Titel
A Crooked Line. From Cultural History to the History of Society


Autor(en)
Eley, Geoff
Erschienen
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
$60.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Wildt, Arbeitsbereich "Theorie und Geschichte der Gewalt", Hamburger Institut für Sozialforschung

"Angesichts von Hindernissen mag die kürzeste Linie zwischen zwei Punkten die krumme sein." Mit diesem Eingangsmotto aus Brechts Theaterstück über Galileo Galilei gibt Geoff Eley mehr als nur die Herkunft des Buchtitels zu erkennen. "Crooked Lines" ist ein ungewöhnliches, weil persönliches Buch. Denn Eley, der deutsche und europäische Geschichte an der Universität Michigan lehrt und hierzulande kein Unbekannter ist 1, verbindet eine Geschichte der Geschichtsschreibung von den 1960er-Jahren bis in die Gegenwart mit den "krummen Wegen" der eigenen Lektüre - gewissermaßen ein Stück individueller Historiografie, die ein eigensinniges Licht auf die "historiographical turns" der vergangenen Jahrzehnte wirft, ohne je subjektiv zu werden. Es ist insbesondere für deutsche Leser/innen ein anregendes Buch, weil Eleys angelsächsische Perspektive die Differenzen zwischen britischer und nordamerikanischer Geschichtsschreibung auf der einen und deutscher Historiografie auf der anderen Seite kritisch beleuchtet.

Gegliedert ist das Buch in fünf Kapitel, die neben dem Auftakt: "Becoming a Historian" mit persönlichen Begriffen bezeichnet sind: Optimism, Disappointment, Reflectiveness, Defiance. Als Übergänge oder besser: als Verdichtungen sind an den Schluss der drei mittleren Kapitel jeweils exemplarische Portraits von Edward P. Thompson, Tim Mason und Carolyn Steedman gestellt.

Am Anfang steht die Aufbruchsstimmung, der politische Optimismus der 1960er-Jahre. Als Eley 1967 sein Studium in Oxford begann, las er vor allem die großen britischen marxistischen Historiker wie E. P. Thompson, Eric Hobsbawm, Christopher Hill oder Raymond Williams. Thompsons berühmtes, 1963 erschienenes Buch "The Making of the English Working Class" durchschritt die Antinomie zwischen dogmatisch verknöchertem Marxismus auf der einen und strukturdominanter Sozialwissenschaft auf der anderen Seite und stellte unter Beweis, dass es eine Verbindung von politischer Kultur- und Sozialgeschichte geben, eine materialistische Kulturgeschichte entworfen werden konnte, die neue Perspektiven auf Lebensweisen, Erfahrungen, Repräsentationen und Praxen eröffnete.

Sicher blieb auch die britische Debatte nicht von endlosen Basis-Überbau-Ableitungen verschont, aber Thompson und Williams hatten Maßstäbe gesetzt, die kaum mehr zu ignorieren waren. Darum war für Eley, der sich früh für deutsche Geschichte, insbesondere für das wilhelminische Kaiserreich, interessierte, die Erfahrung mit der deutschen Sozialgeschichtsschreibung eher enttäuschend. Theoretisch bezogen auf Max Weber und Talcott Parsons, methodologisch gestützt auf die strukturalistische angelsächsische Soziologie reformierte die Historische Sozialwissenschaft, wie sie Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka entwickelten, zweifellos die westdeutsche Historiografie. Aber indem sie dadurch, dass sie sich explizit von der doktrinär-marxistischen DDR-Geschichtswissenschaft absetzte, glaubte, sich damit zugleich dieser epistemologischen Herausforderung entledigt zu haben, verhinderte die so genannte "Bielefelder Schule" die Auseinandersetzung mit einem reflektierten, westlichen Marxismus. Jene ungemein produktive Debatte, wie sie in England geführt worden ist, ist hierzulande nur von einer kleinen Gruppe von Historiker/innen aufgegriffen worden.2 Es hat kennzeichnenderweise bis 1987 gedauert, bis eine deutsche Übersetzung von Thompsons Buch herauskam.3

