M. Föllmer u.a. (Hrsg.): Die "Krise" der Weimarer Republik

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Titel
Die "Krise" der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters


Herausgeber
Föllmer, Moritz; Graf, Rüdiger
Erschienen
Frankfurt am Main 2005: Campus Verlag
Anzahl Seiten
367 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heiko Bollmeyer, Abteilung für Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld

Der Krisenzustand der Weimarer Republik bildet einen nahezu unhinterfragbaren Topos der Weimarforschung, der in elaboriertester Form in der einschlägigen Gesamtdarstellung Detlev Peukerts über die „Krisenjahre der Klassischen Moderne“ zum Ausdruck kommt.1 Diesem Befund nehmen die Autor/innen des Sammelbandes „Die ‚Krise’ der Weimarer Republik“ zum Anlass, das entsprechende Deutungsmuster kritisch zu überprüfen. Überzeugend breiten die Herausgeber den theoretischen Rahmen hierfür in der Einleitung aus. Ausgehend von den unzähligen zeitgenössischen Verweisen auf Krisen verschiedenster Art und des entsprechenden Forschungsparadigmas dekonstruieren und historisieren sie den Begriff der Krise. Aus konstruktivistischer Sicht weisen sie darauf hin, dass „Krisen […] nicht in der Welt“ seien und „von Menschen entdeckt“ würden. Sie „konstruieren sich erst in narrativen Strukturen, mit denen die Zeitgenossen oder expost Historikerinnen und Historiker komplexe Prozesse zu erfassen suchen“ (S. 12). Anschließend stellen sie den grundsätzlich vorhandenen produktiven Gehalt einer „Krise“ heraus, indem sie diese in Anschluss an Reinhart Koselleck 2 als eine offene Entscheidungssituation definieren. Somit vereine der Begriff „diagnostische und prognostische Elemente“, wohingegen „im alltagssprachlichen wie auch im historiographischen Gebrauch diese elementare Offenheit […] häufig unterschlagen“ werde (S. 13f.). Dieses sei insbesondere in der Historiografie der Weimarer Republik wegen der nachfolgenden nationalsozialistischen Herrschaft der Fall. Dabei fungiere, so die Kritik, die Krise häufig als „quasi magischer Begriff, der überall dort zum Einsatz gebracht wird, wenn man mit dem Erklären sonst nicht mehr weiterkommt“ (S. 21). Auf diese Weise würden jedoch die Hauptaspekte des Krisenbegriffs – der konstruktive Charakter und die historische Offenheit – vernachlässigt. Dieses versucht der Sammelband einzufangen. So analysieren die Beiträge im ersten Teil die narrative Konstruiertheit und befragen zeitgenössische Diskurse auf die Verwendungen des Krisenbegriffs, während die Beiträge des zweiten Teils das Maß der historischen Offenheit von traditionellen Krisenphänomenen bestimmen. Der Gewinn dieses Ansatzes liegt zum einen darin, das dominierende pessimistische und einseitige Krisenverständnis der Weimarforschung zu revidieren. Zum anderen werden die in zahlreichen gesellschaftlichen Teilbereichen festzustellenden progressiven Entwicklungen als der Krise immanente Möglichkeitsräume gedeutet, sodass neuere kulturgeschichtliche Ergebnisse der Dynamik mit politik- und wirtschaftsgeschichtlichen Befunden des Niedergangs in einen inneren Zusammenhang gestellt werden. Um dieses zu verdeutlichen, skizzieren die Herausgeber einen Überblick über die Forschungen „jenseits des ‚Krisen’-Paradigmas“ (S. 23), in welchem sie die neueren Arbeiten 3 von bisherigen Ansätzen abgrenzen und in diesem Kontext die Beiträge des Sammelbandes verorten.

Den Beginn macht Michael Makropoulus mit seinem Beitrag über „Krise und Kontingenz“, in welchem der Autor nachweist, dass Intellektuelle unterschiedlicher politischer Couleur übereinstimmend eine „Krise der Wirklichkeit“ infolge der Kriegserfahrungen konstatieren und daraus Kontingenz als neue zentrale Kategorie ableiten. Um mit dieser umzugehen, entwerfen sie unterschiedliche Lösungsansätze, wobei der entscheidende Unterschied darin besteht, ob sich die Kontingenz überwinden lässt. Dabei kam es zu überraschenden Kongruenzen, wenn Carl Schmitt und Walther Benjamin auf eine notwendige Aufhebung abzielten, wohingegen z.B. Helmuth Plessner und Hermann Heller für einen toleranten Umgang plädierten. In ähnlicher Weise setzt sich Rüdiger Graf mit der „‚Krise’ im intellektuellen Zukunftsdiskurs“ auseinander. So untersucht er die Verwendung des Krisenbegriffs in unterschiedlichen politischen Kulturzeitschriften und kann dabei die These belegen, dass die „Diagnose einer Krise nirgendwo Pessimismus oder Untergangsstimmung“ (S. 91) ausdrücke, sondern dass die Thematisierung einer „Krise“ funktional eingesetzt wurde, um eigene Zukunftsvorstellungen zur Überwindung derselben zu profilieren.

