Zur Geschichte der Medizin und des Gesundheitswesens im NS

: NS-Gesundheitspolitik in Oberdonau. Die administrative Konstruktion des "Minderwertes". Linz 2004 : Oberösterreichisches Landesarchiv, ISBN 3-900313-72-5 234 S. € 35,00

: Zwangssterilisation und 'Euthanasie' im Saarland 1935-1945. . Paderborn 2004 : Ferdinand Schöningh, ISBN 3-506-71727-8 368 S. € 39,90

: Eugenik und Rassenhygiene in Münster zwischen 1918 und 1939. . Berlin 2004 : Weißensee Verlag, ISBN 3-89998-035-2 167 S. € 26,00

Freidl, Wolfgang; Sauer, Werner (Hrsg.): NS-Wissenschaft als Vernichtungsinstrument. Rassenhygiene, Zwangssterilisation, Menschenversuche und NS-Euthanasie in der Steiermark. Wien 2004 : Facultas Universitätsverlag, ISBN 3-85076-656-X 360 S. € 29,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Vossen, Institut für Geschichte der Medizin, Charité ­Berliner Hochschulmedizin

Der Themenbereich „Medizin im Nationalsozialismus“ gehört in der historischen und medizinhistorischen Forschung zweifellos zu den bevorzugten Forschungsgebieten der vergangenen Jahrzehnte. Trotz dieser Anstrengungen sind viele Themenfelder besonders auf regionaler bzw. kommunaler Ebene bis jetzt nicht angemessen untersucht worden, sodass die vorliegenden vier Studien zum Teil empfindliche Forschungslücken schließen helfen. Die vier Arbeiten befassen sich mit unterschiedlichen Themenfeldern und sind daher nicht direkt aufeinander beziehbar. Sie werden deshalb nacheinander besprochen.

1. Forschungen zur Geschichte von Zwangssterilisationen und Krankenmorden im Nationalsozialismus

Seit den bahnbrechenden Standardwerken von Gisela Bock 1 und Hans-Walter Schmuhl 2 zur Geschichte der Zwangssterilisationen und Krankenmorde im Nationalsozialismus haben eine Vielzahl von Regionalstudien eine Forschungstradition zu diesen Themenbereichen begründet, an die die vorliegende Doktorarbeit von Christoph Braß anknüpft. Braß hat vor allem die noch vorhandenen 378 Fallakten des Erbgesundheitsgerichts Saarbrücken und 820 Patientenakten der saarländischen Heil- und Pflegeanstalt Merzig ausgewertet und dabei auch den großen Bestand von T 4-Fallakten im Bundesarchiv berücksichtigt. Seine Arbeit schließt für das Saarland und auch in allgemeiner Hinsicht eine Forschungslücke. Während die bisher vorliegenden Arbeiten zu den Themenbereichen Zwangssterilisation und Euthanasie meist städtische Ballungsräumen oder einzelne Anstalten behandelten, geht Braß auf die Entwicklungen in einer „gemischt strukturierten räumlichen Einheit“ mit einem „Nebeneinander von städtisch-industriellen und agrarisch-dörflichen Milieus“ (S. 31) ein. Darüber hinaus ist das Saarland eine Grenzregion, aus der sowohl am Anfang wie am Ende des II. Weltkriegs Evakuierungen stattfanden; von daher ergeben sich interessante Vergleichsmöglichkeiten zu den Grenzregionen im Osten des Reiches, die ebenfalls von Evakuierungen betroffen waren. Dabei geht es Braß inhaltlich „zum einen um die Analyse der Verfahrensabläufe, die Ermittlung von Opferzahlen und um Vergleiche mit anderen Regionen; zum anderen aber auch um die Beschreibung der individuellen Handlungsmöglichkeiten der betroffenen und beteiligten Personen und Institutionen.“ (S. 30)

Die zahlreichen Einzelergebnisse der Studie können hier nicht detailliert referiert werden. Was die statistischen Angaben zu den Zwangssterilisationen und die Verfahrensabläufe angeht, so weichen diese nur wenig von der Entwicklung im „Reich“ ab. Eine Phasenverzögerung ist allerdings anzumerken. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) wurde im Saarland nach dem Anschluss an Deutschland im Februar 1935 eingeführt; im Oktober 1935 erfolgte die Einrichtung des Erbgesundheitsgerichts Saarbrücken. 1.800 der bis 1943 nachweisbaren 2.986 Anträge wurden in den Jahren 1936 und 1937 gestellt, dann fiel die Zahl schnell ab, um mit Kriegsbeginn weitgehend bedeutungslos zu werden.

