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Titel
Crónica Mexicayotl. Die Chronik des Mexikanertums des Alonso Franco, des Hernando de Alvarado Tezozomoc und des Domingo Francisco de San Antón Munón Chimalpahin Quauhtlehuanitzin


Herausgeber
Riese, Berthold
Reihe
Collectanea Instituti Antropos 44
Erschienen
St. Augustin 2004: Academia Verlag Richarz
Anzahl Seiten
425 S.
Preis
EUR 55,14
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Hinz, Abteilung für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte, Universität zu Köln

Die vorspanische Ereignisgeschichte Mexikos liegt trotz der mittlerweile breiten und sorgfältigen archäologischen Forschungen, die vor allem Erkenntnisse im Bereich der Kulturgeschichte erbracht haben, leider noch immer zu weiten Strecken im Dunkeln. Ein Grund hierfür ist die Vernichtung nahezu aller schriftlicher Quellen durch christliche Missionare im Laufe des 16. Jahrhunderts, die auf diese Weise die Erinnerung an die Religion der Nahuavölker auszulöschen versuchten, weil sie ihnen abscheulich und barbarisch erschien.

Die Quellen, aus denen wir heute unser Wissen über die geschichtlichen Vorgänge in Altmexiko beziehen, stammen zum allergrößten Teil aus der Zeit nach der Conquista, der Eroberung Mexikos durch Hernán Cortés 1521. Die Geschichte wurde nun (wie so oft) von den Siegern geschrieben. Die Conquistadoren verfassten selbst Berichte, die zur altmexikanischen Geschichte einige ungenaue Informationen enthalten und von Humanisten/innen in Spanien ausgewertet und stilistisch verfeinert wurden. Ebenso schrieben die Missionare in Mexiko Chroniken, die sich nicht zuletzt deshalb mit der heidnischen Geschichte der Nahuas befassten, um sie in ihrem Sinne umzudeuten. Neben Fray Toribio ‚Motolinia’ de Benaventes OFM Werk, das leider nur in Bruchstücken überliefert ist, ragt hier vor allem die Historia general de las cosas de Nueva España des Fray Bernardino de Sahagún OFM hervor, der sich in den Jahrzehnten nach der Eroberung auch durch gezielte ‚Zeitzeugenbefragung’ ausführlich über die vorspanischen Nahuas informierte. Doch diese franziskanischen Quellen sind nicht nur christlich gefärbt, sondern auch eher an Kulturellem interessiert. Die wohl unverfälschteste Quelle zur vorspanischen Geschichte Mexikos dürften die Annalen von Tlatelolco sein, die zwar bereits in lateinischer Schrift aufgezeichnet wurden und daher letztlich auch im christlichen Kontext zu werten sind, andererseits aber zu den frühesten Quellen nach der Eroberung zählen (1528) und deren aztekische Autoren noch recht wenig spanischen Einfluss auf Stil und Geschichtsperspektive zeigen. Allerdings beschränken sie sich auf die Geschichte von Tlatelolco, Tenochtitlán und Azcapotzalco und bieten damit ein zwar wichtiges, aber nur kleines Teilstück des politischen Gesamtbildes Altmexikos. 1 Nur wenige weitere solcher Teilstücke haben sich erhalten. Umso wichtiger ist es, sie sorgfältig zu edieren und zueinander in Beziehung zu setzen. 2

Die Crónica Mexicayotl, vielleicht wegen ihres späten Entstehungsdatums lange in ihrer Wichtigkeit verkannt, gehört zum Überlieferungskreis der älteren, heute verschollenen sogenannten Crónica X und ist insbesondere in Bezug auf die Genealogie der herrschenden Familien des Hochtals von Mexiko vor und nach der Conquista, das heißt vor allem vom 15. bis ins 17. Jahrhundert, die wichtigste historische Quelle. Sie wurde von mindestens drei verschiedenen Autoren – dem sonst unbekannten Alonso Franco (nach 1520-1602), von Hernando de Alvarado Tezozómoc (? – mindestens 1609) und Domingo Francisco de San Antón Muñón Chimalpahin Quauhtlehuanitzin (1579 - ca. 1660) – verfasst. Tezozómoc entstammte selbst dem Herrscherhaus Tenochtitláns. Die älteste erhaltene Abschrift der Crónica stammt von der Hand Chimalpahins, der einem Adelsgeschlecht Chalcos angehörte und selbst Korrekturen und Ergänzungen eingefügt hat, die er auf andere ihm vorliegende Berichte stützte.

