M. Häberlein u.a. (Hg.): Vorindustrielles Gewerbe

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Titel
Vorindustrielles Gewerbe. Handwerkliche Produktion und Arbeitsbeziehungen in Mittelalter und früher Neuzeit


Autor(en)
Häberlein, Mark; Jeggle, Christof
Reihe
Irseer Schriften. Studien zur schwäbischen Kulturgeschichte. N.F. 2
Erschienen
Konstanz 2004: UVK Verlag
Anzahl Seiten
259 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Eisenberger, Bielefeld

Die unlängst konstatierte ‚Ökonomieblindheit’ der Kulturgeschichte oder der kulturgeschichtliche Nachholbedarf der Wirtschaftsgeschichte scheint einem verspäteten, aber dafür mit Nachdruck betriebenen Annäherungsprozess in einer Reihe von Forschungsfeldern zunehmend zu weichen. Der 2001 von der Schwabenakademie in Irsee ins Leben gerufene „Arbeitskreis für vorindustrielle Wirtschafts- und Sozialgeschichte“, in dessen Herausgeberreihe die angezeigte Veröffentlichung erschienen ist, stellt eines jener Foren dar, die sich erklärtermaßen um eine ‚kulturgeschichtliche Erweiterung’ der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Wirtschaftsgeschichte bemühen. Erfreulicherweise, das sei schon einmal vorweggenommen, beschränkt sich der Forschungsradius dabei nicht auf den süddeutschen Raum, sondern bezieht auch Fallbeispiele aus der Aachener Region, aus Lübeck, Wien und Amsterdam mit ein. Wie schwer es indessen immer noch fällt, historisch-anthropologische und kulturwissenschaftliche Theorieansätze über ein partielles tête à tête hinaus für wirtschaftsgeschichtliche Untersuchungen zu konzeptualisieren, lässt sich leicht daran erkennen, dass im Vorwort erwähnte (und nicht weiter präzisierte) Begriffe wie „ökonomische Kultur“ oder „Kultur des Marktes“ weder im Titel des Bandes noch in den zehn Tagungsbeiträgen aufgegriffen werden. Wer dagegen nach Anregungen für eine Operationalisierung kultur-, begriffs-, oder geschlechtergeschichtlicher Fragestellungen im Rahmen einer Gewerbegeschichte sucht, die mit mikrohistorischen Methoden explizit eine Abkehr von „entindividualisierten, strukturfunktionalistischen“ Sozialtheorien (Christof Jeggle) und eine Hinwendung zur Untersuchung konkreter Beziehungsstrukturen und Handlungskontexte postuliert, der wird nicht enttäuscht werden.

Wenngleich bereits in den 1980er-Jahren von Sozialhistorikern Impulse zur historischen Erforschung von Arbeitsprozessen und -erfahrungen ausgegangen sind und das Thema Arbeit gerade im Hinblick auf aktuelle Debatten über das „Ende der Arbeitsgesellschaft“ in der Geschichtswissenschaft nie gänzlich abwesend war, wird in der Einleitung zu Recht betont, dass die „Praxis der Arbeit“ bislang weitgehend stiefmütterlich behandelt wurde. Die Gründe für dieses Forschungsdefizit liegen dabei weniger, wie oft behauptet, in einem Quellenproblem, denn man wird bei der Lektüre mit Erstaunen feststellen, in welchem Maße sich etwa aus Suppliken und Handwerksordnungen Informationen über Formen der Arbeitspraxis von Frauen (Christine Werkstetter) im Handwerk oder Wahrnehmungs- und Definitionsmuster bezüglich der „Bönhaserei“ (Philip R. Hoffmann) im vorindustriellen Handwerk gewinnen lassen. Neben einer Neuinterpretation bekannter Textsorten wird darüber hinaus die Bedeutung der Mittelalterarchäologie für die Wirtschaftsgeschichte (Michael Herdick) thematisiert, die zusätzlich einen Beitrag zur Erkundung der Variationsbreite handwerklicher Produktionsformen und Arbeitsprozesse leisten könnte.