Die anschließenden Beiträge wenden sich den Krisendiskursen in spezifischen Bereichen der Weimarer Gesellschaft zu. So kann Per Leo anhand der Entwicklung des deutschen Verbandsfußballs zeigen, dass die Verantwortlichen ab 1930 bestehende Einzelprobleme zu einem Problemkonglomerat vermengten und so ein umfassendes Krisenszenario des deutschen Fußballs entwarfen, um einen Veränderungsdruck zu erzeugen. Die semantischen Etablierungs- und Veränderungsprozesse spezifischer Krisenbegriffe zeichnet Daniel Siemens für die Justiz anhand der „Vertrauenskrise“ nach, indem er aufzeigt, wie sich dieser Begriff von einer ursprünglichen Kritik von linker Seite am tradierten Justizwesen zu einem Begriff der Rechten als Kritik an der republikanischen Aufweichung desselben verschob. Ähnliche Entwicklungen kann Sebastian Ullrich anhand des „Streit[s] um den Namen der ersten deutschen Demokratie“ aufzeigen. Die Abgeordneten der Weimarer Nationalversammlung hätten ihrem Staat zwar den Namen „Deutsches Reich“ gegeben, der sich als Sammlungsbegriff der republikanischen Kräfte jedoch nicht habe durchsetzen können. Vielmehr sei dieser Begriff im Verlauf der 1920er-Jahren verstärkt von den Republikgegnern für ihre staatsfeindlichen Ziele übernommen worden, welche zudem den Begriff der Weimarer Republik zur Diffamierung des Staates lancierten. Im Unterschied zur von Siemens untersuchten „Vertrauenskrise“ der Justiz ist jedoch bei der von Ullrich unterstellten „Namenskrise“ kritisch einzuwenden, ob man aufgrund der fehlenden zeitgenössischen Krisendeutung besser von einer „Namensproblematik“ sprechen sollte. Denn nicht jedes Problem ist eine Krise und sollte auch expost nicht zu einer solchen stilisiert werden, um den gerade gewonnenen analytischen Gehalt des Krisenbegriffs zu verspielen.

Ein weiteres Problem der gewählten diskursanalytischen Herangehensweise drängt sich bei der Lektüre des Aufsatzes von Florentine Fritzen über das neuzeitliche Leben der Reformhausbewegung auf. So kann die Autorin fundiert nachweisen, mit welchen Konzepten diese Bewegung auf die Krise des alltäglichen Lebens mit Blick auf die Frauen und Jugendlichen reagierte. Offen bleibt jedoch die Frage, wie dieser Krisendiskurs politisch wirksam wurde, wie die Herausgeber in der Einleitung für ihren Ansatz in Anspruch nehmen. Die Verschränkung von fachspezifischen und politischen Diskursen zeigt dagegen vorbildlich der Beitrag „Krisenkalkulationen“ von Christiane Reinecke. Darin bestimmt die Autorin die Rolle der Demografen als „Experten“, welche die prognostizierte Bevölkerungsentwicklung zu demografischen Krisenszenarien der „Überbevölkerung“ bzw. später der „Unterbevölkerung“ zuspitzten, um politische Lösungsstrategien wissenschaftlich zu empfehlen. Den Erfolg dieser Strategie kann Reinecke mit der Tatsache belegen, dass die entsprechenden Studien von den parlamentarischen Entscheidungsträgern eingesetzt wurden, die sich „des legitimatorischen Potenzials einer drohenden ‚Entvölkerung’ [bedienten], um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen“ (S. 232). Mit der Krisenrhetorik sei es also einzelnen Bevölkerungsstatistiker/innen gelungen, sich als „Experten an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik“ (S. 239) zu positionieren.