Ein Vorzug der Arbeit von Braß liegt darin, dass er die in der Forschung zu den Zwangssterilisationen lange vernachlässigte Tätigkeit der Gesundheitsämter in den Mittelpunkt seiner Darstellung rückt. Dabei werden auch die unterschiedlich hoch ausgeprägten Antragsquoten der Amtsärzte herausgearbeitet. Mit Recht hebt Braß die zentrale Rolle der Amtsärzte bei den Sterilisationsverfahren hervor. Leider untersucht er nicht flächendeckend am Beispiel der jeweiligen Biografien, worauf diese Unterschiede im Antragsverhalten der Amtsärzte eigentlich zurückzuführen sind; er geht ihnen lediglich am Beispiel einer einzigen (besonders interessanten) Amtsarztkarriere nach.

Der besondere Gewinn der Arbeit von Braß liegt in seinen detaillierten Auswertungen des Fallaktenmaterials zu den Zwangssterilisationen. Braß bestätigt die Auffassung Bocks, das die Sterilisationsdiagnostik soziale Diagnostik war und kommt zu dem Ergebnis, dass die Normverstöße, die in die Diagnosen besonders beim „angeborenen Schwachsinn“ eingingen, sich in drei Gruppen fassen lassen: „Neben dem Bruch strafrechtlicher Regeln und der Vernachlässigung ‚bürgerlicher Tugenden’ in Haushaltsführung und Beruf spielten vor allem Verletzungen der Sexualmoral eine wichtige Rolle.“ (S. 98)

Von besonderem Wert für die allgemeine Geschichte von Zwangssterilisationen und Krankenmorden sind auch die Kapitel, in denen sich Braß mit den Handlungsspielräumen und Reaktionen von Opfern und Tätern von Zwangssterilisationen und Krankenmorden befasst (S. 156-178, 302-326). Insgesamt hat Braß eine sorgfältige, materialreiche und analytisch dichte Arbeit vorgelegt, die den Wissensstand über die Geschichte von Zwangssterilisationen und Krankenmorden in der NS-Zeit erweitert.

2. Forschungen zur Theoriegeschichte von Eugenik und Rassenhygiene

Forschungen zur Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland sind seit den 1980er-Jahren intensiv betrieben worden. Nach dem Gesamtüberblick von Weingart, Kroll und Bayertz 3 wurden die Eugenikkonzepte in einzelnen gesellschaftlichen Milieus, so vor allem die sozialistische Eugenik durch Michael Schwartz 4 und die protestantische Eugenik durch Sabine Schleiermacher am Beispiel ihres Hauptvertreters Hans Harmsen 5 intensiv erforscht. Die grundlegende Arbeit zur katholischen Eugenikrezeption erschien zeitlich versetzt vor einigen Jahren aus der Feder von Ingrid Richter.6 Alle diese Forschungen bewegen sich weitgehend auf der Diskursebene, analysieren also nicht die Umsetzung der jeweiligen Eugenikkonzepte. An diese Forschungen knüpft die vorliegende Arbeit von Jan Nikolas Dicke an. Dicke untersucht vor allem die Rezeption von Eugenik und Rassenhygiene an der Universität Münster zwischen 1918 und 1939. Er kann in seiner tour d’ horizon durch die Münsteraner Universitätslandschaft in der Medizinischen, der Rechts- und staatswissenschaftlichen und der Katholisch-theologischen Fakultät überzeugende Belege für die Aufnahme eugenischer Konzepte durch einzelne Vertreter dieser Fakultäten in der Weimarer Republik und ihre Radikalisierung in der NS-Zeit präsentieren. Ein Zentrum der Weimarer Eugenik an der Universität Münster war das Seminar für Fürsorgewesen, an dem sich neben Theologen auch Juristen und Mediziner engagierten. Wichtige Vertreter der Katholisch-theologische Fakultät in der Weimarer Republik, so Heinrich Weber und vor allem der Zentrums-Prälat und Reichstagsabgeordnete Georg Schreiber lassen sich in ihrer Betonung einer gemäßigten, positiv-eugenischen Ausrichtung der Sozial- und Familienpolitik nahtlos in den allgemeinen main stream der katholischen Eugenik in der Weimarer Republik einordnen. Schreiber spielte darüber hinaus eine wichtige Rolle bei der Verankerung der katholischen Eugenik auf nationaler Ebene in dem 1927 gegründeten Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin. In ihm übernahm auf Anregung Schreibers der Jesuitenpater Hermann Muckermann die Abteilungsleitung für Eugenik. Diese Tradition katholischer Eugenik an der Katholisch-theologischen Fakultät wurde allerdings durch den Nationalsozialismus abgebrochen, Schreiber zum Beispiel 1935 aus Münster versetzt.

