Gisel-Pfankuch: Wladimir Sagal (1898-1969)

Cover
Titel
Gezeichnet. Wladimir Sagal (1898-1969). Flüchtling und Künstler


Autor(en)
Gisel-Pfankuch, Susanne; Lüthi, Barbara
Erschienen
Zürich 2005: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
214 S.
Preis
€ 26,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Erik Petry, Institut für Jüdische Studien der Universität Basel

Selten hat ein Titel ein Buch so treffend beschrieben wie „Gezeichnet“, das die Lebens- und Schaffensgeschichte des Malers und Zeichners Wladimir Sagal beschreibt. Vom Schicksal gezeichnet, aber in seinen Zeichnungen mit der Welt kommunizierend, zeigt sich den Leser/innen und Betrachter/innen der Bilder das Flüchtlingsschicksal Waldimir Sagals, das bereits 1905 beginnt und erst mit der Ankunft und der Aufenthaltserlaubnis Sagals in der Schweiz 1943 endet. 1898 wird Wladimir Sagalowitz (woraus er später den Künstlernamen Sagal macht) in Witebsk geboren als Sohn einer wohlhabenden bürgerlichen Familie, der Vater ist ein erfolgreicher Kaufmann. Die Odyssee der sechsköpfigen Familie beginnt 1905 mit der Flucht vor Pogromen aus dem Zarenreich, führt durch Deutschland, Schweiz sowie Frankreich, lässt die einst wohlhabende Familie Sagalowitz schliesslich verarmen, macht ausgerechnet sie, die zu ihren besseren Zeiten immer die weniger gut Gestellten unterstützt hat, plötzlich selbst abhängig von Unterstützung und liefert sie der Behördenwillkür aus. Gepaart mit Obrigkeitshörigkeit, Indifferenz und der Forderung nach serviler Anpassung kann sich aus den Handlungen der Behörden schnell eine gefährliche, weil undurchschaubare Mischung für die Flüchtlinge zusammenbrauen – eine lebensgefährliche Mischung. Fokussiert, komprimiert und ohne moralinsaueres Pathos schildern die Autorinnen das Schicksal der Eltern Sagalowitz und ihrer fünf Kinder.

Doch das vorliegende Buch besticht nicht allein durch die historiografische Aufarbeitung einer berührenden Lebensgeschichte, sondern vor allem durch den sehr persönlichen Blick in das Leben Sagals und seiner Familie, der durch Einarbeiten auch längerer Passagen aus persönlichen Briefen vor allem zwischen Sagal und seiner späteren Ehefrau Lucie Aus der Au, einer Zürcherin, die er 1937 bei einem Aufenthalt in der Schweiz kennen- und lieben lernt. Hier dokumentiert sich eindrücklich die menschliche Seite eines Flüchtlingsschicksals der späten 1930er und 1940er-Jahre. Die Auswahl der Briefzitate muss als sehr gelungen bezeichnet werden, sie lassen die Leser/innen intensiv am Schicksal Wladimir Sagals und Lucie Aus der Au teilhaben, gewähren einen eindringlichen, aber nie aufdringlichen Einblick in das Leben und Gefühlsleben der beiden. Den Leser/innen erschließt sich eine Lebens- und Liebesgeschichte, die, wie Sagal selbst einmal scherzhaft schreibt, Stoff für einen Roman abgegeben hätte. Es wäre dies ein Roman über eine tiefe und alle Schwierigkeiten überwindende Liebe, aber es wäre auch ein Roman über die verzweifelten Versuche, sich gegen die Schweizer Bürokratie zu behaupten, gegen willkürliche Bescheide, gegen den Geist der Zeit, der von Schlagworten wie „geistiger Landesverteidigung“ und „Überfremdung“ (was sich explizit gegen jüdische Einwanderer richtet) geprägt ist, denn es offenbaren sich Vorgehensweisen und Beurteilungskriterien der Schweizer Behören in den 1930er und 1940er-Jahren in der Frage, wer eingebürgert, wer ausgewiesen und wer geduldeten Aufenthalt bekommen solle.

Ab 1943 leben Sagal und seine Ehefrau in Zürich, aber die Flüchtlingsjahre sind nicht spurlos an ihnen vorbeigegangen, sie mühen sich, nicht aufzufallen. Dem schließlich 1957 stattgegebenen Einbürgerungsgesuch gehen Abklärungen und Berichte der Behörden voraus, die Wladimir als „völlig angepasst“ bezeichnen, daher einbürgerungswert. Dass er zu diesem Zeitpunkt alles andere als das typische Schweizer Männerbild verkörpert, ist eine Ironie der Geschichte: Sagal ist von Beruf Künstler, arbeitet zuhause, versorgt Kinder (die Familie hat zwei Töchter) und Haushalt, während seine Frau ihrer Arbeit in der Schulzahnklinik nachgeht.

Zu seiner Verlobten spricht Sagal in seinen Briefen in ruhigen, wohlgesetzten Worten, sie antwortet ihm auf berührend poetische Weise, wie viele Passagen zeigen, mit der Öffentlichkeit aber kommuniziert Sagal durch seine Zeichnungen. Es ist ein großes Verdienst dieses Buches, dass es fast 160 Abbildungen enthält, die den Schaffensweg Sagals deutlich machen, Entwicklungen zeigen, die Betrachter an Sagals Blick auf seine Lebenswelt teilhaben lassen, ein Blick, der oft gerade in der Andeutung, in der Nichtvollendung seine Stärken hat. Während sich Sagal in vielen Bereichen des Malens und Zeichnens ausprobiert, ist seine eigentliche Domäne, für die er auch weithin bekannt ist, die Porträtzeichnung. Hier scheinen sich Darstellung und Wesen der Person symbiotisch zu vermischen, im Porträt wird nicht nur der Kopf, sondern der ganze Mensch deutlich. Die im Buch abgebildeten Porträts lassen erahnen, warum Sagal in diesem Metier so berühmt geworden ist, sie lassen aber auch wehmütig erkennen, dass die Zeichnung in manchem Bereich dem Foto noch überlegen sein kann.

Es kommt dem Buch weiterhin sehr zugute, dass sich die Autorinnen entschieden haben, dem künstlerischen Werk Sagals am Ende ein eigenes Kapitel zu widmen. Zwar werden seine Zeichnungen als „Zeitzeugen“ immer in den Lauf der Geschichte eingebaut, illustrieren am Rand des Textes so das Sehen und Erleben Sagals, aber seiner Bedeutung, seinen Fähigkeiten muss in einem eigenen Kapitel Rechnung getragen werden. Nur so wird deutlich, dass Lebensgeschichte, künstlerisches Werk und die Entwicklungen dieses Werks zwar eine Einheit, mehr noch, einen Kausalzusammenhang bilden, was Sagal selbst einmal einem Kritiker, der ihn der Schönfärberei bezichtigte, schreibt, aber das künstlerische Werk auch für sich selbst stehen können muss und bei Sagal auch kann.

So gelingt diesem sorgfältig gestalteten und sehr flüssig geschriebenem Buch ein tiefer Blick in das ungewöhnliche Leben Wladimir Sagals, obwohl er sich nach seiner Ankunft in der Schweiz und damit seiner Rettung vor der Deportation aus Frankreich in eines der Todeslager der Nazis nichts sehnlicher erhoffte, als nirgends aufzufallen. Die Lebensgeschichte Wladimir Sagals und seiner Frau Lucie Aus der Au-Sagal steht für vieles beispielhaft und doch beispiellos.

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