B. Heim: Die Westdeutschen und die Dritte Welt

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Titel
Die Westdeutschen und die Dritte Welt. Entwicklungspolitik und Entwicklungsdienste zwischen Reform und Revolte 1959-1974


Autor(en)
Hein, Bastian
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 65
Erschienen
München 2005: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
X, 334 S.
Preis
€ 38,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Corinna Unger, Deutsches Historisches Institut Washington, DC

Der Titel von Bastian Heins Buch, „Die Westdeutschen und die Dritte Welt“, führt ein wenig in die Irre: Bei der aus einer Regensburger Dissertation hervorgegangenen Arbeit handelt es sich nicht um eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis der Westdeutschen zur so genannten Dritten Welt, sondern um eine mentalitätsbezogene Institutionengeschichte, die der Untertitel des Buches, „Entwicklungspolitik und Entwicklungsdienste zwischen Reform und Revolte“, besser trifft. Als Teil des Forschungsprojekts „Reform und Revolte. Politischer und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik Deutschland in den 1960er und frühen 1970er Jahren“ des Instituts für Zeitgeschichte soll die Studie die in den letzten Jahren entstandenen Studien zur Liberalisierung und Westernisierung der Bundesrepublik ergänzen. In fünf chronologisch geordneten Kapiteln, die die Jahre 1959 bis 1974 als reform- und debattenreiche Phase der Entwicklungspolitik umfassen, untersucht Hein die personelle, strukturelle und institutionelle Evolution der westdeutschen Entwicklungshilfedienste als einen Gegenstand, an dem die Demokratisierungsbemühungen der 1960er-Jahre besonders sichtbar werden. Geleitet ist die Arbeit von dem Anliegen des Münchener Gesamtprojekts, „die bisher angebotenen historischen ‚Meistererzählungen’ zur Geschichte der ‚langen 1960er Jahre’ und zur Rolle der revoltierenden Studenten [...] empirisch zu überprüfen“ (S. 3). Entsprechend geht es Hein um die Frage, inwiefern das Verständnis der 1960er-Jahre als Jahrzehnt der Fundamentalliberalisierung (Ulrich Herbert) zutrifft oder sie „ein eher ambivalentes Jahrzehnt“ waren, in deren Kontext es „in einzelnen Bereichen [...] zu einer hartnäckigen ‚Abwehr des Reformdrangs’ bzw. zu ‚Gegenreaktionen’ und der Rückkehr tradierter Verhaltensmuster“ kam (S. 3).

Gegenüber dieser interessanten Fragestellung gerät die angekündigte empirische Überprüfung der „Meistererzählungen“ über die 1960er-Jahre etwas blass. Zwar beschreibt Hein eingängig, wie die westdeutschen Entwicklungsdienste zum Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen um das praktikable Maß an Mitbestimmung wurden, überträgt die daraus resultierenden Befunde jedoch nur begrenzt auf die bundesdeutsche Gesellschaft. Im Fazit kommt er zu dem Schluss, dass sich die „68er“ nicht als homogene Gruppe fassen ließen (S. 310) und der Begriff der Fundamentalliberalisierung das Jahrzehnt nicht zutreffend kennzeichne. Eher könne man von „einer Art Pluralisierung der bundesdeutschen Gesellschaft“ sprechen, stellt Hein fest, führt diese anregende These jedoch nicht aus (S. 308). Bezüglich der Mitbestimmungspraxis konstatiert er, „dass das kompromisslose und in seiner Art zutiefst undemokratische Auftreten des radikalen Teils der ‚68er’“, die „die Freiheiten missbrauchten“, die ihnen die Leitung des Deutschen Entwicklungsdienstes einräumte, „keinesfalls nur liberalisierende Wirkungen hervorrief“, sondern letztlich zum Sieg der „‚Konterreformer’“ über die Demokratisierungsbemühungen geführt habe (S. 311). Hätten die Entwicklungshelfer/innen ihre Mitbestimmungsforderungen nicht überspitzt, sondern die ihnen gewährten Möglichkeiten konstruktiv genutzt, wäre es Erhard Eppler und der SPD vielleicht doch gelungen, die politisierte Jugend über das idealistische Potential der Entwicklungspolitik in die Gesellschaft zu re-integrieren und mehr öffentliche Unterstützung für die westdeutsche Entwicklungshilfe zu generieren, ließe sich folgern.

