E. Glassheim: The Transformation of the Bohemian Aristocracy

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Titel
Noble Nationalists. The Transformation of the Bohemian Aristocracy


Autor(en)
Glassheim, Eagle
Erschienen
Cambridge, Massachusetts 2005: Harvard University Press
Anzahl Seiten
299 S.
Preis
$ 45.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tatjana Tönsmeyer, Institut für Tschechische Geschichte, Karlsuniversität Prag

Nicht nur die Forschung zu den deutschen Adelsformationen hat in den vergangenen Jahren einen bedeutenden Aufschwung genommen, sondern auch der Adel Böhmens und Mährens findet zunehmend Aufmerksamkeit. Während die tschechische Forschung sich vor allem der Frühneuzeit und den siebzig Jahren zwischen 1848 und 1918 widmet 1, setzt Eagle Glassheims für die Drucklegung überarbeitete Dissertation Ende des 19. Jahrhunderts ein und untersucht Prozesse nationaler Identitätsbildung unter Mitgliedern des böhmischen und mährischen Hochadels bis zum Jahr 1948. Seine zentrale These dabei lautet: „Noble national identifications were built from politics and not culture“. (S. 8)

Schon in den späten Jahren der Monarchie mit ihren sich zuspitzenden ethnischen Konflikten habe der Adel sich zunehmend einer nationalen Rhetorik bedient, um politisch nicht ins Abseits zu geraten, ungeachtet seiner eigenen Haltung, die zwischen einer supranationalen Reichsidentität und nationalen Identitäten changierte. Von besonderer Bedeutung für die nationale Identitätsbildung des Adels habe sich dann die tschechoslowakische Bodenreform erwiesen. Die Gründungsväter der Tschechoslowakei sahen im Monarchismus, dem Bolschewismus sowie dem deutschen Separatismus die Hauptgefahren für den neuen Staat. Eine Bodenreform, in deren Mittelpunkt der aristokratische Grundbesitz stand, bot gleich in dreifacher Weise die Chance, diesen Gefahren zu wehren: der Adel wurde als Hauptstütze der Monarchie ökonomisch geschwächt, sozialistischen Forderungen nach Nationalisierung von Industrie und Landwirtschaft der Wind aus den Segeln genommen und auch einem möglichen deutschen Separatismus im wahrsten Sinne des Wortes der Boden entzogen. Legitimiert wurde diese nationale und soziale Revolution damit, dass es einen tschechischen Adel schon seit der Niederschlagung der Ständerebellion in der Schlacht am Weißen Berg von 1620 nicht mehr gebe. Der anwesende Adel sei von den Habsburgern im Zuge der Rekatholisierung des Landes dort angesiedelt worden und somit „fremd“. In diesem Legitimationsdiskurs wurde die Aristokratie als deutsch, habsburgisch und adelig zum „Anderen“ der sich selbst tschech(oslowak)isch und bürgerlich verstehenden jungen Republik.

In Reaktion auf die Bodenreform gründeten vor allem Angehörige des Adels zwei Verbände zur Verteidigung ihrer Besitzinteressen: Den Svaz ?eskoslovenských velkostatká?? (Verband der tschechoslowakischen Großgrundbesitzer) und den Verband der deutschen Großgrundbesitzer. Der Svaz trat als tschechischsprachige Interessenorganisation auf, die nationale Belange bewusst im Hintergrund hielt. Zu seinen Forderungen gehörte die „Entpolitisierung“ des Bodenamtes, Transparenz in den Maßnahmen der Behörde, der Ausschluss des Waldbesitzes aus der Reform, damit den Besitzern ausreichend Mittel verblieben, um Schlösser und Kunstsammlungen als Teil des nationalen Erbes zu pflegen sowie schließlich die Entschädigung der enteigneten Besitzungen nach Marktbedinungen. Auch stellte sich der Svaz als Interessenvertreter der auf den Gütern Beschäftigten dar, die um ihre Stellen fürchteten, sollten die Besitzungen aufgeteilt und in bäuerliche Hände übergeben werden. Nachdem es 1922 auf einem der Schwarzenbergschen Gütern zu Ausschreitungen der Gutsangestellten gegenüber Mitarbeitern des Bodenamtes gekommen war, entbehrte dieses Argument nicht der Plausibilität.

Während der Svaz seine Forderungen damit zu untermauern suchte, dass seine Mitglieder die tschechische Nationalbewegung stets unterstützt und dass manche schon unter den Konfiskationen der 1620er-Jahre gelitten hätten, nahm der Verband der deutschen Großgrundbesitzer viel stärker die Sprache deutscher Minderheitenfunktionäre auf, sprach vom „nationalen Besitzstand“ und einem Angriff auf die „Heimat“. Politisch bemühten sich seine Mitglieder, den Konflikt um die tschechoslowakische Bodenreform über die Völkerbundliga zu internationalisieren. Diese Bemühungen erwiesen sich weitgehend als fruchtlos, so dass es im Verlauf der 1930er-Jahre zu einer Annäherung an der Sudetendeutsche Partei (SdP) kam. Neben dem Nationalismus bildeten Führerprinzip, Ständestaatsideologie und ein starker Antibolschewismus Berührungspunkte.

