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Titel
Fin de Siècle Beirut. The Making of an Ottoman Provincial Capital


Autor(en)
Hanssen, Jens
Reihe
Oxford Historical Monographs
Erschienen
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
$ 100.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johann Büssow, Institut für Islamwissenschaft, Freie Universität Berlin

Gerade auf dem Feld der außereuropäischen Geschichte ist es nicht selbstverständlich, dass die Projekte einzelner Historiker/innen im Rahmen einer intensiven Forschungsdiskussion entstehen. Jens Hanssens Studie zur Entwicklung der Stadt Beirut von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs ordnet sich in einen solchen größeren Zusammenhang ein. Dieser wird gebildet durch eine große Anzahl von seit den 1980er-Jahren erschienenen historischen Studien zu Handels- und Hafenstädten des östlichen Mittelmeers im 19. und 20. Jahrhundert. Von Anfang an hatten viele dieser Arbeiten einen mehr oder minder starken Aktualitätsbezug: zuerst, indem sie die historische Situation um die Wende zum 20. Jahrhundert als Alternative zur Realität einer von nationalen Grenzen geteilten Region ins Bewusstsein brachten, dann, indem sie diese – parallel zu der in den Sozial- und Geisteswissenschaften zunehmenden Beschäftigung mit Globalisierungsprozessen – als lehrreiche historische Analogie zur „neuen Unübersichtlichkeit“ in den multikulturellen Großstädten der Gegenwart erschlossen.1

Jens Hanssen, der an der Universität Toronto das Fach „Middle Eastern and Mediterranean History“ vertritt, hat bereits durch eine Reihe von Veröffentlichungen in diesem Forschungsfeld eigene Akzente gesetzt, die er in der nun vorliegenden überarbeiteten Fassung seiner Dissertation zu einer neuen Synthese vereint hat.2 Wie schon der Untertitel „The Making of an Ottoman Provincial Capital“ andeutet, misst er den seit der Zeit der Tanzimat-Reformen (1839-1876) stetig ausgebauten politischen Strukturen des Osmanischen Reiches ein besonderes Gewicht bei. Hanssen zeigt überzeugend, wie die Entwicklung von Beirut seit 1888 maßgeblich vom Status der Stadt als Hauptstadt einer neu geschaffenen osmanischen Provinz geprägt war (osman.-türk. Beyrut vilayeti, arab. meist mutasarrifiyyat Bayrut). Anhand von Quellen aus dem Osmanischen Staatsarchiv kann er zudem belegen, dass über die Einrichtung und die Grenzen dieser Provinz keineswegs allein in Istanbul entschieden wurde, sondern dass sie zu großen Teilen der Initiative einer breiten Elitenkoalition aus lokalen Notabeln, Händlern und Intellektuellen zu verdanken war, die dabei in scharfer Konkurrenz zu den Bürgern im benachbarten Damaskus agierten. Zum ersten Mal wird deutlich, dass die Einrichtung der Provinz Beirut das Ergebnis eines langen Konkurrenzkampfes war, in dem die aufstrebende Hafenstadt als Siegerin über das traditionelle Machtzentrum Damaskus hervorging. Diese Beiruter Elitenkoalition hatte weit über 1888 hinaus Bestand: Dieselben Familien, die für die Einrichtung einer „eigenen“ Provinz gekämpft hatten, bestimmten das Geschäftsleben und die Lokalpolitik der Stadt bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, wie Hanssen anhand einer reichhaltigen prosopografischen Datenbasis belegen kann (S. 145-162). Im Verein mit der Zentralregierung sorgten sie zudem dafür, dass der Einfluss der in anderen levantinischen Hafenstädten so mächtigen europäischen Kaufleute und Konsuln weitgehend eingedämmt blieb. Es bestand also eine weit reichende Interessenkongruenz zwischen den lokalen Eliten und der osmanischen Reichsregierung, die von Hanssen treffend als „dominant aber nicht hegemonial“ charakterisiert wird (S. 265). Das Beirut vor dem Ersten Weltkrieg ist somit keinesfalls als eine koloniale, umso mehr jedoch als eine osmanische Stadt zu betrachten. Damit werden nicht nur eurozentrische Darstellungen der libanesischen Geschichte in vielen Punkten widerlegt, auch herkömmliche Periodisierungen libanesischer Historiker werden damit in Frage gestellt.3 Es erscheint als lohnende Aufgabe, das Verhältnis von lokalen Akteuren und Zentralmacht für andere Orte des Osmanischen Reiches in vergleichender Weise zu bestimmen, was Aufschlüsse über die Einbindung verschiedener Regionen in die Strukturen des Reiches liefern und wichtige Startvoraussetzungen für das nach 1920 beginnende Zeitalter der Nationalstaaten aufdecken würde.