Doch was brachte die Entwicklungshelfer/innen überhaupt dazu, sich so intensiv für die Demokratisierung und Enthierarchisierung ihrer Institutionen einzusetzen? Wäre es nicht denkbar, dass ihre Erfahrungen in den entkolonialisierten Staaten und ihre Auseinandersetzung mit dem Problem der nachwirkenden, von der Entwicklungshilfe zum Teil reproduzierten Abhängigkeiten der Dritten gegenüber der Ersten Welt eine besondere Sensibilität gegenüber den in der eigenen Gesellschaft als ungerecht empfundenen Machtverhältnissen hervorbrachten, die sich in der Forderung nach Mitbestimmung und der Entwicklung stärker kontextorientierter Grundsatzkonzepte niederschlug? Hier läge ein Ansatzpunkt für eine methodisch und thematisch anregende Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Transfergeschichte. Hein konzentriert sich unterdessen auf die institutionellen Entwicklungen, so dass ministerielle Vermerke und interne Arbeitspapiere im Mittelpunkt der Analyse stehen. Mit welcher Art von Entwicklungsprojekten es die Helfer/innen zu tun hatten, unter welchen Umständen sie in den verschiedenen Ländern arbeiteten und welche Beziehungen zu den Gastgesellschaften entstanden, findet keine Beachtung. Zwar ist das auch nicht das Anliegen der Arbeit, doch wie lässt sich das Verhalten der Freiwilligen und Mitarbeiter/innen gegenüber den Entwicklungsdiensten erklären, wenn man nicht ihre persönlichen Erfahrungen einbezieht? Schließlich agierten sie nicht im luftleeren Raum, sondern verorteten sich selbst als (wenn auch außenstehender) Teil der westdeutschen Gesellschaft bzw. traten als dessen Repräsentanten auf. Als solche kamen viele von ihnen zu der Überzeugung, dass Entwicklungshilfe im herkömmlichen Sinne ungeeignet sei, um die strukturellen Zusammenhänge von Armut, mangelnder Bildung, Abhängigkeit von Weltmarktpreisen und korrupten politischen Regimes zu durchbrechen. Hein berührt diese Problematik, wenn er über die Bemühungen der entwicklungspolitischen Arbeitsgruppen spricht, sich als soziale Bewegung zu etablieren, um die westdeutsche Gesellschaft mit der Dritten Welt zu solidarisieren und konstruktiv auf die Gestaltung der Entwicklungshilfepolitik einzuwirken, geht ihr jedoch nicht weiter nach (Kap. V.1).

