Cover
Titel
Das sowjetische Massenfest.


Autor(en)
Rolf, Malte
Erschienen
Anzahl Seiten
453 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Stadelmann, Institut für Geschichte, Lehrstuhl Osteuropäische Geschichte, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Die methodischen Schlüsselbegriffe erlauben keinen Zweifel: Malte Rolfs Dissertation über das sowjetische Massenfest gehört zur Neuen Kulturgeschichte. Es ist vom „Festdiskurs“, von „Bedeutungszuschreibungen“ von „Kommunikationsräumen“ und „kommunikativen Spielregeln“ die Rede; es geht um „rituelle Handlungen“, „symbolische Politik“, „Deutungsmuster“ und das „Sich-Einschreiben“ in solche Konstellationen. Wer freilich glaubt, in diesem Buch eine Bestätigung seiner Skepsis gegenüber der modischen kulturgeschichtlichen Terminologie (nach dem Motto „viel Vokabular, wenig Geschichte“) zu finden, irrt. Es handelt sich um eine ausgezeichnete historische Untersuchung: Auf geradezu mustergültige Art und Weise führt Rolf am konkreten Beispiel die Perspektiven kulturgeschichtlicher Ansätze vor. Dass die Verortung des sowjetischen Festes in der Diskurs- und Kommunikationsanalyse die Kategorien Politik und Gesellschaft explizit inkludiert, ist nur eine Stärke der Untersuchung; dass der Autor mit seinen Ergebnissen keine radikale Umwertung der sowjetischen Geschichte postuliert, sondern durch neuartige Konzeptualisierung und kluge Überlegung versucht, über kulturelle Phänomene dem Verhältnis von sowjetischer Politik und Gesellschaft in den 1920er und 1930er-Jahren näher zu kommen, ist eine Weitere.

Malte Rolf begreift das sowjetische Massenfest einerseits als symbolische, rituelle, inszenierte Form von Politik, anderseits als Kommunikationsgeflecht von Herrschaft und Gesellschaft, von System und Subjekt (über deren gleichzeitige Trennung und Symbiose er ebenso intelligent reflektiert wie darüber, dass auch die „Mächtigen“ unter sich Kommunikations- und Verständigungsbedarf hatten und denselben unter anderem in den festlichen Inszenierungen verwirklichten). Unter diesen Annahmen ist das Massenfest ein entscheidender Ort der Realisierung und Vermittlung sowjetischer Politik, aber auch ihrer kulturellen Aneignung durch die Bevölkerung. Herrschaft und Autorität existieren nicht einfach aus sich selbst heraus, sondern bedürfen der Inszenierung, der Sichtbarmachung, um ihre Wirkung in der politischen Hierarchie ebenso wie in der breiten Masse zu entfalten. Getreu der kulturgeschichtlichen Herangehensweise bilden die propagandistisch aufgeladenen symbolischen Praktiken also die politischen Realitäten längst nicht nur auf idealisierende und stimulierende Weise ab, sondern schaffen sie durch ihre vermittelnde Wirkung erst. Damit wird im Fest die politische Kultur der frühen Sowjetunion erfahrbar – für die Beteiligten (und die Ausgegrenzten) ebenso wie für die Historiker/innen – und zwar nicht nur als schmückendes Beiwerk zum „eigentlich“ politisch Faktischen, sondern, weit essentieller, im Sinne grundlegender Strukturen herrschaftlicher Theorie und Praxis.

Malte Rolfs Buch stellt also keine Geschichte des sowjetischen Massenfestes im konventionellen Sinne dar, sondern vielmehr eine Geschichte der sowjetischen Festdiskurse und -rituale. Dafür, dass die ausführlichen, anspruchsvollen, wenn auch bisweilen etwas kreisenden methodischen Reflexionen nicht „blutleer“ bleiben, sorgt der regionalgeschichtliche Bezug der Studie. Der Blick auf Woronesch und Nowosibirsk ist weder willkürlich noch Selbstzweck, sondern wählt mit Bedacht zwei geografisch und historisch ganz unterschiedliche sowjetrussische Provinzstädte aus, um die Verallgemeinerbarkeit der kulturgeschichtlichen Analyse an konkreten Beispielen zu überprüfen.