Ein weiteres Zentrum der Eugenik bzw. Rassenhygiene an der Universität Münster war ab den 1920er-Jahren das Hygiene-Institut unter Jötten, später auch das Anatomische Institut, bei dem auch ab Ende der 1930er-Jahre ein von Paul Kremer wahrgenommener Lehrauftrag für menschliche Erblehre angesiedelt war. Zusätzlich wurde die Medizinische Fakultät durch linientreue Neuberufungen wie die von Victor Schilling im Jahre 1934 im Sinne der Rassenhygiene ‚aufgerüstet’. Dicke zeigt durch detaillierte Analysen der Arbeiten des Psychiaters Ferdinand Kehrer und des Gerichtsmediziners Heinrich Többen darüber hinaus, wie ein protestantischer (Kehrer) und ein katholischer Eugeniker (Többen) sich ab 1933 der NS-Rassenhygiene zur Verfügung stellten, Kehrer als Beisitzer beim Erbgesundheitsobergericht Münster, Többen als Leiter der Kriminalbiologischen Sammelstelle in Münster. Eine ähnliche Analyse leistet er für den öffentlichen Gesundheitsdienst in Münster an den Beispielen des Amtsarztes Robert Engelsmann und des Leiters des Münsteraner Medizinaluntersuchungsamtes, Alwin Besserer.

Insgesamt kommt Dicke zu dem Ergebnis, dass sich an der Universität Münster „schon vor der Machtübernahme ein fakultätsübergreifender eugenisch-rassenhygienischer Konsens“ herausgebildet hatte, der im Wesentlichen in der Akzeptanz positiv-eugenischer Maßnahmen bestand, und der die Fortführung der bisher geleisteten Arbeit in der Zeit des ‚Dritten Reiches’ erleichterte (S. 140). Die Widerstandslegenden, die sich in der Münsteraner Historiografie immer noch finden lassen, destruiert er mit dem kühlen Fazit: „Von ernstzunehmender Gegenwehr gegen die NS-Rassenhygiene, von einem konfessionell und mentalitätsbedingten ‚Bollwerk’ gar, kann keine Rede sein; im Gesundheitswesen […] ebenso wenig wie an der Universität Münster.“ (S. 140) Dicke ist eine überzeugende Arbeit gelungen, die sowohl für die Universitätsgeschichte wie für die Geschichte des öffentlichen Gesundheitswesens der Stadt Münster einen wichtigen Beitrag leistet.

3. Forschungen zur Geschichte des öffentlichen Gesundheitsdienstes im Nationalsozialismus

Dass der öffentliche Gesundheitsdienst mit seinen 1935 reichsweit eingerichteten Gesundheitsämtern eine zentrale Institution zur Umsetzung der NS-Rassenhygiene war, wissen wir seit der Pionierarbeit von Alfons Labisch und Florian Tennstedt aus dem Jahre 1985.7 Doch lange war über das konkrete Funktionieren des öffentlichen Gesundheitsdienstes wenig bekannt. Dies änderte sich erst in den vergangenen Jahren durch genaue Untersuchungen einzelner Gesundheitsämter in Städten oder ganzen Regionen.8

An diesen Forschungsstrang knüpft die Arbeit des österreichischen Historikers Josef Goldberger an. Goldberger ist als Abteilungsleiter am Oberösterreichischen Landesarchiv in Linz tätig und hat die dort vorhandenen Archivalien, aber auch die zentralen Quellenbestände in Wien und Berlin für sein Thema in vorbildlicher Weise ausgewertet. Seine Monografie eröffnet ein derzeit wohl einmaliges Großprojekt: eine vom Oberösterreichischen Landtag beschlossene, auf 9 Bände angelegte Veröffentlichungsreihe über „Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus“, die vom Oberösterreichischen Landesarchiv koordiniert wird.

