R. Ahuja u.a. (Hrsg.): Mumbai - Delhi - Kolkata

Cover
Titel
Mumbai – Delhi – Kolkata. Annäherung an die Megastädte Indiens


Herausgeber
Ahuja, Ravi; Brosius, Christiane
Erschienen
Heidelberg 2006: Draupadi Verlag
Anzahl Seiten
310 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Melitta Waligora, Institut für Asien- und Afrikawissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Faszination und Abscheu sind die Beigaben zur Geburt der Stadt als menschliche Siedlungsform. Die Emotionen werden heftiger, sobald von einer späteren Variante der Stadt die Rede ist: den Megastädten. Manch einer, und nicht nur bekannte Personen wie Günter Grass, hat sich verfrüht und entsetzt von einer Stadt wie Kalkutta als nicht des Lebens würdig abgewandt. Mit leichtem Schmerz, aber auch Erleichterung kommt einem jede der wenigen deutschen Millionenstädte nach einem Abstecher in Bombay oder Delhi wie ein Dorf vor. Die überschaubare Ordnung, das satte Grün, der zeitlich terminierbare Stau, die Sauberkeit und Leere erzeugen eine Art heimisches Wohlgefühl. Das bleibt auch nach der Lektüre des vielseitigen und informativen Buches über die drei indischen Megastädte Mumbai, Delhi und Kolkata.

Der Band enthält 18 Aufsätze sowie eine Einführung und eine Schlussbetrachtung. Ravi Ahuja versagt sich klugerweise in seiner wunderbar prägnanten wie klaren Einführung, ein theoretisches Konstrukt zu bauen. Er spannt stattdessen ein weites Netz von Fragestellungen und Perspektiven, in das sich die verschiedenen Themen und Details der Aufsätze gut einfügen können. Als Leitfaden dient ihm dabei das Gegensätzliche: eine der ländlichsten Weltregionen hat die gewaltigsten Megastädte hervorgebracht (S. 9); Inseln des europäischen und nordamerikanischen Lebensstils sind umgeben und abhängig von der Nähe und Verfügbarkeit billiger Arbeitskraft wie sie die Arbeitsmigranten der Slums darstellen; historische Kontinuitäten und koloniales Erbe schließen Wandlungsfähigkeit und globales Zusammenspiel ein; De-Industrialisierungstendenzen stehen neben Zentralisierung von Dienstleistungen.

Den größten Umfang nehmen die Beiträge über Mumbai ein, die Megastadt, die nach den Vorhersagen in naher Zukunft den zweiten Platz in der Rangfolge der Megastädte einnehmen wird. Heinz Nissel entfaltet in „Stadterweiterung und Stadtumbau einer ‚Globalizing City’“ nach einem informativen historischen Abriss ein Bild von Mumbai, das es als erste Metropole eines so genannten Entwicklungslandes geschafft hat, zu einem weltweit agierenden Steuerungszentrum wirtschaftlicher Macht zu werden. Neben vielen weiteren Vorteilen Mumbais als global agierender Stadt verweisen die Beiträge von Martin Fuchs „Slum als Projekt: Dharavi und die Falle der Marginalisierung“ und Julia Eckert „Als Bombay zu Mumbai wurde: Hindunationalismus in der Metropole“ eher auf deren Nachteile: die sozialen und politischen Konfliktfelder. Fuchs gibt einen differenzierten Einblick in die Existenzweise von Slums und die Lebensweise ihrer Bewohner/innen am Beispiel von Dharavi, eines der dicht besiedelsten Slums. Zum Ort von Spannungen und Gewalt wird Dharavi immer wieder durch Konflikte, die aus den verschiedenen sozialen, ethnischen und religiösen Zugehörigkeiten innerhalb des Slums erwachsen sowie aus der fehlenden Kontrolle der eigenen Arbeits- und Wohnbedingungen, die immer im Gegensatz zu denen der umgebenen Stadt stehen. Julia Eckert zeigt Anspruch und Organisationsweise der Shiv Sena, die sich in Mumbai als Faktor zivilgesellschaftlicher Integration und Gegengewicht zum vorgeblich ineffizienten Staat unter den urbanen Schichten etabliert hat, die sich von der rasanten Entwicklung der Stadt ausgeschlossen sehen. Ihren Besitzanspruch als politische Partei auf Mumbai rechtfertigt die Shiv Sena mit einer im Kern nebulösen Verteidigung des Eigenen gegen das Fremde, wobei Letzteres dann jeweils konkrete Gestalt annimmt – südindische Zuwanderer, Kommunisten, Dalits oder Muslime.