Christof Jeggle liefert in seinen konzeptionellen Ausführungen zur vorindustriellen gewerblichen Produktion und Arbeitsorganisation nicht nur eine wohl informierte Einführung in neueste Forschungstrends und -probleme, sondern zeigt auch, welche Möglichkeiten bestehen, anstelle strukturdeterministischer Modelle, die von „festgelegten sozialen Kollektivakteuren“ ausgehen, eine dezidiert handlungsbezogene Perspektive in die Gewerbegeschichte einzubringen. Sein Plädoyer, eine detaillierte Beschreibung und Analyse vielfältiger Arbeitsprozesse und Produktionslinien von der Rohstoffgewinnung bis zur Endfertigung und Verwertung zum Ausgangspunkt zu nehmen, um von dort aus radial die Herausbildung von Interaktionsformen, Handlungsfeldern, sozialen Vernetzungen und Gruppen sowie Ordnungsvorstellungen zu untersuchen, wird überzeugend vorgetragen und bietet genügend Spielraum für eine empirienahe Modellbildung. Die folgenden Beiträge, die sich sämtlich auf das 18. Jahrhundert konzentrieren, belegen, dass nach den Vorleistungen einer mittlerweile hoch elaborierten Protoindustrialisierungsforschung und ihrer Konzentration auf ländliche Gewerbeformen ein dringender Revisionsbedarf besteht bezüglich der nach wie vor dominierenden Vorstellungen eines weitgehend statischen städtischen Gewerbes. Als konzeptioneller Prolog wirkt der dichte, eine breite Literaturkenntnis entfaltende Text leicht überdimensioniert, dagegen gerät die nur kurz angerissene Kritik an einer naiven Verwendung quantifizierender Verfahren, deren Einsatz Jeggle nach wie vor für unverzichtbar hält, zu oberflächlich.

Ein thematischer Schwerpunkt des Sammelbandes bilden drei Beiträge, die sich unter stärkerer Berücksichtigung der städtischen Gewerbeproduktion und sich verändernder Land-Stadt-Beziehungen mit der protoindustriellen Textilherstellung beschäftigen. Am Beispiel der ostschwäbischen Region untersucht Anke Sczesny die Wechselwirkungen, Konkurrenz- und Kooperationsbeziehungen zwischen ländlichem und städtischem Textilhandwerk im 17. und 18. Jahrhundert. Anstelle einer Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land entwickelte sich dort ein ausgeprägtes Konkurrenzverhältnis, das sich vor allem in einer landesherrschaftlich geförderten Konstituierung von Landzünften und dem dadurch ermöglichten Zugang zu städtischen Absatzmärkten manifestierte. Auf einer mittleren Ebene profitierten vor allem die Marktorte, die zunehmend Absatz- und Vermittlungsfunktionen übernahmen und Sitz der Landzünfte waren, vom gewerblichen Strukturwandel.

Den gleichen Zeitraum behandelt Michaela Schmölz-Häberlein, die sich aber auf eine Darstellung der ebenfalls in einer Landzunft organisierten Leineweber im nördlichen Breisgau, einem kaum erforschten Wirtschaftsraum, beschränkt. Im Unterschied zu Oberschwaben, wo die Landzünfte strenge Zugangsbeschränkungen einführten, erhöhte sich hier die Zahl der Meisterstellen, da die zünftige Regulierungspraxis sich vornehmlich auf Ausbildung und Qualitätskontrolle erstreckte. Das mag eine der Ursachen für die außerordentlich starke soziale Differenzierung innerhalb dieser Handwerkergruppe gewesen sein, deren Mitglieder in einer Mischökonomie von Landwirtschaft, saisonal betriebener Weberei und Kreditgeschäften mit sehr ungleich verteilten Ressourcen ausgestattet waren. Aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive erscheint es interessant, dass Frauen mit der Garnspinnerei nicht nur unmittelbar in den Produktionsprozess integriert waren und auf diese Weise ihren Lebensunterhalt sichern konnten, sondern im Falle von Meisterwitwen, die auch in die Zunft aufgenommen wurden.