Die 1930er-Jahre brachten für den Adel in der Tschechoslowakei nach dem Abschluss der Bodenreform auch Integrationsoptionen im Rahmen des politischen Katholizismus. Glassheim konstatiert ferner die zunehmende Akzeptanz eines nationalen Adels in der tschechischen Öffentlichkeit, was es diesem wiederum ermöglichte, im öffentlichen Leben sichtbarer zu werden. Dies gilt besonders für zwei Loyalitätsadressen: Im Angesicht der Sudetenkrise bekannten sich die Signatare der ersten Adresse zur Unverletzlichkeit der Staatsgrenzen, im September 1939 drückten mehr als sechzig adelige Unterzeichner Präsident Hácha ihre Verbundenheit mit der tschechischen Nation aus.

In die Protektoratszeit fällt dann nach Glassheim das endgültige nationale Auseinandertreten des Adels in Böhmen und Mähren: Während die eine Gruppe ihr Schicksal an die tschechische Nation gebunden habe, suchten adelige SdP-Mitglieder um die Überführung ihrer Mitgliedschaften in die NSDAP nach. Kollaboration, Anpassung und Widerstand seien jedoch unter beiden Adelsgruppen ebenso verteilt gewesen wie bei der deutschen und tschechischen Bevölkerung im Protektorat. Wie weit der Adel in den beiden nationalen Gruppen aufgegangen sei, zeige auch seine Behandlung nach Kriegsende: Deutsche Adelige seien als Deutsche vertrieben und enteignet worden, tschechische hätten ihre Güter zusammen mit den Großbauern in der kommunistischen Bodenreform der Tschechoslowakei verloren. 1948 sei damit der Adel in Böhmen und Mähren als Klasse zerstört gewesen (S. 225).

Eagle Glassheim hat in seiner Arbeit die These stark gemacht, dass es die Politik gewesen sei, die die nationale Identifizierung des böhmischen und mährischen Adels – man könnte sagen – provoziert habe. Nun kann kein Zweifel daran bestehen, dass zunächst die Bodenreform, später das Münchener Abkommen und die Errichtung des Protektorates politische Ereignisse darstellten, zu denen sich der Adel als Gruppe wie auch seine einzelnen Mitglieder verhalten mussten. Die Forschung nicht nur zum Adel in Böhmen und Mähren hat ja immer wieder gezeigt, dass die Fähigkeit dieser Sozialformation, sich den Erfordernissen der Zeit anzupassen und dabei unter Wandlungsprozessen „oben zu bleiben“, zu ihrer zentralen Elitenqualifikation gehörte. Dass also politische Ereignisse von nationaler Bedeutung es auch für den Hochadel notwendig machten, sich dazu zu positionieren, ist keine Frage. Wie wichtig aber nationale Selbstverortung für das Selbstverständnis dieser Gruppe war, ist damit noch nicht beantwortet. Immerhin verweist Glassheim selbst, wenn auch eher en passant, darauf, dass zumindest bis 1938/39 adelige Verkehrs- und Heiratskreise die Grenzen nationaler Zuschreibungen überschritten hätten und dass erst die Errichtung des Protektorates hier einen Einschnitt markiert habe.
Noch ein anderer Punkt ist kritisch anzumerken: Immer wieder fragt das Buch nach der „Ernsthaftigkeit“ (S. 98) adeliger nationaler Identifikationen. Über zwei Vertreter des böhmischen Adels heißt es z.B., ihre Bitte an Staatspräsident Masaryk, sich für sie zu verwenden (und die befürchteten Enteignungen im Rahmen der Bodenreform zu verhindern), sei „not only opportunistic, but also disingenuous“ (ebd.), also nicht nur opportunistisch, sondern auch unaufrichtig gewesen. Dies ist kein Einzelfall: Wiederholt wird diskutiert, ob die adeligen Loyalitätsbekundungen an die tschechische bzw. tschechoslowakische Adresse glaubhaft seien, wobei materielle oder politische Interessen gewichtet werden (S. 131, 150, 155 oder 200). Mit Blick auf die Loyalitätsadresse von 1939 heißt es etwa, dass zwar Tschechen nicht in der Wehrmacht hätten dienen müssen, dass aber mit dem Unterzeichnen dieses Dokuments doch beträchtliche Risiken verbunden gewesen seien, so dass Gründe jenseits von Opportunismus und materiellen Interessen dabei eine Rolle gespielt haben müssten. In der späten Habsburgermonarchie seien die nationalen Loyalitäten politisch motiviert gewesen, in den frühen Jahren der Republik materiell, jetzt aber tiefe Überzeugung. (S. 200). Dieses Problem der „Ernsthaftigkeit“ hat möglicherweise vor allem damit zu tun, dass wir es beim böhmischen und mährischen Hochadel mit einer Gruppe zu tun haben, in der zwar einzelne Mitglieder eine nationale Identität entwickelten, andere jedoch weiterhin in eher hybriden Vorstellungen nationaler Zugehörigkeit verhaftet blieben.

Inwieweit Werte, Überzeugungen oder (nationale) Loyalitäten für historische Akteure handlungsleitend geworden sind, gehört zu den am schwersten zu beantwortenden Fragen in der geschichtswissenschaftlichen Forschung. Was das Buch von Eagle Glassheim aber zeigt, sind adeligen Strategien des Umgangs mit einem Staat und einer Gesellschaft, die nationale Stellungnahmen einforderte.

Anmerkung:
1 Siehe dazu: Tönsmeyer, Tatjana, Zwischen Revolution und Reform. Neuere Forschungen zum böhmischen Adel zwischen 1848 und 1918/21, in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006, im Druck).

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