Cover
Titel
Dem Gedächtnis zuhören. Erzählungen über NS-Verbrechen und ihre Repräsentation in deutschen Gedenkstätten


Autor(en)
Gudehus, Christian
Erschienen
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 21,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bert Pampel, Stiftung Sächsische Gedenkstätten

Millionen Menschen besuchen jedes Jahr Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland, Orte wie Dachau, Buchenwald oder Sachsenhausen. Viele von ihnen nehmen an Führungen teil, die von Gedenkstättenmitarbeitern oder von Honorarkräften durchgeführt werden. Obgleich solche Führungen hinsichtlich der Zahl der dabei betreuten Besucher den Schwerpunkt der pädagogischen Arbeit in Gedenkstätten darstellen, sind ihr Verlauf und ihre Wirkungen bislang wenig erforscht. Was und wie erzählen die Mitarbeiter/innen den Besuchern? Wie reagieren die Geführten auf diese Erzählungen? Christian Gudehus, Mitarbeiter am Center for Interdisciplinary Memory Research im Kulturwissenschaftlichen Institut Essen, hat zwischen Juni 2002 und Januar 2004 insgesamt 16 Führungen in den Gedenkstätten Ravensbrück, Neuengamme und Dachau sowie in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin begleitet, aufgezeichnet und analysiert, um erste Antworten auf diese Fragen geben zu können.

Anhand ausgewählter Texte liefert Gudehus zunächst einen Einblick in aktuelle Debatten zur Funktion von Gedenkstätten. Auch wenn seine Ausführungen den einzelnen Verfasser/innen dieser Texte in ihrer Verkürzung nicht immer gerecht werden, so berührt er dabei doch wichtige Punkte der Diskussion um das Selbstverständnis der Gedenkstätten. Insbesondere wird deutlich, dass diese sich nicht auf die Rekonstruktion des Geschehens und seiner Bedingungen beschränken sollen, sondern dass sie aufgefordert sind, in Form aktualisierender Gegenwartsbezüge zugleich zum Lernen aus der Vergangenheit anzuregen. Im Weiteren referiert Gudehus einige Ergebnisse der bisherigen empirischen Forschung zu Gedenkstättenbesuchen. Es handelt sich auch hierbei um Schlaglichter, vorrangig auf solche Studien, die versucht haben, vorab unterstellte Wirkungen von Gedenkstättenbesuchen zu ermitteln. Gudehus stellt deren Ergebnisse und Defizite dar und plädiert für eine stärkere Erforschung der unmittelbaren Vermittlungssituation.

Gudehus’ Analyse basiert weniger auf erziehungswissenschaftlichen Theorien als vielmehr auf Gedächtnistheorien und der Tradierungsforschung. Führungen werden als Orte des kulturellen Gedächtnisses verstanden, als mittels kultureller Formung und institutionalisierter Kommunikation erfolgende Bezugnahmen auf die Vergangenheit. Vergleichsweise ausführlich stellt Gudehus einzelne Ergebnisse aus der Tradierungsforschung vor, deren Schwerpunkt bislang auf der gemeinsamen Konstruktion von Geschichte in Familiengesprächen oder Interviews gelegen hat. Indes unterscheidet sich seine Analyse von Führungserzählungen in Gedenkstätten als öffentlicher Vergangenheitsrekonstruktion von der Auswertung gemeinsam verfertigter Geschichten im Interview (private Vergangenheitsrekonstruktion). Zudem kann Gudehus’ eigene Untersuchung allenfalls Indizien, aber keine belastbaren Erkenntnisse hinsichtlich der Aneignung bzw. Tradierung der von den Besucherbegleitern (Gudehus verwendet den Begriff „Guides“) benutzten Erzählungen, Begriffe und Deutungsmuster erbringen. Die wenigen aufgezeichneten Äußerungen der Geführten, das heißt ihre Stellungnahmen, Antworten auf Fragen der Guides oder eigene Fragen, können nicht als Tradierungsspuren bezeichnet werden, da sie vorrangig der Kommunikation in der Vermittlungssituation dienen. Da sich Gudehus der Unterschiede zwischen Interview und Führungserzählung sowie zwischen Erzähltem und Tradiertem bewusst ist, erstaunt die Detailliertheit dieser Ausführungen umso mehr.

Im nächsten Teil beschreibt Gudehus seine Methode der teilnehmenden (nicht verdeckten) Beobachtung. Die Untersuchung versteht er als „explorative Studie“, die das Feld vermisst und kritisch beschreibt; Repräsentativität wird nicht angestrebt. Das Problem, dass seine Anwesenheit bzw. die Aufzeichnung der Führung Auswirkungen auf die Führungserzählungen hat, zum Beispiel den Verzicht auf bestimmte Deutungen, sorgfältigere Formulierungen oder Scheu vor Fragen bei den Teilnehmer/innen, räumt er ohne Umschweife ein. Leider verzichtet er aber auf einen Überblick, welche Personengruppen bei seiner Untersuchung überhaupt geführt worden sind. Nur sporadisch erwähnt er, dass es sich um Schüler (die Klassenstufe wird nicht genannt), 12- bis 14-jährige „Pfadfinder“ oder in einem Falle auch um eine Gruppe der Bundeswehr handelte. Alter, Lebenserfahrung und Vorwissen der Geführten sind aber zu berücksichtigen, da sich diese Faktoren auch auf die Interaktion zwischen Guides und Geführten auswirken.

