R. Dahrendorf: Versuchungen der Unfreiheit

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Titel
Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung


Autor(en)
Dahrendorf, Ralf
Erschienen
München 2006: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
239 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Morat, DFG-Graduiertenkolleg "Generationengeschichte", Georg-August-Universität Göttingen

Ralf Dahrendorf ist sicher ein „Liberaler von besonderer Art“ (S. 49), also selbst einer Derjenigen, um die es in seinem neuen Buch hauptsächlich geht. Der 1929 in Hamburg geborene Soziologe ist zugleich öffentlicher Intellektueller und politisch Aktiver. 1974 übersiedelte er aus freien Stücken nach England als dem Stammland des Liberalismus. Dort wurde er nicht nur Leiter des St. Anthony’s College und Prorektor der Universität Oxford, sondern von Elisabeth II. auch in den Adelsstand erhoben. Als Baron of Clare Market in the City of Westminister sitzt er nun auf den cross benches des britischen Oberhauses und pflegt dort die Tradition derer, die er in seinem Buch selbst zu Mitgliedern der retrospektiv gegründeten societas Erasmiana ernannt hat.

Doch der Reihe nach. Dahrendorf hatte als Ausgangspunkt für seine „Erkundungsreise zu den Quellen des liberalen Geistes“ (S. 9) zunächst die gute Idee, die vielfach gestellte Frage nach dem „Verrat der Intellektuellen“ im 20. Jahrhundert einmal umzudrehen und sich zu ihrer Beantwortung nicht mit den Vordenkern und Mitläufern des Totalitarismus zu beschäftigen, sondern mit denen, die angesichts der Versprechungen des Faschismus und des Sowjetkommunismus standhaft geblieben sind. Welcher Eigenschaften und Tugenden bedurfte es, so fragt er in seiner Studie über „die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung“, um den „Versuchungen der Unfreiheit“ zu widerstehen? Bei der Beantwortung dieser Frage gelangt er zu einer „Tugendlehre der Freiheit“ (S. 54), die er in erster Linie am Beispiel der von ihm ausgewählten Leitfiguren Karl Popper, Raymond Aron und Isaiah Berlin entwickelt. Die vier Kardinaltugenden, die diese liberalen Geister ausgezeichnet und gegen die Anfechtungen des Totalitarismus immunisiert hätten, sind nach Dahrendorf „die Fähigkeit, sich auch wenn man allein bleibt nicht vom eigenen Kurs abbringen zu lassen; die Bereitschaft, mit den Widersprüchen und Konflikten der menschlichen Welt zu leben; die Disziplin des engagierten Beobachters, der sich nicht vereinnahmen lässt; die leidenschaftliche Hingabe an die Vernunft als Instrument der Erkenntnis und des Handelns“ (S. 79). Der erste europäische Intellektuelle, der diese Tugenden in den stürmischen Zeiten der Reformation an den Tag gelegt habe, sei Erasmus von Rotterdam gewesen, weshalb Dahrendorf seine Protagonisten Aron, Berlin und Popper als „Erasmus-Intellektuelle“ oder auch als „Erasmier des 20. Jahrhunderts“ (S. 88) bezeichnet. Sie sind die drei vornehmsten Mitglieder der schon erwähnten „societas Erasmiana“ (ebenda), zu der Dahrendorf des Weiteren Intellektuelle wie Norberto Bobbio, Jan Patocka und Hannah Arendt sowie die Renegaten Arthur Koestler und Manès Sperber zählt.

Indem Dahrendorf ihre Karrieren und politischen Lebenswege verfolgt, gelingen ihm durchaus anregende Kurzporträts dieser und anderer Intellektueller des 20. Jahrhunderts. Das alleinige Maßstabnehmen an den Erasmus-Tugenden führt allerdings gleichzeitig zu allerlei Einseitigkeiten und Verkürzungen. Hannah Arendt attestiert er (als einer der wenigen von ihm behandelten Frauen), dass ihre „Emotionen zu stark waren, um sie zur Erasmierin reinsten Wassers zu machen“ (S. 88). Am kuriosesten ist wohl die Einordnung Theodor W. Adornos, dem er zunächst anpasslerisches Verhalten zu Beginn des „Dritten Reichs“ und „grenzenlose Negativität“ (S. 124) vorwirft, den er zuletzt aber doch zum Erasmier mit Abstrichen erklärt. Die grundlegenden Differenzen zwischen dem Kritischen Rationalismus Popperscher und der dialektischen Theorie Adornoscher Prägung, die zu Beginn der 1960er-Jahre Gegenstand des auch von Dahrendorf mit ausgefochtenen Positivismusstreits waren, fallen bei dieser Art der Betrachtung gänzlich unter den Tisch. Das ist umso erstaunlicher, als Dahrendorf noch vor wenigen Jahren gegenüber Michael Walzer betont hat, dass Theorie für die Aufgabe der intellektuellen Gesellschaftskritik wichtiger sei als Tugend.1 In Dahrendorfs aktuellem Tugendkatalog ist von Theorie jedoch nicht mehr viel übrig. Das führt auch dazu, dass er mit seinem hier knapp skizzierten und an Isaiah Berlin orientierten Freiheitsbegriff hinter die von ihm selbst an anderer Stelle formulierte Einsicht wieder zurückfällt, dass politische Freiheit nicht im luftleeren Raum praktiziert werden kann, sondern der sozialen Bindungen und „Ligaturen“ bedarf.2