Goldberger untersucht in seiner Arbeit über die NS-Gesundheitspolitik im neu geschaffenen Reichsgau „Oberdonau“ zunächst den Aufbau der staatlichen Gesundheitsverwaltung in Deutschland und Österreich, wobei auch die wichtigsten Akteure auf der Basis ihrer Personalakten vorgestellt werden. Dabei verblüfft einmal mehr die auch von Goldberger herausgearbeitete, fast ungebrochene Kontinuität des Personals, das über die Systembrüche der 1930er und 1940er-Jahre hinaus in der Regel im Amt blieb. Die erbbiologischen Selektionen in den Gesundheitsämtern wurden nicht von hohen Partei- oder SS-Chargen vorgenommen, „sondern von ‚honorigen’ Verwaltungsbeamten und Amtsärzten durchgeführt – wenngleich diese selbstredend überzeugte, vielfach auch schon illegale NSDAP-Mitglieder waren“ (S. 10). Dazu wurde das reichsdeutsche Modell eines öffentlichen Gesundheitsdienstes in der „Ostmark“ mit der Inkraftsetzung des Gesetzes „zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“ zum 1.12.1938 und dem Inkrafttreten des GzVeN zum 1.1.1940 zügig übernommen. Allerdings war „infolge des kriegsbedingten Personal- und Ressourcenmangels“ die Effektivität der NS-Gesundheitsverwaltung „von vornherein geschwächt“ (S. 40). Dennoch hatte die Tätigkeit der Gesundheitsämter und Erbgesundheitsgerichte im Jahre 1942 einen „unter den gegebenen Umständen durchaus beachtlichen quantitativen und qualitativen Höhepunkt“ (S. 41), erreichte aber nie das Altreich-Niveau der Jahre 1935 und 1936.

Im Anschluss daran untersucht Goldberger dann die rassenhygienischen Arbeitsgebiete der Gesundheitsämter. Beginnend mit den geburtenfördernden Tätigkeitsbereichen „positiver Eugenik“ (Kinderbeihilfen, Ausbildungsbeihilfen, Ehrenkreuz der Deutschen Mutter, Ehestandsdarlehen, Ehevermittlung etc.) wird der gesamte Tätigkeitskatalog der NS-Gesundheitsämter im Bereich der Rassenhygiene abgehandelt. Viele dieser Themenbereiche können allerdings, wohl auf Grund der Quellenlage, nur angerissen werden. Ein weiterer Schwerpunkt der Studie sind die „ausmerzenden“ Maßnahmen der Gesundheitsämter, also vor allem Zwangssterilisationen und Eheverbote. Außerdem geht Goldberger auch auf die Mitwirkung der Gesundheitsämter an der 1939 anlaufenden Mordaktion gegen kranke und behinderte Kinder (die so genannte Kinder-„Euthanasie“) ein, skizziert ihre Zusammenarbeit mit den psychiatrischen Anstalten Hartheim und Niedernhart (Hartheim war eine der Mordanstalten im Rahmen des T 4-Programms) 9 und beleuchtet ihre „maßgebliche Beteiligung“ (S. 139) bei der „Asozialen“-Bekämpfung. Es folgen Kapitel über die Tätigkeit der Erbgesundheitsgerichte bei der Durchführung der Zwangssterilisationen und über die „erbbiologische Bestandsaufnahme“ der Gesundheitsämter, dieses gigantischen, heute fast vergessenen Erfassungsvorhabens der NS-Gesundheitsbürokratie, das die Verkartung der gesamten, in irgendeiner Hinsicht „erbkranken“ Bevölkerung des Deutschen Reiches zum Ziel hatte. Wo immer es die Quellenlage erlaubt, versucht der Autor zu quantifizieren, damit die zahlenmäßige Dimension der Tätigkeit der Gesundheitsämter deutlich wird.

Goldberger untersucht außerdem den anthropologischen Rassismus in der Gesundheitsverwaltung, an dem die Gesundheitsämter in vielfacher Hinsicht mitwirkten. Dabei behandelt er vor allem die Untersuchungen gegen jüdische Menschen sowie Sinti und Roma nach dem „Blutschutzgesetz“ mit dem Ziel von Eheverboten, Zwangsabtreibungen bei ausländischen Zwangsarbeiterinnen und Eindeutschungsuntersuchungen „Fremdvölkischer“.

Goldbergers gelungene Arbeit zeigt einmal mehr, wie tief die NS-Rassenpolitik auch in die Gesundheitsverwaltung des annektierten Österreich eingedrungen war und wie „die administrative Konstruktion des Minderwertes“ ihre Tätigkeit bestimmte. Weitere, ähnlich angelegte Regionalstudien sind unbedingt wünschenswert, damit irgendwann ein vollständiges Bild der Umsetzung der NS-Rassenhygiene auf regionaler und lokaler Ebene gezeichnet werden kann.