Was die vorliegende Studie darüber hinaus innovativ macht, ist der konsequente Bezug auf die „Produktion von Raum“. In Anlehnung an die Arbeiten Henri Lefebvres (1901-1991)4 untersucht Hanssen, wie der urbane Raum wahrgenommen, wie er geplant und im Alltag „benutzt“ wurde. Damit gelingt es ihm, eine Brücke von der Stadtentwicklung zu dem Feld der kulturellen Produktion in der Stadt zu schlagen, insbesondere zu den Schriftstellern und Intellektuellen der nahda, der Bewegung zur Erneuerung der arabischen Sprache und Kultur, deren führende Vertreter zu großen Teilen in Beirut ansässig waren. Besonders über die für den arabischen Raum einmalig auflagenstarke Presse vermittelten sie die den Bürgern von Beirut ein neues Bild ihrer Stadt und waren mit ihren öffentlichen Interventionen in der Lage, das politische Handeln von Stadtverwaltung und Provinzregierung zu beeinflussen. Hier ergeben sich vielfältige Parallelen und Vergleichsmöglichkeiten zu den zeitgleich in anderen Städten stattgefundenen Diskursen, die der Autor immer wieder in äußerst gewinnbringender Weise aufzeigt.5

Die Untersuchung ist in drei Teile gegliedert. Teil 1 („Capitalizations“) beschreibt die Etablierung Beiruts als Provinzhauptstadt und die damit einhergehende, für die Region beispiellose Erfolgsgeschichte einer einheimischen städtischen Elite. Auch der Widerstand marginalisierter sozialer Gruppen – vor allem der Hafenarbeiter – wird in die Darstellung mit einbezogen. Die Erläuterung zentraler heuristischer Konzepte wie „politische Felder“ oder „Kapitalisierung“ gelingt dem Autor ganz beiläufig auf eindrücklich knappe und elegante Weise. Teil 2 („Mediations“) beschreibt exemplarisch die Tätigkeit dieser Elite auf den drei Politikfeldern Gesundheit, Stadtplanung und Bildung. Die Darstellung wird getragen von einer soliden Datengrundlage, da es Hanssen gelungen ist, den osmanischen Akten sowie den zwei wichtigsten arabischen Zeitungen ein Sample von einhundert Mitgliedern des Stadtrates zu entnehmen, aus dem sich unter anderem die Repräsentation verschiedener Familien, Konfessionen und Berufe ablesen lässt. Der dritte Teil („Urban Words – Urban Worlds“) schließlich widmet sich der Einwirkung der arabischen Intellektuellen auf die Stadtentwicklung. Hierbei wird die materielle Ausgestaltung der Stadt mit ihrem diskursiv konstruierten Bild kontrastiert. In seinen besten Passagen bietet dieser Teil so etwas wie eine „historische Ethnographie“ von Praktiken, die den Alltag der Stadtbewohner strukturierten und zugleich die Wahrnehmung des physischen wie des sozialen Raums prägten. Das Schwergewicht dieses Teils liegt auf Kultur und Politik. Erst im Resümee kommen die Dimensionen von Wirtschaft und sozialer Ungleichheit wieder ausführlicher zur Sprache. Hanssen schließt mit einem Ausblick auf das Erbe des „osmanischen Fin de Siècle“. Das osmanische Reformprojekt, in das sich die nahda-Intellektuellen und ihre Partner im Stadtrat von Beirut gewinnbringend einordneten, wird als „sozial konservativ“ charakterisiert. Dadurch, dass sie der Stadt ein ausgemacht elitäres Bild verliehen, so der Autor, trugen Intellektuelle und Lokalpolitiker in Beirut dazu bei, die Grundlage für fortdauernde und verhängnisvolle soziale Ungleichheiten innerhalb des libanesischen Staates zu legen (S. 265). Nicht nur der beispiellose Aufschwung der Stadt, auch viele der Probleme, die sie und den Nationalstaat Libanon das ganze 20. Jahrhundert hindurch kaum zur Ruhe kommen ließen, sind also zu einem guten Teil auf lokale Entwicklungen während der spätosmanischen Zeit zurückzuführen.

