B. Ciesla: Als der Osten durch den Westen fuhr

Titel
Als der Osten durch den Westen fuhr. Die Geschichte der Deutschen Reichsbahn in Westberlin


Autor(en)
Ciesla, Burghard
Reihe
Zeithistorische Studien 34
Erschienen
Köln 2006: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
380 S., 20 s/w Abb.
Preis
€ 47,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Schöne, LStU Berlin

Am Abend des 20. September 1980 besetzten streikende Eisenbahner ein Stellwerk am West-Berliner Bahnhof Zoologischer Garten und legten so den internationalen Reiseverkehr der Inselstadt lahm. Was dann folgte, erscheint auf den ersten Blick wie eine Farce: Zunächst verschaffte sich die Bahnpolizei der Deutschen Reichsbahn mit Hilfe von Hunden, Äxten und Brechstangen Zugang zum besetzten Gebäude. Die Streikenden riefen daraufhin über ein Megaphon die West-Berliner Polizei zu Hilfe und erhielten tatsächlich die gewünschte Unterstützung. In allgemeiner Verwirrung warteten alle Beteiligten nun erst einmal ab; der Reiseverkehr blieb blockiert. Gegen 22:30 Uhr schalteten sich die britischen Alliierten ein. Sie forderten jedoch nicht die Streikenden auf, das Stellwerk zu verlassen, sondern die Bahnpolizei. Diese kam der Forderung nach, verharrte aber auf dem Bahnsteig, die Stimmung blieb explosiv. Also sah sich ein ranghoher Vertreter der West-Berliner Polizei einige Zeit später veranlasst, eine grundlegende Aussage zu treffen: Sollte es zu Gewaltanwendung kommen, würden die Sicherheitskräfte entschlossen gegen die Urheber vorgehen – wer auch immer das sein möge.

Willkommen in Absurdistan? Keineswegs, denn die Konfrontation hatte ernst zu nehmende Hintergründe. Wie so oft in der deutsch-deutschen Geschichte, finden sich deren Ausgangspunkte in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Alle vier Besatzungsmächte zielten zu diesem Zeitpunkt auf eine Einheitlichkeit des Eisenbahnwesens in Berlin, was „in der Konsequenz bedeutete, dass die Deutsche Reichsbahn der SBZ die Betriebsrechte des Eisenbahnverkehrs für ganz Berlin übertragen bekam“. Nach der Spaltung der Stadt arbeiteten somit mehrere Tausend in West-Berlin wohnhafte Angestellte der Reichsbahn für einen Staatsbetrieb der DDR. Zwar ging deren Zahl bis zum Ende der DDR von etwa 7.000 auf 2.000 zurück, doch blieb die Reichsbahn ein fortwährender Problemfall der innerdeutschen Beziehungen. Aus diesem Umstand erklärt sich auch die Brisanz des eingangs geschilderten Konflikts: Die Bahnpolizei unterstand der DDR, die West-Berliner Polizei dem dortigen Senat, und letzte Entscheidungsinstanz blieben die Alliierten. Selten trafen die unterschiedlichen politischen Akteure so unmittelbar aufeinander wie hier.

Spätestens mit dem Einsetzen des Kalten Krieges hatte sich angedeutet, welche Probleme aus dem vormaligen alliierten Konsens in Bezug auf die Reichsbahn erwachsen sollten. Insbesondere die Auslegung des Begriffes „Betriebsrechte“ entwickelte sich zu einem grundlegenden Zankapfel, der – unter wechselnden Schwerpunktsetzungen – bis zum Ende der DDR Bestand haben sollte. Dabei ging es nicht zuletzt um Geld: Denn während die östliche Seite fortwährend argumentierte, dass mit den Betriebsrechten auch alle überlieferten Eigentumsrechte verbunden seien (und zu deren Wahrung den Namen „Deutsche Reichsbahn“ beibehielt), betonte die West-Berliner Seite ebenso energisch das Gegenteil und unternahm erfolgreiche Schritte, dieser Auffassung auch in der Praxis Geltung zu verschaffen. Das für den Betrieb der Bahn notwendige Vermögen blieb zwar im Zugriff der DDR, weitere Vermögensteile wurden letztlich jedoch der westdeutschen Bundesbahn überantwortet.

Da insbesondere die Stadtbahn, die zur Reichsbahn gehörte, ein akzeptiertes Transportmittel in allen Teilen Berlins war, blieben die Auseinandersetzungen zunächst primär auf die politische Ebene beschränkt. Doch das änderte sich mit dem Mauerbau vom 13. August 1961. Aus Protest gegen die Teilung der Stadt boykottierten die Einwohner des Westteils das vormals geschätzte Verkehrsmittel oder machten es zum Zielobjekt akuter Gewalt. Beschimpfungen oder tätliche Angriffe auf die Mitarbeiter/innen der Reichsbahn waren ebenfalls an der Tagesordnung, Bahnhöfe wurden beschädigt und Gleisanlagen demoliert. Auf der Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus hatte der Regierende Bürgermeister Willy Brandt am 16. August betont, dass es unzumutbar sei, mit dem Fahrgeld der West-Berliner den Kauf des Stacheldrahtes für die Mauer zu finanzieren. Wie so oft traf Brandt den Nerv der Berliner und der folgende, konsequente Boykott leitete den Abstieg der S-Bahn vom renommierten Transportmittel zur „Arme-Leute-Bahn“ ein: Durch den dramatischen Einbruch der Fahrgastzahlen brachen auch die Einnahmen weg und damit jene Mittel, die für die zunehmend dringendere Modernisierung der Bahn zur Verfügung standen. Auf diese Weise geriet der DDR-Betrieb im kapitalistischen Umfeld immer mehr ins Hintertreffen, zumal der Senat fortan eifriger als zuvor am Ausbau des Straßennetzes arbeitete. Ein unübersehbarer Verfall der Schienenfahrzeuge und der dazu gehörenden Betriebsanlagen war die zwingende Konsequenz.

Daher entschied sich die DDR-Führung bereits Mitte der 1970er-Jahre zu einem konsequenten Schritt: Sie bot dem West-Berliner Senat die Übernahme der S-Bahn an. Doch dieser lehnte zunächst ab, zu defizitär war der Betrieb, zu unklar die Rechtslage. Und so sollte es noch bis zum Januar 1984 dauern, ehe die Übergabe tatsächlich erfolgte. Bis dahin erlebte die Stadtbahn noch einige Erschütterungen. Im Jahr 1974 unterstütze deren Belegschaft unter tatkräftiger Anleitung der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins (SEW) einen Streik im öffentlichen Nahverkehr. Doch die Aktion erwies sich politisch als Eigentor. Denn neben verärgerten Einwohnern provozierte sie vor allem eine Diskussion um die Frage, warum denn im quasi-sozialistischen Betrieb in West-Berlin ein Streikrecht bestehe, in den Betrieben der DDR jedoch nicht. Derartige Töne hörte die SED-Führung im Ostteil der Stadt selbstredend nicht gern.

Eigentlicher Höhepunkt der S-Bahn-Krisengeschichte blieb jedoch der Streik vom September 1980. Stets hatten die West-Berliner Mitarbeiter/innen weniger verdient als in jenen Betrieben des öffentlichen Nahverkehrs, die dem Senat unterstanden. Diesbezügliche Beschwerden wurden von der Reichsbahn mit der Begründung abgewiesen, dass die Arbeitsplätze im Gegensatz zur kapitalistischen Wirtschaft sicher seien. Als sich dies jedoch als Trugschluss erwies, angekündigte Lohnerhöhungen nur gering ausfielen und umfangreiche Entlassungen angekündigt wurden, erfolgte die Reaktion prompt. Umfangreiche Streikmaßnahmen (inklusive der erwähnten Besetzung des Stellwerks am Bahnhof Zoo) waren die Folge, die erst dann beendet werden konnten, als die Alliierten ihre Hoheitsrechte verletzt sahen und die Streikenden dem wachsenden Druck nachgeben mussten. Der Arbeitskampf war gescheitert, sollte sich aber gleichwohl als wichtiger Schritt zur Übernahme der S-Bahn durch den Senat erweisen.

All diese Entwicklungen (und viele andere mehr) analysiert Burghard Ciesla detailliert und bietet zudem einen kurzen Überblick über den Weg zur Bahn AG, wie er ab 1989/90 beschritten wurde. Vor allem überrascht an der Publikation, dass es so lange gedauert hat, ehe sich ein Autor fand, der sich des Themas annahm. Denn gerade am Beispiel der Deutschen Reichsbahn, das macht Ciesla mit seinem Buch klar, lassen sich Hintergründe, Determinanten und Verflechtungen der deutsch-deutschen Beziehungen eindringlich aufzeigen. Dabei berücksichtigt er sowohl politikgeschichtliche als auch alltagshistorische Fragestellungen, legt das Wirken des Ministeriums für Staatssicherheit ebenso offen wie das Agieren von Maoisten, Trotzkisten und anderen „Linkssektierern“, zu deren Sammelbecken die Reichsbahn in West-Berlin zunehmend wurde. Selbst wer wissen möchte, was die Rolling Stones mit der S-Bahn und innerdeutschen Konflikten zu tun haben, wird hier fündig. Ergänzt durch zahlreiche Fotos und einen umfänglichen Tabellenanhang bietet die Publikation somit weit mehr als „nur“ Eisenbahngeschichte und kann daher auch denjenigen nachdrücklich zur Lektüre empfohlen werden, die mit diesbezüglichen Fragestellungen bisher nur wenig Berührung hatten.

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