S. Rohdewald: Vom Polocker Venedig

Titel
Vom Polocker Venedig. Kollektives Handeln sozialer Gruppen einer Stadt zwischen Ost- und Mitteleuropa (Mittelalter, frühe Neuzeit, 19. Jh. bis 1914)


Autor(en)
Rohdewald, Stefan
Reihe
Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 70
Erschienen
Stuttgart 2005: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
604 S.
Preis
€ 96,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rayk Einax, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die Glorifizierung von Polock als mittelalterlichem „Venedig“ entstammt einer Chronik des 16. Jahrhunderts und bezog sich weniger auf architektonische Gemeinsamkeiten, sondern vielmehr auf die kommunale Rechtsordnung und das urbane Selbstverständnis seiner Bewohner. Ungeachtet dessen versucht Stefan Rohdewald mit seiner nun veröffentlichten Dissertationsschrift die Stadt an der Düna als urbanen Lebensraum geografisch und strukturell zwischen Ostmittel- und Osteuropa zu verorten.

Polock, dessen wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung seit dem 12. Jahrhundert zunahm, erfuhr – so der Autor – erst ab dem 14. Jahrhundert eine „Eingliederung in ostmitteleuropäische Zusammenhänge“ (S. 12). Speziell die (heute) belarussischen Gebiete des polnisch-litauischen Fürstentums, wo im Mittelalter und in der frühen Neuzeit die ostslawisch-orthodoxe Welt auf lateinisch beeinflusste Herrschaftsformen stieß, charakterisiert Rohdewald als Übergangs- oder Überlappungszone ohne eindeutige Zugehörigkeit zu Ost- oder Ostmitteleuropa.1 Im Spannungsfeld dieser Kulturbegegnung skizziert er eine ostmitteleuropäische Stadttypologie. Mit ihren bautechnischen Metamorphosen kann somit speziell die im 11. Jahrhundert erbaute Sophienkathedrale, eine der berühmtesten neben denen in Kiew und Novgorod, als ein Symbol für die jeweilige Herrschaft über Polock gelten. Nach dem Umbau zur Wehrkirche im 15. und 16. Jahrhundert und diversen Feuerschäden erhielt sie im 17. und 18. Jahrhundert ihre barocke Pracht. Unweigerlich hat dann aber auch die russische Herrschaft seit 1772 die Stadt und deren Kultur geprägt.

Die Analyse kollektiven Handelns der Polocker Bevölkerung bezieht sich auf die Kommunikationsprozesse und Interaktionen zwischen den unterschiedlichen „kollektiven“ und „korporativen“ Akteuren. Diese Handlungsträger, ihre Organisation sowie ihre Funktionen im Stadtleben sollen definiert und gegenseitig abgegrenzt werden. In den Blick geraten Kategorien wie „Beziehungen“, „Intentionen“, „Handlungsrahmen“ und „-felder“, „Sprache“ und „Öffentlichkeiten“. Einen entscheidenden Schnittpunkt stellen hierbei die Schlichtungsinstanzen als Orte der Begegnung und kommunalen Konfliktregelung dar. Nicht zuletzt die ethnische und konfessionelle Vielfalt machte „Kommunikation“ zwischen diversen Gruppen zu einer fortwährenden Notwendigkeit.

Erste Einflüsse auf das Stadtleben nahmen warägische, russische und litauische Fürsten.2 Deren Herrschaftsausübung in der mittelalterlichen Handelstadt Polock, das heißt die Beziehungen zwischen dem Fürsten und den Einwohnern, den „Polotschanen“, gestaltete sich überwiegend symbolisch. Die überlieferten Chroniken geben aber abgesehen von den „Volksversammlungen“ und deren Handlungsverläufen zu wenig Aufschluss über die sozialen Schichten der Stadt. Immer wichtiger wurde seit dem 13. Jahrhundert der Warenaustausch mit dem Düna-abwärts gelegenen Riga, dies bedeutete auch den zunehmenden Kontakt zur Außenwelt, zu Kaufleuten und „Lateinern“, sowie die Notwendigkeit, Streitfälle im gegenseitigen Handelsgeschäft zu regeln.

Während der polnisch-litauischen Herrschaft der Jagiellonen (ab 1387) regierte ein Statthalter in Polock. Nicht nur die Bojaren, das heißt der lokale Adel, unterlagen einem sozialen Wandel, auch in der Stadt entstanden bürgerliche und „gemeine“ Stände. Westeuropäische Stadtrechtsmodelle gerieten immer stärker zum Vorbild für die allgemeinen Bürgerversammlungen, denn auch Polock habe sich im Gegensatz zu Moskauer Städten allmählich zu einer „Gemeinde“ entwickelt3, die rechtliche Differenzierung innerhalb und zwischen Stadt und Umland sei vorangeschritten, und die enorme Bedeutung der schriftlichen (Handels-) Kommunikation sei evident geworden. Den auffälligen Höhepunkt dieser Entwicklung bildete die Verleihung des Magdeburger Stadtrechts im Jahre 1498.4

In der Adelsrepublik (1569-1772) nahm sowohl die konfessionelle als auch die (bürger) rechtliche Segmentierung weiter zu. Juden und Jesuiten kamen in die Stadt, Klöster und Orden wurden gegründet, und aufgrund unterschiedlicher rechtlicher Dispositionen der Glaubensgemeinschaften – katholisch, uniert, orthodox, jüdisch unter anderem – entzündeten sich konfessionelle Konflikte. Vor allem die Katholiken demonstrierten in regelmäßigen Prozessionen ihr Glaubensbekenntnis. Daneben existierten zahlreiche Laienbruderschaften und Zünfte. Die „interne Öffentlichkeit der Stadtgemeinde“ (S. 312) repräsentierte aufgrund seiner gerichtlichen Funktionen vor allem der Magistrat. Vor allem der Streit über den Umgang mit den kommunalen Finanzen besaß fortwährendes Konfliktpotential. Hierbei habe sich die „Gemeinde“ zunehmend institutionalisiert und professionalisiert. Mit den Teilungen Polens wurde Polock schließlich Teil des russischen Zarenreiches. Seine wirtschaftliche Bedeutung hatte es zwar bereits seit einiger Zeit eingebüßt, doch bescheinigt Rohdewald der Stadt für das 18. Jahrhundert aufgrund seiner Multiethnizität und Plurikonfessionalität einen unverkennbar ostmitteleuropäischen Charakter (S. 359).

Die ökonomische Prosperität setzte erst in der zweiten Hälfte des 19. Jh. wieder ein, als eine Bahnverbindung nach Riga gebaut wurde und die Dünaschifffahrt expandierte. Die Integration der Stadt ins Zarenreich äußerte sich zunächst vor allem konfessionell; die Jesuiten mussten ihre Tätigkeiten einstellen und die Union von Brest wurde aufgehoben. Die Bevölkerungsmehrheit war nunmehr jüdisch. Sie dominierte zwar das Wirtschaftsleben der Stadt, unterlag aber politischen Diskriminierungen. Gerade diesen Aspekt bzw. die „Nationalisierung“ urbaner Konflikte untermauert der Autor durch die Analyse der Städteordnung oder der Wahlen zu den städtischen Gremien. Die Anfänge kommunaler Selbstverwaltung um 1900 seien schließlich eindeutig gegen eine jüdische oder katholische Partizipation gerichtet, und daher keinesfalls repräsentativ oder demokratisch gewesen. Die reine Interessenpolitik der Stadtoberen habe das Austarieren unterschiedlicher sozialer Interessen weitgehend blockiert. Auch wenn das Vereinswesen stark durch ständische oder konfessionelle Exklusivität geprägt war, gab es auch diverse Wohltätigkeitsgesellschaften und ethnokonfessionell übergreifende Institutionen wie z. B. die Feuerwehr oder eine Bibliotheksgesellschaft. Um die Jahrhundertwende kamen erste Berufsverbände bzw. Gewerkschaften und politische Parteien hinzu und erweiterten die urbane „Öffentlichkeit“ vor der Revolution von 1905. Rohdewalds explizites Interesse gilt dabei den aus unterschiedlichen Vereinsmitgliedschaften resultierenden Netzwerken, die er mit einer eigenen Datenerhebung belegt, sowie deren Einflüssen auf die kommunale Politikgestaltung. Vor dem 1. Weltkrieg ist Polock mit seiner ethnokonfessionellen Komplexität vor allem auch wegen seiner orthodoxen Minderheit für den Autor keine typisch russländische Kreisstadt.

Das Fazit bemüht sich noch einmal um die epochenübergreifenden Charakteristika der Stadtentwicklung und der Bedingungen sozialen Wandels. Hierzu zählen die zentralen Machtkompetenzen der jeweiligen Herrscher und die unterschiedlichen Partizipationsmöglichkeiten aller konfessionellen Gruppen, zumindest bis Ende des 19. Jarhundert Auch wenn die Vergangenheitsbezüge heute allenfalls rudimentär erscheinen, spricht der Verfasser vor 1914 von Polock als einer ostmitteleuropäischen Stadt!

Allgemeine Geschichtsüberblicke leiten jedes Kapitel ein und dienen der Orientierung der Leser/innen. Darauf folgt jeweils die Rekonstruktion der Stadtentwicklung. Eine Schlusspassage fasst immer die wichtigsten Entwicklungen und Thesen zusammen. Der Anhang besteht aus einer kleinen aber dennoch beeindruckenden Sammlung von Karten, Faksimiles, Illustrationen und Fotografien. Die akribische Quellenarbeit und die Absicht, aktuelle historiografische Zugänge zu integrieren, sind begrüßenswert und wissenschaftlich anregend. Nicht nur ihnen, sondern der mikrohistorisch angelegten Arbeit insgesamt gelingt es als „Kommunikationsgeschichte“, das einzigartige aber verschollene Flair von Polock aufzuspüren.

Anmerkungen:
1 Ein allgemeiner Überblick über die Geschichte Ostmitteleuropas bei: Conze, Werner, Ostmitteleuropa. Von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert, hrsg. v. Klaus Zernack, 2. Aufl. München 1993.
2 Siehe zur Frühgeschichte von Polock die archäologisch-quellengestützte Studie in: Mühle, Eduard, Die städtischen Handelszentren der nordwestlichen Ru? Anfänge und frühe Entwicklung altrussischer Städte bis gegen Ende des 12. Jahrhunderts. Stuttgart 1991, S. 203-238.
3 Vgl. Zernack, Klaus, An den östlichen Grenzen Ostmitteleuropas, in: Russische und ukrainische Geschichte vom 16.-18. Jahrhundert, hg. von Robert O. Crummey, Holm Sundhaussen u. Ricarda Vulpius (Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 58), Wiesbaden 2001, S. 323-331, hier: S. 328.
4 Vgl. Rohdewald, Stefan, Der Wandel eines städtischen Regionalzentrums von der Teilfürstenzeit bis zur Adelsrepublik (1563). Das Beispiel Polock, in: Handbuch der Geschichte Weißrußlands, hg. v. Dietrich Beyrau und Rainer Lindner. Göttingen 2001, S. 291-307, hier: S. 299-302.

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