Dieser Verweis auf die sozialen Verwerfungen als Erbe der osmanischen Reformzeit im Libanon kommt etwas unvermittelt, da über weite Strecken des Buches die Diskursgeschichte dominiert und gesellschaftliche und ökonomische Fragen etwas unterbelichtet bleiben. So wird das reiche Material zur Stadtverwaltung von Beirut leider kaum ausgewertet, man erfährt wenig zu den Beziehungen zwischen den ethno-konfessionellen Gruppen, und auch das Verhältnis der Stadt zu ihrem ländlichen Umland, geschweige denn zur Provinz Beirut bleibt größtenteils im Dunkeln. Trotz allem handelt es sich bei diesem Buch zweifellos um einen maßgeblichen Beitrag zur Geschichte mediterraner Städte sowie zu einer Gesellschaftsgeschichte des modernen Vorderen Orients. Besonders vorbildlich erscheint die Zusammenführung von Geistes- und Sozialgeschichte und vielfachen Ausblicke auf größere Tendenzen in der Geschichte der Levante, die zahlreiche „missing links“ zur Kolonialzeit nach 1920 aufscheinen lassen. Jens Hanssens lebendiger Schreibstil, eine übersichtliche Gliederung, prägnante Abbildungen sowie ein detaillierter Index machen das Buch überdies nicht nur zu einer aufschlussreichen sondern auch äußerst angenehmen Lektüre.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu das Programm eines am Wissenschaftskolleg zu Berlin angesiedelten Forschungsverbundes zu diesem Thema: „Neue Ansätze zur Geschichte von Handelsstädten im Osmanischen Reich“, <www.wiko-berlin.de/kolleg/projekte/AKMI/gesellschaftsgesch>. Ein jüngst erschienener Sammelband nimmt die Stadtverwaltungen zum Ausgangspunkt einer vergleichenden Geschichte der Modernisierung in der Mittelmeerregion. Vgl. Lafi, Nora (Hg.), Municipalités Mediterranéennes. Les réformes urbaines ottomanes au mirroir d’une histoire comparé, Berlin 2006.
2 Verwiesen sei hier nur auf: Hanssen, Jens; Philipp, Thomas; Weber, Stefan (Hgg.), The Empire in the City. Arab Provincial Capitals in the Late Ottoman Empire, Beirut 2002.
3 Zur libanesischen Historiografie vgl.: Havemann, Axel, Geschichte und Geschichtsschreibung im Libanon des 19. und 20. Jahrhunderts: Formen und Funktionen des historischen Selbstverständnisses, Beirut 2002.
4 Vgl. insbesondere Lefebvre, Henri, The Production of Space, London 1991 [Erstausgabe 1974].
5 Schon der Titel enthält ja eine Anspielung auf Wien vor dem Ersten Weltkrieg. Vgl.: Schorske, Carl, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, München 1994 [1980].

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