Das Kapitel „Fest als kulturelle Praxis“ berichtet in diesem Zusammenhang Wichtiges zu den eigenen Gesetzen der lebenspraktischen „Sowjetisierung“ und „Einfindung“ in das System. Doch auch hier, wo es um die konkrete Realisierung der Festkonzeptionen in der Gesellschaft vor Ort geht, bleibt Rolf seinem kommunikationstheoretischen Zugang treu, indem er nicht nach der „Rezeption“ des „offiziellen Festdiktats“ fragt, sondern nach der „Adaption“, also nicht, „ob das Fest ankam, sondern [...], was daraus gemacht wurde“ (S. 175). Trotz zum Teil krasser Defizite in der Vorgabenumsetzung in den 1920er-Jahren (und nahezu einem Totalausfall auf dem Dorf) etablierte man doch in den 1930er-Jahren eine stabile, routinisierte Festtradition, die wohl einen wichtigen Anteil an der „inneren Sowjetisierung“ der Bevölkerung hatte – auch wenn oder gerade weil diese die Diskurse, Symbole und Rituale im eigenen Sinn ergänzte und verformte.

Rolf stellt dabei nicht die – für ihn vergebliche – Frage, wie die Menschen die Feste wahrnahmen; ihm ist wichtig, dass sie die „Spielregeln“ beherrschten und so an den Ritualen teilnahmen und sich in die Diskurse „einschrieben“. Die Frage, ob wir damit nicht doch allzu eilfertig die Waffen vor den Diskursen strecken, wenn wir uns auf Relativiertheit und Wahrnehmungsgebundenheit aller Aussagen zurückziehen, sei hier nur dahingestellt, für Rolfs in sich schlüssiges Konzept ist sie nicht von primärer Relevanz.

Jene Diskurse um und über das sowjetische Massenfest sowie ihre symbolisch-rituellen Ausprägungen werden vom Autor zuvor in mehreren, unkonventionell gegliederten Kapiteln vorgestellt. „Das sowjetische Fest zwischen Didaktik und Planung“ berichtet über die schnelle Etablierung von Planung und Lenkung im sowjetischen Festbetrieb nach den spontan-chaotischen Revolutionsjahren sowie über die folgenden unterschiedlichen Konzeptionen der „Festexperten“, in die diverse Faktoren, von der vorrevolutionären Tradition über Geldmangel bis hin zur kulturrevolutionären Aufgeregtheit, hineinwirkten. Die Tendenz ging mit den 1930er-Jahren deutlich in Richtung Planung, Professionalisierung und Routinisierung des Festbetriebs. „Das Fest zwischen Zentrum und Peripherie“ thematisiert die Implementierung des entstehenden kulturellen Modells „Massenfest“ in der sowjetischen Provinz, wobei Moskauer Normierungsanspruch und regionales Anpassungsstreben interagierten.

Über den integrativen, vereinheitlichenden Ablauf des Typus „Massenfest“ zwischen politischer Manifestation und kultureller Unterhaltung informiert recht knapp, aber pointiert „Das Fest als Gesamtkunstwerk“, während „‚Roter Kalender’ und ‚Sozialistische Stadt’“ die Sowjetisierung von Raum und Zeit durch einen neuen, das Jahr strukturierenden Festkalender sowie durch städtebauliche Veränderungen, die unter anderem im Fest erfahrbar gemacht wurden, analysiert. In beiden Fällen führt Rolf das Spannungsverhältnis zwischen der Usurpation (auch: „Kolonisierung“) von Traditionellem und der kulturell-politisch adäquaten Neuschaffung an konkreten Beispielen vor.