Dass das Solidarisierungsbemühen an Konflikten und Machtstreitigkeiten der verschiedenen Fraktionen, am Misstrauen gegenüber staatlichen Instanzen sowie am mangelnden Mobilisierungspotential der Entwicklungspolitik scheiterte, erklärt Hein unter anderem mit der Inkohärenz der beteiligten Gruppen. An dieser Stelle wäre es lohnend, den Ursachen dieses Misstrauens und den Bedingungen außerparlamentarischen Engagements in der Bundesrepublik der 1960er-Jahre nachzugehen. Auf diese Weise ließen sich gegebenenfalls Aussagen über die gesellschaftliche Relevanz der Demokratisierungsversuche der Entwicklungshelfer sowie ihrer pädagogischen Reformansätze und Mitbestimmungsexperimente für den westdeutschen Umgang mit Selbstverwaltungsmodellen, die Zusammenarbeit zwischen halbstaatlichen bzw. privaten Akteur/innen mit staatlichen Institutionen und die Wahrnehmung der direkten Partizipation in der westdeutschen Öffentlichkeit erhalten. Eine weitere Möglichkeit, das Blickfeld der Arbeit zu erweitern, wäre eine kritische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Verwendung der Begriffe „Entwicklung“, „Entwicklungshilfe“, „Entwicklungspolitik“ und „Dritte Welt“. Solch eine Analyse könnte Aufschluss über das Selbstverständnis der Akteur/innen geben, denn schließlich ist das Verständnis von Entwicklungshilfe „dem historischen Wandel [...] unterworfen“, wie Hein selbst anmerkt (S. 28). Dies impliziert, dass sich auch die Selbstwahrnehmung und die Rollen der Helfer/innen und Administratoren/innen verändern – wobei die Effekte solchen Wandels nicht auf die internationale Hilfsebene begrenzt sind, sondern auch etwas über die innere Konstitution der westdeutschen Gesellschaft aussagen, um die es hier ja geht.

Derlei übergeordnete Fragen kommen in Heins Arbeit etwas kurz. Dagegen enthält sie eine konzise Darstellung des westdeutschen entwicklungshelferischen Engagements vor dem Hintergrund des Wirtschaftswunders, schwankender Weltmarktbedingungen und einsetzender Finanznöte. Auch die administrativen Bemühungen der 1960er-Jahre, umfassende Planungskonzepte zu entwerfen und die politischen Entscheidungsprozesse zu rationalisieren, stellt Hein anschaulich dar. Auf der Basis einer großen Menge archivalischen Materials der kirchlichen und halbstaatlichen Entwicklungsdienste gibt er einen guten Überblick über die komplizierte Organisation der westdeutschen Entwicklungshilfe, die Positionen der beteiligten Akteur/innen und Institutionen sowie die Widerstände, auf die die Entwicklungshilfe in der Bundesrepublik stieß. Er lässt keinen Zweifel daran, dass die westdeutsche Entwicklungshilfepolitik in erster Linie auf amerikanisches Drängen antwortete und den Besitzstand der Bundesrepublik mindestens zu wahren suchte; dagegen habe philanthropische, als Friedenspolitik verstandene Entwicklungspolitik nur geringe Chancen besessen. Hinzu kam die deutschlandpolitische Konkurrenz zur DDR, unter deren Einfluss die Entwicklungshilfe zu einem Instrument der Hallstein-Doktrin wurde. Konflikte um Ressortzuständigkeiten und die Vereinnahmung der Entwicklungshilfe zu parteipolitischen Zwecken taten das Ihre, die Formulierung einer einheitlich-konstruktiven Linie gegenüber der Dritten Welt zu verhindern, so Hein. Damit führt er die traditionelle Interpretation der westdeutschen Entwicklungshilfepolitik fort, die inzwischen allerdings von einigen Seiten in Frage gestellt wird. Heide-Irene Schmidt etwa argumentiert, dass die westdeutsche Entwicklungshilfe ihr Engagement umsichtig an den Bedürfnissen der betroffenen Staaten orientiert habe und keineswegs inkonsistent und unzureichend, sondern „respectable, comprehensive and wide-ranging“ gewesen sei.1 Weiterführende Studien sind erforderlich, um diese divergierenden Positionen zu überprüfen und gegebenenfalls zu einer Neubewertung der westdeutschen Entwicklungshilfe zu kommen. Dabei wird es auch nötig sein, die internationale Dimension stärker als bislang üblich zu berücksichtigen.

Anmerkung:
1 Schmidt, Heide-Irene, Pushed to the Front. The Foreign Assistance Policy of the Federal Republic of Germany, 1958-1971, in: Contemporary European History 12/4 (2003), S. 473-507, hier S. 507.

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