Cover
Titel
Soziologie der Stunde Null. Zur Gesellschaftskonzeption des amerikanischen Besatzungsregimes in Deutschland 1944-1945/46


Autor(en)
Gerhardt, Uta
Reihe
stw 1768
Erschienen
Frankfurt am Main 2005: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
457 S.
Preis
€ 16,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Schulte-Umberg, Münster

Hat es in Deutschland 1945 eine „Stunde Null“ gegeben, in der die Grundlage für ein demokratisches Nachkriegsdeutschland gelegt wurde? Es gibt allein aus dem vergangenen Jahr genügend Gedenkbücher, die eine affirmative Antwort auf den ersten Teil der Frage nahe legen. Zumindest ist die „Stunde Null“ eine „Legende“ 1 mit einiger Bedeutung für die Geschichte Deutschlands nach 1945, und als solche hätte sie einen Platz unter den „Deutschen Erinnerungsorten“ verdient. Ob es sie jedoch 1945 gegeben hat, und ob gerade hier der Anfang der (west-) deutschen Nachkriegsdemokratie zu finden ist, wird durchaus bezweifelt. Hans-Ulrich Wehler spricht im vierten Band seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ von der „Zusammenbruchsgesellschaft“, die sich „auch noch zwei, drei Jahre nach dem Kriegsende [...] am Rande anarchischer Zustände bewegte“.2 Gescheitert sei, so Wehler, das alliierte Vorhaben, „durch eine zupackende, rasche Entnazifizierung einen strukturellen Umbau und die politische Sanierung der deutschen Gesellschaft herbeizuführen“. Hermann-Josef Rupieper hat die amerikanischen Bemühungen um einen strukturellen Umbau von deutscher Gesellschaft und Politik eingehender untersucht. An deren langfristigem Erfolg bestehe kein Zweifel. Doch dies „bedeutet keineswegs, dass 1945 als ‚Stunde Null’ gesehen werden kann. Strukturen und Traditionen der Gesellschaft blieben zu einem großen Teil erhalten“.3 Wer sich etwa dem politischen Personal und politischen Mentalitäten auf deutscher Seite in den Nachkriegsjahren zuwendet, stößt rasch auf Kontinuität zu den Jahren vor 1933. Konrad Adenauer ist nur ein – von den Amerikanern einige Jahre eher mit Skepsis beobachtetes – Beispiel.

Uta Gerhardt argumentiert in ihrer „Soziologie der Stunde Null“ entschieden für die amerikanische Grundlegung der Demokratie in Deutschland in der „Stunde Null“. Letztere ist „das Kriegsende“. (S. 11) Dieses Ende sei „zugleich ein Anfang der Demokratie“ (S. 11). Ziel ihrer Studie ist es, den „Systemwechsel von der charismatisch-traditionalen Herrschaft, die im Nationalsozialismus bestand, zum rational-legalen Herrschaftstypus, der in der Bundesrepublik entstand, [...] mit Begriffen der Soziologie [...] verständlich werden“ (S. 15) zu lassen. Grundlegend für die Transformation sei der Beitrag der USA. Im Mittelpunkt müsse aus forschungspragmatischen wie systematischen Gründen das amerikanische „Militärregime zwischen September/Oktober 1944 und Juli 1945, mit Ausläufern bis September 1945 und in das Jahr 1946 hinein“ (S. 65f.) stehen. Denn dieses habe ein „System des Systemwechsels“ (S. 51; Hervorhebung im Original) gewollt und inszeniert, „das zur Demokratisierung Deutschlands hinführte“ (S. 65). Empirisch belegt wird dies durch eine Analyse der Gesellschaftskonzeption des Besatzungsregimes vor allem anhand der umfangreichen Direktiven, Handbücher und Technischen Anweisungen. Sie dienten vom Hauptquartier bis hin zu den lokalen Detachments als Leitfaden für die Praxis der Besatzung. Dabei ging es um eine Gesellschaft, die als so verdorben angesehen wurde, dass nur durch eine radikale Gestaltung des Wandels verschiedener gesellschaftlicher Lebensbereiche und der Mentalität der Deutschen sowie durch die Reorganisation des Funktionierens der Industriegesellschaft ein Neuaufbau gelingen konnte. Die entsprechenden Abschnitte bilden den Kern der Studie, jeweils – um die Handlungslogik des amerikanischen Ansatzes verständlich zu machen – ergänzt durch die Darstellung und Anwendung kultur- bzw. sozialwissenschaftlicher Konzepte sowie eine Rekapitulation der Ergebnisse. Dem voraus gehen Überlegungen zu bisher vorliegenden historischen und soziologischen Ansätzen zum Übergang vom Nationalsozialismus zur deutschen Nachkriegsdemokratie und die Entwicklung eines Fragenkatalogs zum Wandel ganzer Gesellschaften. Das Buch beschließen ein Epilog zur amerikanischen Besatzungspraxis im Irak und weiterführende Forschungsfragen.