Noch heute ist hierzulande in der Diskussion um den "cultural turn", der nun auch die Historische Sozialwissenschaft erreicht hat, dieses Manko zu spüren, wenn Kulturgeschichte in konventionelle Ideengeschichte abzugleiten droht und eine ‚materialistische’ Orientierung nach wie vor eher minoritär bleibt. Zwar rückte die "Alltagsgeschichte", deren Aufschwung Mitte der 1980er-Jahre begann, neben Erfahrungen, Subjektivität auch die materiale Kultur in den Mittelpunkt des Interesses. Aber auch hier ist die fehlende Auseinandersetzung mit dem Marxismus noch sichtbar, als sich hinter der Kritik an den Grand Narratives auch die Scheu vor Synthesenbildungen verbarg und nur wenige zum Beispiel an eine mögliche alltagsgeschichtliche Neubegründung der Kategorie ‚Klasse’, wie sie Thompson explizit unternommen hatte, heranwagten.4

Der Konflikt zwischen Historischer Sozialwissenschaft und Alltagsgeschichte stellte, wie Eley mit dem Blick eines britischen Historikers, der deutsche Geschichte in den USA lehrt, schildert, eine bestimmende Kontroverse in der deutschen Geschichtswissenschaft der 1980er-Jahre dar. Eley selbst hat, gemeinsam mit David Blackbourn, in einem seinerzeit Aufsehen erregenden kleinen Band die These vom deutschen Sonderweg kritisiert 5 und damit vor allem auf jene Modernisierungsteleologie der "Bielefelder Schule" gezielt, die in der "Ankunft im Westen" das vernünftige Ziel der deutschen Geschichte und alle "Abweichungen" von diesem Pfad als "rückschrittlich" zu erkennen glaubte.

Gegen diese Unilinearität wandte sich das Konzept einer Alltagsgeschichte, die für einen Wechsel der Perspektive von Strukturen auf Akteure, von Datenreihen auf Erfahrung, von Organisationsgeschichte auf Praxis, von Großkategorien auf Lebensweisen plädierte. Damit bezeichnete der Begriff der "Pluralität" nicht bloß den Zustand konkurrierender Historiografien, sondern auch eine wissenschaftstheoretische Konzeption.6 Dennoch blieb er hierzulande eng gefasst. Im Kontrast zu Deutschland, wo zwar Frauengeschichte durchaus Einfluss gewinnen konnte, aber die Debatte um "gender" im etablierten akademischen Betrieb es nach wie vor schwer hat, zeigt Eley im Kapitel "reflectiveness", wie stark "gender" als historiografische Kategorie die angelsächsische Geschichtswissenschaft ebenso verändert hat wie Foucaults Archäologie des Wissens oder Derridas Dekonstruktivismus, die den "linguistic turn" einleiteten.

Solche Differenzen werden ganz unübersehbar im Umgang mit "race". Vielleicht fördert das jetzt aufkeimende Bewusstsein, dass Europa stets auch eine Migrationsregion war und ist, die Rezeption der Debatte um "race" und "whiteness" in den USA, deren hoher Bevölkerungsanteil von Migrant/innen der Frage danach, was bzw. wer "weiß" sei, stets eine gesellschaftspolitisch überaus brisante Dimension verlieh. In Europa dagegen, insbesondere in Großbritannien, wo der Thatcherismus rassistische Ungleichheit förderte, wird dem Begriff "Rasse", zumal nach der rassistischen Mordpolitik in Europa im 20. Jahrhundert, auch heute noch eher terminologische Camouflage unterstellt, mit der die quasi "hinter" dem Begriff liegenden sozialen und politischen Verhältnisse verborgen werden sollten.

Liest man dieses erhellende Kapitel in Eleys Buch, so wird erneut deutlich, wie sehr die intellektuellen Debatten in Deutschland noch von den Verwüstungen des Nationalsozialismus bestimmt sind. Die Verwirklichung einer homogenen Volksgemeinschaft hat all jene Minoritäten buchstäblich ausgelöscht, deren gesellschaftliche Existenz aufgrund politisch-kultureller Selbst- oder Fremdbeschreibung erst Debatten um Differenz und Identität, um das "Eigene " und das "Fremde" möglich machten. Fragen nach Identitätspolitiken auf der einen und der Ethnisierung des Politischen auf der anderen Seite beginnen die Zeitgeschichte erst allmählich zu interessieren.