Dahrendorfs Studie offenbart allerdings nicht nur auf der Ebene der Sozialtheorie Schwächen. Auch seine historischen Erklärungen können bei genauerem Hinsehen wenig überzeugen. Das beginnt beim Begriff der „Versuchung“, der die Anziehungskraft von Faschismus und Kommunismus indirekt zum Normalfall und die Standhaftigkeit zur Ausnahme erklärt. Selbst wenn dies historisch nicht ganz von der Hand zu weisen ist, verschleiert es doch die Tatsache, dass sich das Mitläufer- und Vordenkertum der einen ebenso wie das Festhalten am Liberalismus der anderen vielfach auch als bewusste politische Entscheidung verstehen lässt. Deshalb überrascht es am Ende nicht, dass überzeugte Liberale weder beim Faschismus noch beim Sowjetkommunismus mitgemacht haben, während das Mitmachen der anderen durch den Blick auf die „Unversuchbaren“ (S. 39) und mit dem Verweis auf einen Mangel an Tugendhaftigkeit letztlich nicht erklärt werden kann. Auch Dahrendorfs Entscheidung, sich in erster Linie mit der Generation der zwischen 1900 und 1910 geborenen Erasmier zu beschäftigen, trägt trotz der Bezugnahme auf die zeithistorische Generationsliteratur von Ulrich Herbert bis Michael Wildt nicht zur historischen Erklärung bei. Aufschlussreicher sind dagegen die beiden Kapitel, in denen Dahrendorf die engagierte Haltung der Erasmier erstens vom „reinen Schauen“ (S. 119) der Ästheten à la Ernst Jünger und zweitens von den anders gelagerten Tugenden der Widerstandskämpfer abgrenzt. Hier gelangt er zu einer historischen Differenzierung, die man in anderen Teilen der Studie vermisst.

Doch diese Kritikpunkte mögen an der Sache und an Dahrendorfs Intention vorbeigehen. Denn je weiter man in der Lektüre fortfährt, desto mehr erkennt man, dass Dahrendorf hier in erster Linie ein sehr persönliches und subjektiv gefärbtes Buch vorgelegt hat, das vielleicht mehr als politisches Bekenntnisbuch und als Hommage an die „väterlichen Freunde“ (S. 40) Berlin, Popper und Aron zu lesen ist denn als historische Studie. Das wird unter anderem in dem Kapitel deutlich, in dem Dahrendorf seine Wahlheimat England als „Erasmus-Land“ (S. 158) feiert und in schönster Whig-History-Tradition zur „Realität der offenen Gesellschaft“ (S. 160) verklärt. Dieses Bekenntnis zum liberalen Denken und zum angelsächsischen common sense ist im Falle Dahrendorfs nicht überraschend, aber (zumindest dem Rezensenten) auch nicht unsympathisch. Denn auch wenn wir gegenwärtig mit anderen Gefahren als denen des Totalitarismus konfrontiert sind, wie Dahrendorf am Ende mit Blick auf den „Krieg gegen den Terror“ bemerkt, ist ihm doch zuzustimmen, dass der offenen Gesellschaft beständig neue Feinde erwachsen. Das Anlegen einer „kleinen Ruhmeshalle“ (S. 150) des liberalen Geistes mag da nicht unbedingt wesentlich Neues zur Erhellung der Geschichte des 20. Jahrhunderts beitragen. Als Orientierung für die Zukunft des 21. Jahrhunderts kann es aber auch nichts schaden.

Anmerkungen:
1 Vgl. Dahrendorf, Ralf, Theorie ist wichtiger als Tugend. Gesellschaftskritik und Intellektuelle, in: Wenzel, Uwe Justus (Hg.), Der kritische Blick. Über intellektuelle Tätigkeiten und Tugenden, Frankfurt am Main 2002, S. 39-43.
2 Vgl. dazu etwa: Dahrendorf, Ralf, Das Zerbrechen der Ligaturen und die Utopie der Weltbürgergesellschaft, in: Beck, Ulrich; Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hgg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt am Main 1994, S. 421-436.