Um sich die mögliche interpretatorische Bedeutung von Gerhardts Studie vor Augen zu führen, kann die Kontrastierung mit Klaus-Dietmar Henkes zum fünfzigsten Jahrestag des Kriegsendes vorgelegter, auch im wörtlichen Sinn gewichtiger Studie zur amerikanischen Besetzung Deutschlands hilfreich sein. Einleitend formulierte Henke den Gedanken, es handele sich bei seinem Untersuchungszeitraum um die „Kernzone jener [...] Katastrophen- und Transformationsphase, in der das Ende des [...] alten Deutschland und zugleich der Anfang eines moderneren, homogeneren und liberaleren neuen Deutschland im Westen beschlossen lagen“.4 Auf den folgenden 1.000 Seiten wird eine Gesamtdarstellung möglichst jeglicher Aspekte „von Gewicht“ für die amerikanische wie deutsche Seite in epischer Breite geboten. Aber was ist „von Gewicht“? Vergleichsweise bietet die „Soziologie der Stunde Null“ eine theoriegeleitete, empirisch basierte Rekonstruktion der Gesellschaftskonzeption des Besatzungsregimes, und zwar nicht nur der handlungsleitenden Konzepte, sondern ansatzweise auch der Praxis. Welchen Zugewinn dieses Vorgehen bringt, lässt sich an einzelnen Abschnitten erkennen. So sind etwa die Ausführungen über „Die Deutschen der Stunde Null im Blickfeld der Amerikaner“ (S. 161-168, Hervorhebung im Original) in Verbindung mit den folgenden Ausführungen über Machtrituale sehr erhellend. Aufschlussreich ist unter anderem weiter die Analyse der zeitgenössischen Überlegungen Talcott Parsons zum Umbau der deutschen Wirtschaft, die von unmittelbarer Bedeutung für die Praxis des Besatzungsregimes waren (S. 224-233). Dass gerade Parsons und andere Intellektuelle Einfluss auf Konzept und Praxis der Besatzungsherrschaft nehmen konnten, hatte mit der innerhalb der USA vielfach geteilten Ansicht zu tun, gesellschaftlichen Wandel nach rationalen Kriterien planen und anleiten zu können.