Das Kapitel „Repräsentationen von Herrschaft und Hierarchien“ spürt zunächst dem Wandel im Verhältnis von Führern und Geführten nach; dabei lässt sich eine Tendenz von anfänglicher Postulierung von Egalität und Nivellierung hin zu klarer hierarchischer Organisation in der Vertikalen ausmachen (und in unser Wissen um Veränderungen der politischen Kultur zwischen den 1920er und 1930er-Jahren einordnen). Freilich prägten sich derlei Hierarchisierungen auch in der Horizontalen, also innerhalb der Gesellschaft, aus: Eine fest vorgegebene Stellung im Rahmen des Festes verdichtete sich zu einer symbolischen Privilegienordnung, während die Ausgrenzung aus dem rituellen Akt die untersten Stufen der sowjetischen Gesellschaft deutlich kennzeichnete. Auch hier wendet Rolf seinen beschriebenen Zugriff an: Die Feste reflektierten solche Hierarchien nicht (nur), sondern sie schufen sie und machten sie erfahrbar. In der Konsequenz wird das sowjetische Massenfest für Rolf zu einem dem NKWD vergleichbaren Disziplinierungsinstrument – eine ebenso provozierende wie begründete These.

Mit diesen Analysen zu Diskursen, Inszenierungen und Praktiken des sowjetischen Festes gibt sich Malte Rolf noch nicht zufrieden – ein letzter Teil widmet sich „Kontextualisierungen“. Das vergleichende Kapitel zu Festkulturen im faschistischen Italien, im nationalsozialistischen Deutschland und in den USA der 1930er-Jahre entspringt der nachvollziehbaren Intention, die sowjetische Typik durch die Gegenüberstellung sichtbar zu machen. Freilich können die Vergleichsaussagen – trotz bewundernswerter zusammenfassender Intelligenz – nicht die Dichte der Beobachtungen zur Sowjetunion erreichen. Zwar werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede klar und knapp herausgestellt, der kommunikationstheoretische, kulturologische Blick jedoch erfasst nicht die politisch-rechtlichen, historischen und soziostrukturellen Faktoren, die vor allem für manche Abweichung – auch zwischen den „totalitären“ Staaten – verantwortlich zeichneten. „Das sowjetische Fest in der longue durée“ schließlich ist ein langer, groß angelegter Ausblick auf die Zeit nach Stalin bis heute. Die Feststellung der Erstarrung und Sinnentleerung der Massenfeste bei weitgehend beibehaltener Struktur sowie der gesteigerten Ausbildung einer privaten Festkultur, die freilich in ihrer Bezugnahme auf den offiziellen Rahmen auch als Ausdruck einer „inneren Sowjetisierung“ gedeutet werden kann, ordnet sich nahtlos in unser Verständnis der späten Sowjetunion ein.

Malte Rolfs Dissertation hat viele Verdienste: Sie liefert ein anregendes Beispiel für den kultur- und kommunikationsgeschichtlichen Zugang; sie klärt Strukturen, Hintergründe und Bedeutung des sowjetischen Massenfestes und damit der symbolischen Sphäre von Politik; sie trägt zur argumentativen Begründung der „Selbstsowjetisierung“ der Gesellschaft bei; sie verfügt über klare Thesenbildungen und ist – auch für nicht linguistisch „Gewendete“ – anschlussfähig hinsichtlich bisheriger Erkenntnisse zu Politik und Kultur in der Sowjetunion. Hervorzuheben ist Rolfs Abstraktions- und Generalisierungsfähigkeit, dank derer er viele Beobachtungen für grundsätzliche, strukturerläuternde Feststellungen fruchtbar machen kann. Grundlage seiner methodisch anspruchsvollen Studie ist eine beeindruckende Fülle von – zentralen und regionalen – Archivmaterialien, vielfältigen publizierten Quellen und interdisziplinärer Sekundärliteratur. Und zu guter Letzt: Der Text ist gut geschrieben, er verbindet einen außerordentlich hohen Reflexionsgrad mit einer messerscharfen, souveränen und kreativen Sprachgestaltung, die durch ihr Niveau auch das eingangs konstatierte „speaking cultural“ adelt.

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