Als ausgewiesener Kenner der proto- und frühindustriellen Gewerbestrukturen im Aachener Raum schildert Dietrich Ebeling die Entstehung und Entwicklung regionaler Arbeitsmärkte auf dem Sektor der Feintuchherstellung bis in die Übergangsphase zur Fabrikproduktion hinein. Dabei zeigt er nicht nur, in welchem Ausmaße Formen von Lohnarbeit sich bereits vor der Industrialisierung ausgebreitet hatten, sondern betont auch ganz im Sinne einer Neubetrachtung des städtischen Gewerbes die Einheit von Stadt und Land innerhalb protoindustrieller Produktionssysteme. Die protoindustriellen Zentren waren schon früh Anziehungspunkte einer überregionalen Arbeitsmigration und Kristallisationskerne eines dezentral organisierten Produktionssystems. In Manufakturstädten wie Burtscheid hatte sich die handwerkliche Produktionseinheit von Familie und Haushalt in der hausindustriellen Betriebsform der Tuchscherer und Weber sich bereits Mitte des 19. Jahrhunderts aufgelöst.

Sinnigerweise ist es eine detaillierte Beschreibung des optischen Handwerks im Augsburg des 17. Jahrhunderts, mit dem der ‚mikroskopische Blick’ auf den städtischen Gewerberaum eingeleitet wird. Entlang der Biografie Johann Wiesels, vorgestellt als der erste „kommerzielle Optiker“ Deutschlands, schildert Inge Keil den Aufstieg eines ingeniösen Spezialhandwerkers zum europaweiten Lieferanten von optischen Geräten, zu dessen Erfolg auch Produktverzeichnisse und neue Vermarktungsstrategien beitrugen.
In ihrer mikrohistorischen Untersuchung zur Rolle der Frauen im Augsburger Zunfthandwerk kann Christine Werkstetter zeigen, dass die generalisierende These von einer mit Beginn der Frühen Neuzeit einsetzenden Verdrängung der Frauenarbeit im Handwerk nicht haltbar ist. Weibliche Familienmitglieder waren nicht allein für den Verkauf oder die Buchführung zuständig, sondern wurden vielfach auch bei Werkstattarbeiten eingesetzt, für die sie durch den frühzeitigen Erwerb eines praktischen Erfahrungswissens qualifiziert waren. Weder verhinderte dieser informelle Ausbildungsweg eine hohe Identifikation mit dem ausgeübten Handwerk, noch darf die zünftigerseits aufrechterhaltene Privilegierung männlicher Arbeit darüber hinwegtäuschen, dass die handwerkliche Arbeitspraxis von Frauen im städtischen Lebensalltag weitgehend akzeptiert war. Mit Ausnahme der Ausbildungsfunktion unterlagen Meisterwitwen, die den Betrieb fortführten, keinerlei Einschränkungen seitens der Zünfte, deren Exklusionsbestrebungen im Wesentlichen auf die Mägdearbeit gerichtet waren.