Wichtig ist jedoch vor allem, wie mit Blick auf das Thema – vor allem ausgehend von Parsons Theorie des sozialen Wandels und Max Webers Herrschaftssoziologie sowie den Ansätzen Alfred Schütz’, Emile Durkheims und Georg Simmels – begriffliche Leitlinien für eine Rekonstruktion und verstehende Analyse des Wandels der deutschen Gesellschaft entwickelt (S. 51-68) und angewandt werden. Vereinfacht ausgedrückt: Das amerikanische Besatzungsregime kreierte und inszenierte gerade unter den Bedingungen des zeitgenössischen „Interregnum“ (S. 16, Hervorhebung im Original) eine eigene Logik des Endes und Neuanfangs, am „historischen Tiefpunkt seiner Geschichte wurde Deutschland umgestaltet“ (S. 282). Der durch die „Soziologie der Stunde Null“ ermöglichte Erkenntnisfortschritt besteht in einem neue Perspektiven eröffnenden Zugang zur „Kernzone“ der „Transformationsphase“ der deutschen Gesellschaft. Allerdings stützt sich die Studie dabei vorrangig auf Quellen, die die Praxis der amerikanischen Besatzungsherrschaft normierten. Dass daher noch weitere Forschungen zu unternehmen wären, ist offensichtlich und gehört zu den von Gerhardt formulierten Forschungsdesideraten (S. 298). Wer das ob und wie einer „Wandlung der Deutschen“ (S. 282) nachweisen will, hätte weiterhin auch aus der Argumentationslogik der „Soziologie der Stunde Null“ heraus die Adressaten der Besatzungspolitik einzubeziehen. Mit Recht ist zwar die korrekte Erfassung der Intentionen der amerikanischen Besatzungsmacht in deutschen Quellen als zweifelhaft zu bezeichnen (S. 299). Nur reicht die Analyse eben dieser selbstverständlich die ‚Eingeborenen’ im Blick habenden amerikanischen Intentionen sowie der entsprechenden Praxis nicht hin, wenn es um den Nachweis einer nicht aufgezwungenen, sondern genuinen „Wandlung“ hin zur Demokratie geht. Ein solcher Wandel war jedenfalls von dieser Besatzungsmacht beabsichtigt und muss laut Gerhardt zeitgenössisch stattgefunden haben. Sonst wäre, wie sie im Zusammenhang mit der Ablehnung der These der auferlegten Demokratie 5 formuliert, „der Autoritarismus und Utilitarismus noch heute vorherrschend, und Deutschland wäre wohl bis heute eine ‚Demokratie ohne Demokraten’“ (S. 31). Dieser Rückschluss, so eingängig er sein mag, überzeugt nicht.

Die „Soziologie der Stunde Null“ lässt von der Anlage her allgemeinere Erkenntnisse für einen Wechsel von einer Diktatur zur Demokratie erwarten. Der Blick auf die amerikanische Besatzungspraxis im Irak seit dem Frühjahr 2003 erscheint so nachgerade zwangsläufig. Die USA sind ohne nennenswerte Vorbereitung auf das Nachher bzw. ein Besatzungsregime in den Irak gezogen. Das Ergebnis ist auch deshalb verheerend.6 Es liegt also der Rat nahe, amerikanische Regierungsstellen sollten aus einer sozialwissenschaftlichen Analyse der amerikanischen Besatzungsherrschaft in Deutschland für den Irak lernen (S. 295f.). Nur muss eben „die Besatzungszeit [in Deutschland] [...] in ihre Epoche hineingestellt werden (nämlich die Roosevelt-Ära der amerikanischen Geschichte)“ (S. 16). Gleiches gilt für die „Bush [junior]-Ära“. Deren Unterschiede zur Roosevelt-Ära im Allgemeinen wie im Speziellen – etwa wenn die Gründe für den Krieg gegen NS-Deutschland mit denen des Irak-Kriegs oder der Stellenwert wissenschaftlicher Politikberatung verglichen werden – sind jedoch so gravierend, dass der gegebene Rat, so sinnvoll er für sich erscheinen mag, der heutigen Problemlage nicht gerecht wird. Eine angemessene, weil sachgerechte Würdigung des amerikanischen Beitrags zur Entstehung der Demokratie in Deutschland, das ein Grundanliegen der „Soziologie der Stunde Null“ ist, sollte dadurch nicht vereitelt werden.

Anmerkungen:
1 Reichel, Peter, Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, München 1995, S. 231.
2 Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, München 2003, S. 951-954, das Zitat S. 954, das folgende Zitat S. 956.
3 Rupieper, Hermann-Josef, Die amerikanische Demokratisierungspolitik in Westdeutschland 1945-1952, in: Oberreuter, Heinrich; Weber, Jürgen (Hgg.), Freundliche Feinde? Die Alliierten und die Demokratiegründung in Deutschland (Akademiebeiträge zur politischen Bildung 29), München 1996, S. 197-216, S. 198; vgl.: Ders., Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie. Der amerikanische Beitrag 1945-1952, Opladen 1993.
4 Henke, Klaus-Dietmar, Die amerikanische Besetzung Deutschlands (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 27), München 1995, S. 25, das folgende Zitat S. 26.
5 Vgl. Merritt, Richard, Democracy Imposed. U.S. Occupation Policy and the German Public, 1945-1949, New Haven 1995.
6 Vgl. Etwa: Packer, George, The Assassins’ Gate. America in Iraq, New York 2005.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension