Titel
'Eine Hand voll Zukunft ...'. Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten in Bremerhaven 1955-2005


Autor(en)
Hergesell, Burkhard
Erschienen
Bremen 2005: Hauschild Verlag
Anzahl Seiten
152 S., 88 s/w Abb.
Preis
€ 24,50
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Annemarie Gronover, Institut für Ethnologie, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Burkhard Hergesell dokumentiert in „‚Eine Hand voll Zukunft…‘. Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten in Bremerhaven 1955-2005“ anhand der Lebensbiografien von sieben Frauen und acht Männern beispielhaft die Geschichte der ersten Generation der Wanderarbeiter/innen und ihrer Kinder in Bremerhaven. Das Buch will eine Lücke in der Stadtgeschichtsforschung schließen und „jene Bremerhavenerinnen und Bremerhavener zu Wort kommen [...] lassen, die ansonsten immer noch auch in der stadthistorischen Forschung und in der musealen Stadtgeschichtsdarstellung nicht vorkommen“ (S. 19). Der Autor liefert eine differenzierte Kulturgeschichte der Arbeitsmigration nach und in Bremerhaven, die von der Debatte über Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, von Solidarität und Freundschaft zwischen Deutschen und Arbeitsmigrant/innen sowie von deren Arbeitswelten erzählt. Auch wenn Hergesell theoretische Konzepte der Migrationsforschung einfließen lässt, dominieren die Lebenserzählungen seine Darstellung. In seinem „Mix in der Methode“ (S. 20) bildet die Oral History die Grundlage, ohne dass sie als „das alleinige Allheilmittel“ (ebd.) angepriesen wird, vielmehr nutzt der Autor neben qualitativen Interviews auch die lokale Presse, Stadtstudien und statistische Daten als Quellen. Hergesell zeigt sich sensibel und respektvoll im Umgang mit seinen Informant/innen und gab diesen die Texte zur Korrektur. Insgesamt gelang es dem Autoren hervorragend, die 50-jährige bundesdeutsche Geschichte der Arbeitsmigration am Beispiel Bremerhavens so zu präsentieren, dass die statistischen, wirtschaftlichen und politischen Fakten durch die Lebensbiografien der Migrant/innen ein lebendiges Gesicht bekommen. Über 80 Bilder, Portraitaufnahmen der Fotojournalistin Mareike Schreuder, die die Informant/innen in ihrer Freizeit, mit ihren Familien oder am Arbeitsplatz ablichtete, sowie Bilder aus Familienalben veranschaulichen das Gesagte.

Hergesell wählte nur solche Interviewpartner/innen, die auf Grund von Arbeitsangeboten nach Bremerhaven kamen; sie stammen aus der Türkei, dem früheren Jugoslawien, Portugal, Spanien und Italien. „Eine Hand voll Zukunft“ bewegt sich auf den Wanderwegen zwischen den Welten des Herkunftslandes und Deutschlands und berichtet von der Anwerbung, der Reise nach Deutschland, den Hoffnungen, Ängsten, Enttäuschungen, von den Arbeitswelten in der Fremde und vor allem von den Strategien, die die Zeitzeug/innen entwickelten, um in Bremerhaven ihr Leben einzurichten.

Im ersten Kapitel mit dem Titel „50 Jahre Arbeitsmigration in Bremerhaven“ stellt Hergesell die Geschichte der Einwanderung nach Bremerhaven dar, die er in die bundesdeutsche An- und Abwerbepolitik von Arbeitsmigrant/innen einbettet. Von 1955, dem ersten bilateralen Abkommen mit Italien, bis zum Anwerbestopp von 1973 schildert er die Rahmenbedingungen der Arbeitsmigration und arbeitet dabei die Spezifik der Bremerhavener Situation heraus. Hier stieg schon früher als im übrigen Deutschland die Arbeitslosenrate, gleichzeitig reisten Familienangehörige weiterhin nach Bremerhaven ein. Wachsende Ausländerfeindlichkeit war eine Reaktion der Bevölkerung hierauf und die „Politik der Vertreibung“ (S. 16) eine politische. Auch in Bremerhaven wurde die Rückkehrbereitschaft durch Heimreiseprämien unterstützt. Gleichzeitig proklamierte die Lokalpolitik „‚die Integration der hier heimisch gewordenen Ausländer‘ unter Erhalt deren eigener Kultur, also ohne Forderungen zur Aufgabe deren eigener Kultur zu stellen“ (S. 17). Seit den 1990er-Jahren ist die Politik nun auf die Integration der Arbeitsmigrant/innen ausgerichtet. Pädagogische und kulturelle Einrichtungen starteten Initiativen wie zum Beispiel Alphabetisierungs- und Sprachkurse, Übersetzungsservices und Rechtsberatungen, organisierten interkulturelle Wochen und zweisprachige Förderkurse für Kinder und riefen die Sozialeinrichtung „Die Wohnung“ ins Leben, um Bürger/innen – Einheimische und Migrant/innen – für Rassismus und Diskriminierung zu sensibilisieren und ein zivilgesellschaftliches Miteinander zu fördern.

Im Anschluss an diesen Überblick über die Geschichte der Arbeitsmigration erläutert Hergesell sein theoretisches Gerüst und verortet seine Darstellung in der Migrationsforschung. Hier behandelt er knapp Begriffe wie kulturelle Identität oder Heimat und streift die Thesen der migrations- und kulturwissenschaftlichen Forschung. Den Hauptteil des Buches bilden jedoch die „Gespräche“ selbst. Dabei werden zunächst die vielfältigen Beweggründe für die Emigration nach Deutschland sowie die Erfahrungen mit der Anwerbung und bei der Ankunft in Bremerhaven sichtbar. Hergesell ist feinfühlig genug, um die Erzählungen, in denen die ersten Eindrücke von Deutschland oft drastisch deutlich werden, für sich sprechen zu lassen.

Im weiteren Verlauf werden die – oft unmenschlichen – Wohn- und Arbeitsbedingungen in den ersten Jahren thematisiert. Deutlich wird, wie schwer es für die Arbeiter/innen war, sich Ansehen zu verschaffen – obwohl sie oft für denselben Lohn mehr und härter arbeiten mussten als ihre deutschen Kolleg/innen. Der Grad der Integration wird dabei subjektiv erlebt: Während einige auf Grund ihrer Leistung und durch entstehende Freundschaften mit Deutschen kaum Probleme am Arbeitsplatz hatten, sagte ein Deutscher türkischer Herkunft, „man kann machen, was man will, man wird blöd angemacht“ (S. 133). Hergesell betont, dass auch die Wohnlage Einfluss auf den Grad gesellschaftlicher Teilhabe hat: Das Leben in städtischen Quartieren mit hohen Ausländeranteil gestaltet sich anders als das Wohnen in einem eigenen Haus in einem von überwiegend Deutschen bewohnten Viertel.

Besonders beeindruckend an Hergesells Darstellung ist die Anordnung der Lebensbiografien. Der Autor profiliert unterschiedliche Charaktere, die dem Buch nicht nur aufgrund der verschiedenen Nationalitäten und ihrem jeweiligen Blick auf Deutschland Dynamik verleihen. Ferner spiegelt der Autor häufig das Gesagte in Berichten Dritter. So werden beispielweise die Erzählungen einer türkischen und einer spanischen Mutter durch die Biografie ihrer Töchter kommentiert. Das Interview mit einem Anwerber der Firma NORDSEE bietet gleichsam eine Folie, auf der die Erfahrungsberichte der Angeworbenen sich entfalten können, und rückt das deutsche, wirtschaftliche Interesse an den Migrant/innen ins Blickfeld. Ebenso perspektivisch wie geschickt führt Hergesell die Leser/innen von der ersten Generation zur zweiten und lässt über deren Berichte das Entstehen hybrider Kulturen sichtbar werden, in denen die Koexistenz von Weihnachten, Nikolaus, Ramadan, Beschneidungsfesten und Moschebesuchen keinen Widerspruch bildet.

Die Migrationsgeschichten sind bewegende Geschichten über die Erfahrungen, in ihnen werden aber auch unterschiedliche Hoffnungen und Wünsche für die Zukunft sichtbar. So haben einige der Erzähler in der ehemaligen Heimat ein großes und wunderschön eingerichtetes Haus, in das sie wegen der Familie in Deutschland nicht zurückkehren; eine aus dem ehemaligen Jugoslawien stammende Migrantin wäre nie nach Deutschland gekommen, wenn sie gewusst hätte, was sie erwartet, und will nun nach Serbien zurückkehren; ein dritter Erzähler meint zwar, dass seine Heimat überall sei, möchte aber in spanischer Erde beerdigt werden, weil es ihm in Deutschland zu nass ist.

Die Arbeitsmigrant/innen machen Bremerhaven zu einem multikulturellen Ort: Hier wohnen sie als Europäer, Türken, Spanier, Jugoslawen, Italiener, Portugiesen und Deutsche. In Hergesells Darstellung treten Frauen wie Männer aktiv in Erscheinung, bekommen eine Stimme und berühren die Leser/innen mit ihrer manchmal erschreckenden Offenheit. Sie bieten eine Innenansicht auf die deutsche Kultur, die ohne diese Erzählungen verborgen geblieben wäre. „Eine Hand voll Zukunft…“ ist ein Bericht über gelebte Leben in der Hoffnung, in Deutschland eine Zukunft zu haben, und über die Hoffnung, dass Migrant/innen und Deutsche gemeinsam eine zivilgesellschaftliche Kultur entstehen lassen können. Hergesell macht deutlich, dass Migrant/innen nicht zwischen zwei Kulturen stehen (S. 24), sondern vielmehr sich mit ihren biografischen Erfahrungen an ihrem Ort einrichten. Vor dem Hintergrund der Migrationsforschung ist so ein lebendiger Ausschnitt aus der Bremerhavener Stadtgeschichte entstanden, die einem breiten Publikum zur Lektüre zu empfehlen ist.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension