N. Stargardt: Children's Lives Under the Nazis

Titel
Witnesses of War. Children's Lives Under the Nazis


Autor(en)
Stargardt, Nicholas
Erschienen
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
£20.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sonja Levsen, SFB 437 "Kriegserfahrungen", Eberhard-Karls-Universität Tübingen,

Der nationalsozialistische Angriffs- und Vernichtungskrieg betraf Millionen von Kindern – inner- und außerhalb des Deutschen Reiches, in den Kriegszonen, den besetzten Gebieten, in Ghettos und Konzentrationslagern. Der Vielfalt dieser Kriegserfahrungen und ihren Implikationen widmet sich Nicholas Stargardts eindrucksvolles und in der anglo-amerikanischen Öffentlichkeit breit wahrgenommenes Buch „Witnesses of War“. Leid und oft unerträgliches Leiden der Kinder klingen aus allen Kapiteln des Werkes, und dennoch handelt es nicht nur von der Vielfalt kindlicher Opfer, die der Krieg forderte. Stargardt, und hierin liegt eine der großen Stärken seiner Darstellung, verweigert sich einer Täter-Opfer-Dichotomisierung. Er zeichnet differenziert nach, wie der Krieg in die Leben der Kinder eingriff, ihr Handeln und ihre Vorstellungswelten prägte, zu welchen Taten und Entscheidungen er sie trieb und welche (Lebens-)Möglichkeiten er ihnen verweigerte: „Children were neither just the mute and traumatised witnesses to this war, nor merely its innocent victims. They also lived in the war, played and fell in love during the war; the war invaded their imaginations and the war raged inside them.“ (S. 17)

Das Buch ist in vier Teile gegliedert: Der erste wendet sich Kindern in der Frühphase des Krieges zu und konzentriert sich auf die Erfahrungen von Kindern im Deutschen Reich. Er wird gefolgt bzw. kontrastiert von einem zweiten Teil, in dem Deportation und Vernichtungskrieg als Kindheitserfahrungen im Osten geschildert werden. Im dritten Abschnitt lenkt Stargardt den Blick wiederum vorwiegend auf die deutsche Bevölkerung, nun in der Spätphase des Krieges; er thematisiert Bombenkrieg, militärisches Aufgebot der Hitlerjugend und Vertreibung aus den Ostgebieten, Letztere stets kontextualisiert durch Blicke auf die Evakuation der Konzentrationslager. Der vierte Teil widmet sich Kriegsende, unmittelbarer Nachkriegszeit sowie Gedenken und Erinnerung. Auch hier versammelt Stargart wie in allen anderen Abschnitten ein breites Spektrum von Erfahrungen und Deutungen, Rückblicken von „Besiegten“ und „Befreiten“.

Ohne geografisch oder thematisch alle Bereiche abdecken zu können 1, in denen der nationalsozialistische Krieg in das Leben von Kindern eingriff, gelingt es Stargardt doch, eine große Spannbreite kindlicher Kriegserfahrungen, von der ferienlagerartigen Atmosphäre mancher KLV-Heime bis zum Grauen der Vernichtungslager, herauszuarbeiten. Im Vordergrund steht dabei stets die Perspektive der Kinder, eingebettet in Informationen zur Politik der Nationalsozialisten, zu Haltungen der Bevölkerung und Kriegsverlauf, die das Buch auch dem interessierten Laien zugänglich machen.

Schwerpunktbildend sollen im Folgenden einige Themenstränge hervorgehoben werden, mithilfe derer Stargardt die Dimensionen kindlicher Kriegserfahrungen deutlich macht. Ein solches Thema ist das Spiel, dem der Autor besondere Aufmerksamkeit widmet, denn, so seine Überzeugung, „children’s wartime games often expressed far more than the tales they told about themselves in the mid-1950s“ (S. 378). Kinder spielten im Krieg – in deutschen Kinderzimmern, in Behindertenheimen, unwissend ihrer bevorstehenden Ermordung, auf Dorfstraßen im besetzten Polen, halbverhungert in jüdischen Ghettos und sogar in Konzentrationslagern im direkten Angesicht des Todes. In ihren Spielen verarbeiteten die Kinder ihre Kriegserfahrungen, und keine Realität erschien dabei zu grausam, um nicht Eingang in das Rollenspiel zu finden. Sowohl das Ausmaß der Gewalt, das diese Spiele widerspiegelten, als auch das in ihnen erkennbare Bedürfnis der Kinder, sich in die Rollen der Täter, der Machtausübenden, zu begeben, erschrecken. Deutsche Kinder spielten den Kampf gegen Franzosen und Russen, wobei der junge Uwe Timm bekannte, dass er „alle Russen totschießen“ 2 wolle. Später wurde auch die Rolle des NKVD-Soldaten, der Gefangene per Nackenschuss tötet, in das Spielrepertoire deutscher Kinder aufgenommen. Diese Spiele erscheinen jedoch noch fast harmlos, verglichen mit den Inszenierungen von Ghettokindern, die sich im Spiel in die Rollen von SS-Chargen versetzten und Häuserdurchsuchungen, Verfolgungen, Auspeitschungen und Gefangennahmen nachspielten. Den stärksten Kindern stand dabei stets die Rolle der Deutschen zu, Schwächere konnten gequält werden.3 Im ‚Familienlager’ in Birkenau waren es die Rollen der Blockältesten, Kapos und Wächter, die ins Kinderspiel übernommen wurden, und selbst für eine spielerische Reinszenierung des Schreiens der Sterbenden aus den Gaskammern hat Stargardt Belege gefunden.

Wie schon die Kinderspiele zeigen, ist die Konfrontation mit Gewalt ein weiterer roter Faden des Buches. Den nationalsozialistischen Blick auf die Kindheit charakterisiert der Autor als von Beginn an widersprüchlich, und zunehmend mehr von Krieg und Opferkult bestimmt: Standen am Beginn des Krieges Bemühungen um einen Schutz der Minderjährigen vor Gewalt und Krieg durch Evakuation sowie Maßnahmen zum Schutz der kindlichen Gesundheit im Mittelpunkt, zeigten schließlich der Einsatz von Jugendlichen im Volkssturm, dass diese nunmehr als Kriegsfutter galten. Der massenhafte Kindermord in Behindertenheimen, in den besetzten Gebieten, Ghettos und Konzentrationslagern demonstrierte ohnehin, dass das Bild des schützenswerten Kindes nur für das dem nationalsozialistischen Ideal entsprechende ‚arische’ Kind galt.

Kinder wurden direkte Opfer von Gewalt, sie wurden, wie kaum erträgliche Passagen des Buches berichten, Zeugen von Massakern und Massenvernichtung, sie wurden aber auch selbst gewalttätig: In ihren Spielen in der Rolle des prügelnden SS-Mannes und als kämpfende Hitlerjungen im Volkssturm verloren sie ihre kindliche Unschuld. Auch wenn das wahre Ausmaß der Gewalt nationalsozialistischer Politik den meisten deutschen Kindern verborgen blieb, findet Stargardt dennoch viele Beispiele, wie selbstverständlich und oft zustimmend Gewalt gegen Kriegsgefangene und andere als unterlegen wahrgenommene Gruppen von Kindern kommentiert wurde.

Stargardt stützt sich in seiner Darstellung auf eine ganze Reihe zeitgenössischer Quellen – Tagebücher, Briefe, Bilder und Skizzen (die leider nicht abgedruckt sind), Verwaltungsquellen etc. – daneben auch auf Erinnerungsfragmente und Memoiren. Mit diesen nachträglich entstandenen Quellen geht er sehr differenziert um und thematisiert die Frage nach Formen späteren Umgangs mit Kriegskindheit und nachträglichen Deutungsstrategien immer wieder. Der Schlussteil des Buches spaltet sich in zwei Unterkapitel, die jeweils den Erfahrungen des Kriegsendes und der Erinnerung gewidmet sind, zunächst aus der Perspektive der „Defeated“, anschließend aus dem Blick der „Liberated“. Diese Nebeneinanderstellung hebt deutlich hervor, wie weit die Erfahrungen der verschiedenen Gruppen auseinderlagen, wie unvermittelbar ihre Erfahrungswelten erschienen und in welchen Grenzen Gedenk- und Erinnerungsprozesse abliefen. Letztere untersucht Stargardt schwerpunktmäßig für die unmittelbare Nachkriegszeit, mit einzelnen Ausgriffen in die 1950er-Jahre und in die Gegenwart. Ohne verschiedene Leidenskategorien gegeneinander aufzurechnen, arbeitet der Autor heraus, wie sehr sich die Erinnerung der Deutschen auf ihr eigenes Leid konzentrierte, in welcher Weise immer wieder Erinnerungen von Vertriebenen mit dem Jahr 1944 begannen – dem Jahr, in dem aus ihrer Sicht begann, die Welt aus den Fugen zu geraten. „It was then that their world went wrong. To their minds, there was no prior story to be told.“ (S. 340) Dies galt insbesondere für Kinder, die die Vertreibung als ein von außen in ihre Kindheit hereinbrechendes Unglück erlebten und deuteten.

Durch das Aneinanderstellen zweier Unterkapitel, von dem sich das zweite schwerpunktmäßig der kindlichen Verarbeitung von Deportation und KZ-Erfahrungen widmet, bricht Stargardt die Einengung der Erinnerung auf einzelne Gemeinschaften auf. Den in den 1950er-Jahren einsetzenden Boom um das Tagebuch von Anne Frank beurteilt er kritisch: Zum einen fokussiere sich die Erinnerung auf das bewundernswerte, hoffnungsvolle Aushalten der Anne Frank, nicht aber auf ihre Vernichtung in Bergen-Belsen, zum anderen blende die Dominanz dieses Einzelbeispiels jene vielen Kinder aus, die im Krieg nicht ihre Integrität erhalten konnten, sondern deren Überlebenskampf ein Festhalten an Moral und Hoffnung unmöglich machte. Damit trage das Symbol Anne Frank dazu bei, die Radikalität der Gewalterfahrungen von kindlichen Opfern des Nationalsozialismus auszublenden.

Um der Perspektive der Kinder gerecht zu werden, zitiert und paraphrasiert Stargardt im Verlauf des Buches immer wieder ausführlich aus Tagebüchern, Memoiren, Aufsätzen und Briefen von Kindern; gut belegte Fallbeispiele werden ausführlich geschildert. An manchen Stellen wäre es wünschenswert gewesen, diese Perspektive zu ergänzen durch eine tiefer gehende Analyse der Kindheitsvorstellungen bzw. der konkreten Politik der Nationalsozialisten und der jeweiligen Besatzungsorgane, insoweit sie Kinder betraf. Insgesamt jedoch funktioniert die erzählerische Strategie des Autors, ein weites Spektrum von Einzelerfahrungen zu präsentieren, zu analysieren und mit der Erläuterung der konkreten Umstände zu kontextualisieren, außerordentlich gut. Die methodisch differenzierte Darstellung der vielfältigen Umgangsweisen mit Krieg und Gewalt, der Fokus auf Kinder als Handelnde und der feinfühlige Umgang mit den Quellen machen das Buch zu einem wichtigen Beitrag sowohl zur Geschichte der Kindheit als auch zu aktuellen Debatten um Opfer-Täter-Dichtomien und um die gespaltene Erinnerung an den nationalsozialistischen Krieg.

Eine deutsche Übersetzung des Buches soll in diesem Jahr erscheinen. Dies ist umso begrüßenswerter, als das Buch nicht nur eine fachwissenschaftliche Lücke schließt, sondern aufgrund seines klaren, eingängigen Erzählstils auch einem weiteren Publikum zugänglich ist und damit das bisher zum Thema verfügbare „Hitlers Kinder“ von Guido Knopp hoffentlich aus einigen Bücherregalen verdrängt.

Anmerkungen:
1 Das Buch beschränkt sich auf das Reich und die besetzten Ostgebiete. Eine interessante Ergänzung bietet für Frankreich: Ragache, Gilles, Les enfants de la guerre. Vivre, survivre, lire et jouer en France 1939-1949, Paris 1997.
2 Stargardt unterläuft an dieser Stelle eine verfälschende Fehlübersetzung: Dem Bruder kommt zu Gehör, dass Uwe „alle Russen totschießen und dann mit mir türmen wolle“: Timm, Uwe, Am Beispiel meines Bruders, Köln 2003, S. 57. Stargardt macht daraus „his little brother wanted ‚to shoot all Russians and pile them up’ with him“ (S. 159) – ein signifikanter Unterschied.
3 Stargardt ist allerdings nicht der Erste, der diese Spielformen in Ghetto und Konzentrationslager analysiert; herauszuheben ist insbesondere das Werk von: Eisen, Georg, Spielen im Schatten des Todes. Kinder im Holocaust, München 1988, auf das sich Stargardt in Teilen stützt.

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