Delhi ist bekanntlich keine Kolonialgründung, sondern eine alte Stadt, die durch die Moguln gestaltet wurde. Dennoch weist sie eine kolonial geprägte Geschichte auf, wie Michael Mann in seinem Aufsatz „Metamorphosen einer Metropole: Delhi 1911-1977“ zeigt. In der Umgestaltung Delhis zu Beginn des 20. Jahrhundert sollte vor allem der Herrschaftswille der Briten in Indien repräsentiert werden – zu Lasten der Urbanität und Verwaltung der Stadt. Ein weiteres koloniales Erbe stellt der Flüchtlingsstrom dar, der Delhi wie auch Kalkutta nach der Teilung Indiens 1947 überflutete. Neben den Problemen, vor denen eine unerfahrene und überforderte Stadtverwaltung durch den plötzlichen Bevölkerungszuwachs wie der veränderten Bevölkerungszusammensetzung stand, zeigt Navina Gupta in „Delhi nach der Teilung Indiens: Zur Flüchtlingsgeschichte einer Megastadt“ auch, wie die Flüchtlinge den Charakter der Stadt im positiven Sinne beeinflussten, ihre wirtschaftlichen Aktivitäten die Stadt belebten – im Unterschied zu Entwicklungen in Kalkutta. Die große Zahl von Haushalten mit hohen Einkommen in Delhi weckt Bedürfnisse, die in modernen Shopping-Malls befriedigt werden sollen, die von Harini Narayanan in ihrem Beitrag „Der Schein Delhis. Die luftdicht verpackte Welt der ‚Shopping Malls’“ als „desinfizierte, kontrollierte Treibhausgärten“ beschrieben werden (S. 165). Im Interesse dieser Schichten betreibt die Stadtverwaltung eine äußert rigorose Politik der Zerstörung von Slums und Vertreibung ihrer Bewohner/innen, die nicht als legitime Bürger/innen gelten, an die Peripherien der Stadt. Die Autoren des Beitrags „Das neoliberale Delhi: Der Blick vom Trümmerfeld eines planierten Slums“ Diya Mehra und Lalit Batra fragen, warum die Slum-Bewohner nicht nachdrücklicher opponieren. Diese Frage muss für nahezu alle der in diesem Band aufgeworfenen Probleme gestellt werden: Warum es so wenig Widerstand seitens der unterdrückten Massen gegen ihre Verelendung angesichts zunehmenden Wohlstands in Indien gibt. Möglicherweise bietet der sehr spannende Aufsatz von Michael Köberlein „Leben vom Müll: Recycling und Wertstoffhandel in Delhi“ eine Antwort. Er liefert das Bild einer perfekt organisierten und streng hierarchisierten Müllentsorgung und Verwertung – neben der städtischen Müllwirtschaft. Diese informelle, von staatlichen Regulierungen unberührte Entsorgungswirtschaft bietet einer Vielzahl von Menschen unterschiedlicher ethnischer und sozialer Herkunft eine Beschäftigung in einer strikten Hierarchie, die vom verachteten und ökonomisch marginalisierten Müllsammler/innen über mehrere Stufen bis zum gut verdienenden Kleinunternehmer reicht. Die Hoffnung auf sozialen Aufstieg aus diesem Elend des Müllsammelns ist immer da und vereinzelt möglich. So gibt es keine soziale Klasse der Müllwerker/innen, die sich zusammenschließen und den im Überfluss Müll produzierenden Schichten die Kosten für ihren Konsum aufzwingen könnte.

Der Teil über Delhi wird von dem faszinierenden Beitrag mit dem etwas trockenen Titel „Welche Vergangenheit für die Zukunft? Delhi und seine Baudenkmäler“ abgeschlossen. Monica Juneja deckt beispielhaft „historische Bauten als Räume von multiplen, vielschichtigen Beziehungen“ auf (S. 223) und will damit anregen, auch die Nation als „ein Feld von disparaten und verstreuten Identitäten, zugleich autonom und überlappend, die sich stets überkreuzen, und in Prozessen sowohl der Abgrenzung als auch des Austausches beteiligt sind.“ (S. 224) zu betrachten.

Kolkata nimmt unverdienterweise den kleinsten Raum in dem Band ein und unterscheidet sich auch in der Themenwahl der Beiträge von den anderen Teilen zu Mumbai und Delhi. Lediglich der Beitrag von Christian Weiß hat „Die Stadtentwicklung und das Armutsproblem in Kalkutta“ im Blick und bietet somit einen Ansatz zum Vergleich mit den beiden anderen. Drei Beiträge widmen sich der Kultur der Stadt und ihrer verschiedenen Trägerschichten im 19. Jahrhundert Hans Harder beschreibt die untergegangene Kultur der „Babus, Bibis und Sahibs im Kalkutta des 19. Jahrhunderts“ und Indra Sengupta informiert über „Kolonialstadt und bürgerliche Kultur: Die ‚Bhadralok’ von Kolkata“. Diese an sich interessanten Texte lassen jedoch einen erkennbaren Bezug zum Thema des Bandes vermissen. Eine neue Facette der Kolonialgeschichte Kolkatas bringt Harald Fischer-Tiné in „Stadt der Paläste? Europäische Lebenswelten im kolonialen Kalkutta“ zum Vorschein. Er schreibt über Europäer nicht als herrschende Klasse, sondern als subalterne Schichten: arbeitslose Matrosen, Landstreicher und Prostituierte, die durch ihre bloße Existenz das Prestige der „herrschenden Rasse“ und ihrer Religion gefährdeten (S. 250).

Der Band gibt mit seinen vielfältigen Themen Anregungen für Überlegungen zu Stadtkultur und moderne Lebenswelten. Er wendet sich mit seinem essayistischen Schreibstil an einen breiten Leserkreis und ist eine Fundgrube für all jene, die mit Neugier auf eine scheinbar fremde Kultur schauen, die sich als gar nicht so fremd erweist. Hervorzuheben ist auch die sorgfältige Gestaltung der Buchausgabe in dem noch jungen Draupadi Verlag.

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