Die Beiträge des zweiten Teils wenden sich einzelnen Krisenphänomenen zu, die auf die Offenheit der historischen Entwicklung mit optimistischen wie pessimistischen Deutungen befragt werden. So untersucht Thomas Raithel unter funktionalen Gesichtspunkten „Funktionsstörungen des Weimarer Parlamentarismus“ und kommt zu dem Schluss, dass der Weimarer Reichstag in legislativer Hinsicht zwar Beachtliches geleistet habe, bei der regierungstragenden Funktion jedoch erhebliche Schwächen aufweise. Diese seien insbesondere von der zeitgenössischen Presse als Krise des parlamentarischen Systems gedeutet, womit das Ansehen des Reichstags geschwächt und die parlamentarischen Handlungsspielräume zunehmend eingeengt wurden.

Zwei weitere vermeintliche Krisen nehmen die anschließenden Beiträge in den Blick. Am Beispiel des Straßenhandels und der Versicherungszeitschriften schwächt Gideon Reuveni die „Krise des Lesens“ ab, da diese Medien auf die sich verändernden Lesebedürfnisse der Weimarer Zeit reagierten und mit konsumorientierten Inhalten wirtschaftlich erfolgreich waren. Ebenfalls relativierend setzt sich Moritz Föllmer mit der „Krise des Subjekts“ auseinander, indem er das Individualitätsstreben junger Frauen untersucht und konstatiert, dass einzelne Frauen, unterstützt durch die Boulevardpresse, durchaus nach Selbstständigkeit strebten und darin mehr oder weniger erfolgreich waren. Damit hätten sie, so schlussfolgert Föllmer, „zu einer Kultur bei[getragen], in der überkommende Normen vielfach in Frage gestellt und neue Deutungsangebote und Selbstentwürfe erprobt wurden“ (S. 314).

Stärker kunst- bzw. literaturgeschichtlich ausgerichtet sind die abschließenden Beiträge von Michael Mackenzie über die „Maschinenmenschen“ und von Benjamin Robinson über die „Krise des Willens“ bei Hans Fallada. Mackenzie bettet die künstlerischen Produkte in den Kontext der entstehenden technokratischen Sportphysiologie ein und interpretiert die Darstellungen von Georg Grosz weniger als Kritik an der veränderten Körperkultur, sondern als Lösungsansätze dieser „Körperkrise“. Ebenso ist das Leben und Werk von Hans Fallada in den Augen von Robinson weniger ein Beleg für die Krise des bürgerlichen Lebens in der Weimarer Republik, sondern ein produktiver, wenn auch letztlich gescheiterter Versuch, diese zu überwinden.

Am Ende des Bandes fehlt eine Zusammenfassung dieser verschiedenen Analysen zur „Krise“ der Weimarer Republik, um auf den Einzelergebnissen aufbauend die eingangs entwickelten Thesen auf ihre Tragweite zu befragen. Die in der Einleitung skizzierten Schlussfolgerungen bleiben hierfür zu pauschal, etwa bei dem Hinweis, dass die Beiträge „wichtige Gesichtspunkte zur Erklärung des Scheiterns der Republik“ (S. 39) beitragen. So habe die dramatisierende Krisenrhetorik mit dem Entscheidungsdrängen das parlamentarische System unterminiert, indem insbesondere rechte Politiker die „Krisen“ zur Kontrastfolie ihrer eigenen Ziele stilisierten. Um dieses zu belegen, ist jedoch eine stärkere Verschränkung der jeweiligen Krisendiskurse mit dem Diskurs auf politischer Ebene notwendig. Dennoch bietet der Sammelband mit seinem Ansatz, die narrative Konstruktion und die historische Offenheit von Krisen in den Mittelpunkt zu stellen, sowohl einen elaborierten theoretischen Zugriff auf die Geschichte der Weimarer Republik, der an neueren Ansätze einer Politischen Kulturgeschichte 4 ansetzt, als auch eine analytisch stringente Zusammenführung der für die Weimarer Republik so charakteristischen dynamischen und krisenhaften Prozessen.

Anmerkungen:
1 Peukert, Detlev J.K., Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987.
2 Koselleck, Reinhart, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt am Main 1989.
3 Exemplarisch: Mergel, Thomas, Parlamentarische Kultur der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2002.
4 Vgl. Mergel, Thomas, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574-606; Landwehr, Achim, Diskurs – Macht – Wissen. Perspektiven einer Kulturgeschichte des Politischen, in: Archiv für Kulturgeschichte 85 (2003), S. 71-117; Frevert, Ute; Haupt, Heinz-Gerhard (Hgg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt am Main 2005.

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