Gudehus zeigt im Folgenden exemplarisch an sechs Führungen aus den vier genannten Gedenkstätten, was dort über das historische Geschehen und seine Repräsentation erzählt wird und wie Besucher sich dazu äußern. Anschließend werden über diese sechs Fallstudien hinausgehende Erkenntnisse zusammengefasst, beispielsweise zu Inhalten und Formen der Erzählung, zur Rekonstruktion der zeitgenössischen Gesellschaft und zu Gründen für Auslassungen oder Tabuisierungen. In der Beschreibung wird deutlich, dass in vielen Führungen nicht in erster Linie erzählt wird, um das Verstehen der Vergangenheit zu erleichtern. Vielmehr sollen die Geführten Lehren ziehen und diese zur normativen Grundlage eigenen Handelns machen, um eine Wiederholung des historischen Geschehens zu verhindern. Derartige Wirksamkeitserwägungen bleiben, wie Gudehus an verschiedenen Beispielen zeigt, nicht ohne Folgen für die Führungserzählung. Insbesondere führen sie zu fragwürdigen pädagogischen Strategien wie Moralisierung, Emotionalisierung und ahistorischer Darstellung. Das von den Tätern gezeichnete Bild bleibe überwiegend vage, die Genese und Entwicklung ihrer antisemitischen und rassistischen Einstellungen ungeklärt. Darüber hinaus münde das Paradigma des ‚Lernens aus der Geschichte’ teilweise in eine Gleichsetzung von Vergangenheit und Gegenwart. Gudehus belegt, dass die so genannte Betroffenheitspädagogik im reflektierten gedenkstättenpädagogischen Diskurs zwar im Wesentlichen überwunden ist, nicht aber in der Praxis.

Die Analyse bringt weitere interessante Ergebnisse hervor. So stünden die Guides hinsichtlich ihres Bemühens um eine angemessene Sprache vor einer kaum lösbaren Aufgabe. Bei der Verwendung zeitgenössischer Ausdrücke müssten sie befürchten, dass dadurch nicht gewollte Deutungen übermittelt werden. Es werde beispielsweise nicht nur über ein klischeehaftes Judenbild aufgeklärt; zugleich werde möglicherweise genau dieses Bild tradiert und damit die Sicht der Täter verlängert. Benutzten die Guides hingegen die jeweils aktuell für angemessen befundene Sprache, komme es zu einer enthistorisierten Erzählung.

Während das Bild der Täter unbestimmt bleibe, würden die Verfolgten sakralisiert. Erzählungen, in denen sie moralisch uneindeutig handeln, seien selten, und an Quellen aus Opferperspektive würden nicht die üblichen Maßstäbe historischer Quellenkritik angelegt. Gudehus verdeutlicht dabei überzeugend das Spannungsfeld der verschiedenen Aufgaben und Ziele – Gedenken, Forschen, Mahnen, Dokumentieren –, in dem sich Gedenkstättenarbeit vollzieht. Seine Beobachtung, dass bei Führungen im Haus der Wannsee-Konferenz anders als in den übrigen Gedenkstätten mehr Wert auf die Erklärung des Geschehens als auf Lehren für die Gegenwart gelegt werde, zeigt das besondere pädagogische Potenzial von so genannten Täterorten, deutet aber möglicherweise auch auf Qualitätsunterschiede der pädagogischen Arbeit hin.

Zu den Konsequenzen seiner Untersuchungsergebnisse für die Gedenkstättenpraxis äußert sich Gudehus zurückhaltend. Er empfiehlt, das Geschehen zunächst genau zu beschreiben und sich in der normativen Ausrichtung der Führungen zurückzunehmen. Das Bewusstsein für historisch-gesellschaftliche Einflüsse auf die Konstruktion der Vergangenheit sollte nicht allein durch Bezugnahme auf den früheren, oft kritikwürdigen Umgang mit der Vergangenheit sensibilisiert werden, sondern auch durch einen selbstkritischen Blick auf die eigene Arbeit.

Die Lektüre dieser wichtigen Studie wird leider durch die Darstellung etwas erschwert. Gudehus leistet sich viele Abschweifungen, so dass der „rote Faden“ manchmal verloren geht. Die grundsätzlich sinnvolle Aufeinanderfolge von Fallstudie und Darstellung allgemeiner Ergebnisse führt zu zahlreichen, oft überflüssigen Wiederholungen ohne zusätzlichen Informationswert. Bei der Interpretation von Texten wird der Kontext der Führungen und der Äußerungen, die Gudehus „auf die Goldwaage legt“, nicht immer deutlich – etwas mehr Zurückhaltung wäre das eine oder andere Mal angebracht gewesen. Gudehus schreibt, dass seine während der Datenauswertung erstellten Aufzeichnungen den Kern der Darstellung der empirischen Ergebnisse bildeten. Leider hat er den sprachlichen Duktus seiner Notizen beibehalten; stellenweise schreibt er, als ob er noch mitten in der Arbeit stecke. Außerdem enthält der Text auffallend viele orthografische Fehler.

Trotz der genannten Defizite bietet die Studie einen guten Einblick, was und wie an den genannten Orten in Gedenkstättenführungen über das historische Geschehen erzählt wird. Sie bietet hilfreiche Ansatzpunkte für die didaktische Diskussion und ist allen zu empfehlen, die Führungen in Gedenkstätten konzipieren, durchführen oder evaluieren. Sie regt hoffentlich viele zum Nachdenken darüber an, was warum auf welche Weise Gedenkstättenbesuchern in Führungen erzählt wird – und mit welchen Folgen. Wünschenswert wären vergleichbare Analysen von Führungen in Gedenkstätten zur Erinnerung an das Unrecht in der SBZ/DDR oder in historischen Ausstellungen von Museen. Vor allem aber wäre nach wie vor zu erforschen, was die Geführten aus den erzählten Geschichten und angebotenen Deutungen machen. Dies allerdings lässt sich nur im nachträglichen Gespräch mit ihnen ermitteln und wäre organisatorisch und methodisch noch aufwändiger.

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