4. Forschungen zur Geschichte der Hochschulmedizin im Nationalsozialismus

Die Erforschung der Hochschulmedizin im Nationalsozialismus gehörte ebenfalls zu den bevorzugten Themengebieten der vergangenen Jahre. Während aber für einige Universitäten (so Hamburg, Marburg, Düsseldorf, Freiburg, Jena, Berlin und Bonn) mittlerweile Monografien oder Sammelbände in unterschiedlicher Qualität vorliegen 10, fehlen diese nach wie vor für andere Universitätsstandorte, so z.B. für München oder Münster. Die Verwicklung der medizinischen Disziplinen in die NS-Vernichtungspolitik hat darüber hinaus in den großen Forschungsprojekten zur Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und der Deutschen Forschungsgemeinschaft, deren Ergebnisse nach und nach erscheinen, eine wichtige Rolle gespielt.11 In diesem allgemeinen Forschungskontext ist auch der vorliegende Sammelband „NS-Wissenschaft als Vernichtungsinstrument“ zu verorten, der „Rassenhygiene, Zwangssterilisation, Menschenversuche und NS-Euthanasie in der Steiermark“ vorwiegend am Beispiel der Universität Graz untersucht. In dem heterogenen Band sind Arbeiten der Forschungsgruppe um Wolfgang Freidl und Werner Sauer versammelt, die die NS-Vergangenheit der Grazer Universität seit einigen Jahren intensiv erforscht und dazu bereits zwei Bände publiziert hat.12

Der erste Teil des Bandes dokumentiert durch den Abdruck der Sendetexte zwei ORF-Sendungen der Jahre 1982 und 1984 zum Thema „Unwertes Leben – Psychiatrie in der NS-Zeit“ (S. 15-57). Der zweite Teil besteht aus dem Wiederabdruck von drei Beiträgen zur Grazer Universitätsgeschichte in der NS-Zeit, die erstmals im Jahre 1985 unter dem Titel „Grenzfeste Deutscher Wissenschaft“ erschienen sind (S. 61-136). Diese Texte sind keineswegs nur von antiquarischem Interesse; der Beitrag von Christian Fleck über „Zusammensetzung und Karrieren der Dozentenschaft der Karl-Franzens Reichsuniversität Graz“ (S. 87-111) enthält zum Beispiel eine detaillierte, quantitative Analyse über Mobilität, Altersstruktur und Karrierewege der Grazer Universitätsdozenten, die man sich in dieser Form auch für andere Hochschulen wünschen würde. Teil drei des Bandes enthält „neue Forschungen“ zur Geschichte der Grazer Universität. Klaus Hödl untersucht die „Konturen der ‚Grazer Rassenhygiene’“ (S. 139-176), Birgit Poier befasst sich in einem sehr lesenswerten Artikel mit der „Umsetzung einer rassenhygienisch motivierten Gesundheits- und Sozialpolitik in der Steiermark 1938-1945“ (S. 177-224) und Gabriele Czarnowski informiert über erste Ergebnisse ihres laufenden Forschungsprojektes über die gynäkologische Universitätsfrauenklinik Graz, wobei sie vor allem „missbräuchlichen medizinischen Praktiken“ nachgeht (S. 225-273). Die weiteren drei Beiträge beschäftigen sich mit den Krankenmorden in der Anstalt Hartheim, wobei der Beitrag von Heimo Halbrainer auf den Widerstand gegen die Krankenmorde in Graz eingeht (S. 335-344). Insgesamt ein Band, der trotz seines heterogenen Inhalts eine Bereicherung für die Medizin- und Universitätsgeschichte der NS-Zeit darstellt.

Die vorliegenden Arbeiten zeigen, dass das Themenfeld „Medizin im Nationalsozialismus“ noch lange nicht ausgeforscht ist. Vielmehr benötigen wir vor allem auf kommunaler und regionaler Ebene weitere Untersuchungen zur Geschichte des öffentlichen Gesundheitswesens, vor allem der Gesundheitsämter, und zur Hochschulmedizin im Nationalsozialismus.