Es ist daher symptomatisch, dass eine zentrale deutsche Kontroverse Mitte der 1980er-Jahre wie der so genannte "Historikerstreit" um die Singularität des Holocaust, in Eleys Buch kaum Erwähnung findet. Was hierzulande nach wie vor entscheidend die historiografische Debatte prägt, die Interpretation des Nationalsozialismus, ist außerhalb Deutschlands und Europas mittlerweile zu einer Chiffre globaler Menschenrechtspolitik geworden. Eleys angelsächsischer Blick, der, so ließe sich kritisch anmerken, die französische Debatte nur am Rande berührt, könnten wir hierzulande auch verstehen als Aufforderung an uns, endlich Geschichtsschreibung von Erinnerungs- und Identitätspolitik analytisch wie wissenschaftspraktisch zu trennen. In der Diskussion um "transnationale Geschichte", die bei Eley kennzeichnenderweise anders, nämlich "global history" heißt und wie selbstverständlich sein Buch durchzieht, steckt auch die Möglichkeit, die Zeitgeschichte aus der Verbindung mit der Staatsräson zu lösen.

Gerade darum ist Eleys Buch eine anregende Lektüre, weil er mit seinem kenntnisreichen und sympathischen, aber eben auch fremden Blick uns nicht nur darüber in Kenntnis setzt, wie britische und amerikanische Historiker/innen in den letzten vierzig Jahren über Geschichte nachgedacht haben, sondern auch die Differenzen zur deutschen Historiografie kenntlich macht und dazu auffordert, Verständigungsmöglichkeiten zu finden. Eley selbst, "defiant" wie eh und je, plädiert am Ende seines Buches dafür, sich nicht vom Strudel der zahlreichen und immer hektischeren "turns" verschlingen zu lassen, sondern vielmehr weder das Politische noch das Gesellschaftliche der Geschichte aufzugeben. "I see absolutely no reason why the 'cultural turn' should be the end of the story or the final chapter in some whiggish romance of ever-improving historiographical sophistication. Something else, I'm sure, is lying in wait." (S. 202)

Anmerkungen:
1 Vgl. Eley, Geoff, Forging Democracy. The History of the Left in Europe, 1850-2000, Oxford 2002; ders., Reshaping the German Right. Radical Nationalism and Political Change after Bismarck, Ann Arbor 1996; ders., Wilhelminismus, Nationalismus, Faschismus. Zur historischen Kontinuität in Deutschland, Münster 1996; ders., From Unification to Nazism. Reinterpreting the German Past, Boston 1990.
2 Siehe die Arbeiten von Peter Kriedte, Alf Lüdtke, Hans Medick, Jürgen Schlumbohm, insbesondere die wichtigen Sammelbände: Berdahl, Robert M. u.a. (Hgg.), Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main 1982; Medick, Hans; Sabean, David (Hgg.), Emotionen und materielle Interessen, Göttingen 1984; Lüdtke, Alf (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis, Göttingen 1991. Dieter Groh, Konstanz, gab 1980 eine Sammlung mit zentralen Aufsätzen Thompsons heraus: Thompson, Edward P., Plebeische Kultur und moralische Ökonomie, Frankfurt am Main 1980.
3 Thompson, Edward P., Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, 2 Bde., Frankfurt am Main 1987. Auch die von Peter Schöttler 1988 herausgegebene und umfassend eingeleitete Sammlung von Aufsätzen von Gereth Stedman Jones (Klassen, Politik und Sprache. Für eine theorieorientierte Sozialgeschichte, Münster 1988) stieß hierzulande auf wenig Resonanz.
4 Siehe aber: Lüdtke, Alf, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993, sowie jetzt auch das Heft von "WerkstattGeschichte" 41 (2006) mit dem Themenschwerpunkt "Klasse"
5 Blackbourn, David; Eley, Geoff, Mythen deutscher Geschichtsschreibung. Die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848, Frankfurt am Main 1980.
6 Siehe dazu jüngst: Saldern, Adelheid von, "Schwere Geburten". Neue Forschungsrichtungen in der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft (1960-2000), in: WerkstattGeschichte 40 (2005), S. 5-30.

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