbstverständnis und das besondere kulturelle Gedächtnis der Frankfurter Juden werden so wieder und wieder deutlich. Besonders interessant sind diejenigen Beiträge, in denen neue Quellen zugänglich gemacht werden oder die sich mit der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Juden befassen. In redaktioneller Sicht hätte der Band von größerer Sorgfalt profitiert. Sehr unangenehm fällt der falsch geschriebene Vorname der Mitherausgeberin „Magarete“ (!) Schlüter auf dem Buchdeckel und in der Titelei auf. Alle Fußnoten finden sich am Ende des Bandes (wobei diejenigen zum Beitrag von Klein falsch eingefügt wurden). Hier hätten Kolumnentitel das störende Hin- und Herblättern wesentlich erleichtert. Schließlich verfügt der Band über keinerlei Register. Formale Mängel wie Tipp-, Interpunktions- und Syntaxfehler (vgl. etwa den letzten, unverständlichen Satz S. 265) finden sich in etwas zu großer Zahl, in den übersetzten Beiträgen stolpert man gelegentlich über Holprigkeiten und inadäquate Formulierungen (S. 91 ist von einem diphtongum, also Diphthong, die Rede, S. 360 vom christlichen Hebraismus – gemeint ist sicherlich die Hebraistik). Versöhnlich stimmt jedoch der geringe Preis dieses insgesamt anregenden und weiterführenden Sammelbandes.

Anmerkungen:
1 Klein, Birgit E., Wohltat und Hochverrat. Kurfürst Ernst von Köln, Juda bar Chajjim und die Juden im Alten Reich, Hildesheim 2003.

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