In den abschließenden drei Beiträgen stehen zunftpolitische Ausgrenzungsstrategien, Deutungskategorien und Prozesse der Elitenbildung innerhalb der städtischen Handwerkerschaft im Mittelpunkt. Über einen begriffsgeschichtlichen oder genauer sprachpragmatischen Zugang zum Forschungsthema der Ausgrenzung von Formen außerzünftiger Arbeit, die zeitgenössisch als „Bönhaserei“, „Pfuscherei“ oder „Störerei“ bezeichnet wurden, gelingt es Philip R. Hoffmann in eindrucksvoller Weise, die rechtlich-normative Oberfläche der Quellen zu durchdringen und auf die Ebene der kulturellen Praxis vorzudringen. An Lübecker Fallbeispielen des 16. und 17. Jahrhunderts zeichnet er die Veränderung von Wahrnehmungs- und Interpretationsmustern nach, in denen das Konkurrenzverhältnis zwischen Zunfthandwerkern und Gesellen ohne Zugangsmöglichkeit zur Meisterschaft erfasst wurde. Dass die kulturelle Deutung des Phänomens hierbei mit wirtschaftlichen Konjunkturverläufen und politischen Krisenlagen korrespondierte und nicht selten unmittelbar interessengebunden war, ist sicher weniger überraschend als die Beobachtung, dass mit Entstehung der Landzünfte der Begriff des „Störers“ nun auch von der ländlichen Handwerkerschaft z.B. gegen Tagelöhner eingesetzt wurde. Die situativ verwendete Fremdzuschreibung ließ sich je nach Handlungsbedarf flexibel für die Wiederherstellung normativer Ordnungskonzepte innerhalb der städtischen Gesellschaft und damit unmittelbar für politische Zwecke instrumentalisieren.

Einen vergleichenden Ansatz wählt Thomas Buchner, um die unterschiedlichen stadtpolitischen, ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen aufzuzeigen, die für eine Herausbildung von Zunfteliten und spezifischen Formen der Konfliktregulierung in zwei Großstädten des 18. Jahrhunderts verantwortlich waren. Während sich die Zunftvorsteher in Amsterdam überwiegend auf gewerbepolizeiliche Aufgaben beschränkten, übten sie in Wien eine starke soziale Kontrolle aus, die bis in den Handwerkerhaushalt hineinreichte. Dafür waren diese im Unterschied zu den Amsterdamer Zunftvorstehern jedoch weit stärker in die internen Zunftstrukturen und divergierenden Interessenfelder der von ihnen vertretenen Klientel eingebunden. In Amsterdam hatte sich hingegen eine gänzlich andere Konfliktkultur entwickelt, in der man bereits auf eine Vermittlung durch die Vorstände verzichtete. In einem direkten Vergleich der Gold- und Silberschmiedezünfte beider Städte wird deutlich, dass in Amsterdam bei den Zunftvertretern personelle Kontinuität politisch gewollt war, während sich in Wien ein genau gegenläufiger Trend zur Öffnung des Vorsteheramtes abzeichnete.

Mit städtischen Eliten beschäftigt sich auch Robert Brandt, der vor allem die semantischen Felder der Begriffe „Nahrung“ und „Bürgerrecht“ im politischen Kontext des Frankfurter Verfassungskonflikts (1705-1732) einer kritischen Betrachtung unterzieht. Die zentralen Autonomieforderungen der Handwerkerinnungen, „Schutz der bürgerlichen Nahrung“, Bürgerrecht und Judenfeindschaft, wurden in den Auseinandersetzungen um eine stärkere politische Teilhabe aufstrebender Handwerker und Kaufleute eng miteinander verknüpft. Anfänglich ein reiner Elitenkonflikt, brachte die Bürgeropposition bald die Mehrheit der Innungshandwerker ins Spiel, wenn sie deren Forderungen nach Sicherung der „Nahrung“, die man durch jüdische Kaufleute bedroht sah, für den Elitenkonflikt instrumentalisierte. Hinter der Frage der Exklusivität des Bürgerrechts verbarg sich im Kern die Absicht, die starke Position des jüdischen Handels in der Stadt zu neutralisieren und unliebsame Konkurrenten vom Markt zu verdrängen. Brandts These, dass die „Judenfeindschaft“ ein konstitutives Merkmal Frankfurter Bürgerlichkeit war, ist keine geringe Herausforderung der etablierten Bürgertumsforschung.

Nicht nur hier zeigt sich, dass der von der historischen Bürgertumsforschung fortgeschriebene Gegensatz von „Nahrung“ und „Markt“ nur zum Teil der zeitgenössischen Verwendung dieser Begriffe entsprach: Häufig lagen der Nahrungssemantik Verteilungskämpfe um Marktanteile zugrunde.

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