Anmerkungen:
1 Bock, Gisela, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986.
2 Schmuhl, Hans-Walter, Rassenhygiene, Nationalsozialismus und Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ 1890-1945, Göttingen 1987.
3 Weingart, Peter; Kroll, Jürgen; Bayertz, Kurt, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt am Main 1988.
4 Schwartz, Michael, Sozialistische Eugenik. Eugenische Sozialtechnologien in Diskurs und Politik der deutschen Sozialdemokratie 1890-1933, Bonn 1995.
5 Schleiermacher, Sabine, Sozialethik im Spannungsfeld von Sozial- und Rassenhygiene. Der Mediziner Hans Harmsen im Centralausschuß für die Innere Mission, Husum 1998.
6 Richter, Ingrid, Katholizismus und Eugenik in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Zwischen Sittlichkeitsreform und Rassenhygiene, Paderborn 2001.
7 Labisch, Alfons; Tennstedt, Florian, Der Weg zum „Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“ vom 3. Juli 1934. Entwicklungslinien und -momente des staatlichen und kommunalen Gesundheitswesens in Deutschland, 2 Bde., Düsseldorf 1985
8 Vgl. Nitschke, Asmus, Die ‚Erbpolizei’ im Nationalsozialismus. Zur Alltagsgeschichte der Gesundheitsämter im Dritten Reich, Opladen 1999; Vossen, Johannes, Gesundheitsämter im Nationalsozialismus. Rassenhygiene und offene Gesundheitsfürsorge in Westfalen 1900-1950, Essen 2001; Czech, Herwig, Erfassung, Selektion und „Ausmerze“. Das Wiener Gesundheitsamt und die Umsetzung der nationalsozialistischen „Erbgesundheitspolitik“ 1938 bis 1945, Wien 2003.
9 Zu Hartheim ist im Rahmen der Veröffentlichungsreihe zur NS-Geschichte in „Oberdonau“ mittlerweile ein eigener Sammelband erschienen: Oberösterreichisches Landesarchiv, Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim (Hgg.), Tötungsanstalt Hartheim, Linz 2005.
10 Vgl. Van den Bussche, Hendrik (Hg.), Medizinische Wissenschaft im „Dritten Reich“. Kontinuität, Anpassung und Opposition an der Hamburger Medizinischen Fakultät, Berlin 1989; Esch, Michael G.; Griese, Kerstin; Sparing, Frank; Woelk, Wolfgang (Hgg.), Die Medizinische Akademie Düsseldorf im Nationalsozialismus, Essen 1997; Zimmermann, Susanne, Die Medizinische Fakultät der Universität Jena während der Zeit des Nationalsozialismus. Berlin 2000; Aumüller, Gerhard; Grundmann, Kornelia; Krähwinkel, Esther (Hgg.), Die Marburger Medizinische Fakultät im Dritten Reich, München 2001; Grün, Bernd; Hofer, Hans-Georg; Leven, Karl-Heinz (Hgg.), Medizin im Nationalsozialismus. Die Freiburger Medizinische Fakultät und das Klinikum in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“, Frankfurt am Main 2002; David, Heinz, Die Medizinische Fakultät (Charité) im Nationalsozialismus (1933-1945), in: Ders., „…es soll das Haus die Charité heißen…“ Kontinuitäten, Brüche und Abbrüche sowie Neuanfänge in der 300jährigen Geschichte der Medizinischen Fakultät (Charité) der Berliner Universität, Bd. 1, Hamburg 2004, S. 190-313; Forsbach, Ralf, Die Medizinische Fakultät der Universität Bonn im „Dritten Reich, München 2006.
11 Vgl. Kaufmann, Doris (Hg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, 2 Bde., Göttingen 2000; Schmuhl, Hans-Walter (Hg.), Rassenforschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten vor und nach 1933, Göttingen 2003; Sachse, Carola (Hg.), Die Verbindung nach Auschwitz. Biowissenschaften und Menschenversuche an Kaiser-Wilhelm-Instituten. Dokumentation eines Symposiums, Göttingen 2004; Schmuhl, Hans-Walter, Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927-1945, Göttingen 2005; Eckart, Wolfgang U. (Hg.), Man, Medicine and the State. The Human Body as an Object of Government Sponsored Medical Research in the 20th Century, Stuttgart 2006.
12 Freidl, Wolfgang; Kernbauer, Alois; Noack, Richard H.; Sauer, Werner (Hgg.), Medizin und Nationalsozialismus in der Steiermark, Innsbruck 2001; Scheiblechner, Petra, „…politisch ist er einwandfrei…“ Kurzbiografien der an der Medizinischen Fakultät der Universität Graz in der Zeit von 1938 bis 1945 tätigen WissenschaftlerInnen, Graz 2002.

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