Die Crónica schildert (bis § 96a) zunächst die Wandersage der Azteken unter ihrem Stammesgott Huitzilopochtli von ihrem Aufbruch im legendären Aztlán bis zu ihrer Ankunft an ihrer späteren Heimatstadt Tenochtitlán inmitten der Lagune von Texcoco. Von da ab wird sie in Form einer Königsliste fortgeführt. Berichtet wird insbesondere von der Herrschaft des legendären Tenoch, der angeblichen Abspaltung der Tlatelolca und über Taten und Nachfahren zahlreicher weiterer Herrscher wie Huitzillihuitls oder Moctezumas I. Auffällig betont wird das angebliche grobe Fehlverhalten des Tlatoani (= „Großer Sprecher“; Fürst oder König) Moquihuixtli von Tlatelolco gegenüber seiner Ehefrau Chalchiuhnenetzin, der Schwester des Tlatoani Axayacatls der Schwesterstadt Tenochtitlán. (Dieser war der Vater Moctezumas II. und hatte jenen Palast erbaut, in dem Cortés später Quartier nehmen sollte.) Der daraus folgende Streit sollte schließlich zur Unterwerfung der Tlatelolca unter die Tenochca und zum Tod Moquihuixtlis führen (§ 216a-h u. § 217a-f). Schließlich werden (beginnend mit § 300g) ausführlich die Nachfahren Moctezumas II. aufgezählt – jenes Tlatoani, der die Conquistadoren empfing und in den anschließenden Wirren den Tod fand. Das 19. Kind Moctezumas war Doña Francisca de Moteuhcçoma. „Diese verheiratete sich mit dem Herrn Don Diego Huanitzin, Herrscher von Tenochtitlan“, heißt es (in § 323j), um (in § 324e) fortzufahren, dass der Name von deren vierten Kind „Don Fernando de Alvarado Teçoçomoctzin“ sei – des wohl wichtigsten Autors der Crónica, wie man oben gesehen hat. Die tendenzielle Tlatelolca-Feindlichkeit der Crónica wird weitergeführt, indem auch der Tod Cuauhtémocs, des letzten einst unabhängigen Tenochca-Tlatoani, auf Verrat seitens der Tlatelolca zurückgeführt wird (§ 338b). Die Chronik endet kurz nach dem Tod Don Luis de Santa María Nacacapictzins im Jahr 1565, des letzten Herrschers der legitimen Dynastie Tenochtitláns.

Die Übersetzung der Crónica Mexicayotl - der „Chronik des Mexikanertums“ - aus dem Nahuatl ins Deutsche setzt die Tradition Eduard Selers und der ehemaligen „Quellenwerke zur alten Geschichte Amerikas aufgezeichnet in den Sprachen der Eingeborenen“ Walter Lehmanns, Gerdt Kutschers und Günter Zimmermanns fort. Diese meist sehr gründlichen und kritischen Ausgaben ermöglichen es auch jenen Völkerkundlern/innen oder Historikern/innen, die das Nahuatl nicht sicher beherrschen, sich fundiert auf Themen der Altmexikanistik zu beziehen. Die älteren spanischen Übersetzungen lassen an Genauigkeit leider oft zu wünschen übrig, so dass man sich ansonsten – wenn vorhanden – eher an die englischen etwa John Bierhorsts oder James Lockharts zu halten hätte.

Im Falle der Crónica Mexicayotl, die der Forschung seit ihrer ersten Beschreibung durch den berühmten Ritter Lorenzo Boturini Benaduci (1746) ein Begriff ist, war man bisher vor allem auf die spanische Übersetzung durch Adrian León von 1949 angewiesen. Diese präsentiert den nahuatlsprachigen und spanischen Text untereinander, eine unglückliche Lösung, die den Vergleich erheblich erschwert. Berthold Riese folgt seinen genannten deutschen Vorbildern, indem er die Texte nebeneinander setzt und eine zum Teil zeilenweise Kleinschrittigkeit beachtet. Anders als etwa Walter Lehmann bemüht er sich im Deutschen jedoch um eine zwanglose, dem Nahuatl nicht auf Biegen und Brechen angepasste deutsche Syntax. Das verbessert die Verständlichkeit bisweilen entscheidend. Zudem gliedert er den Text in mehrere hundert mit Überschriften versehene Abschnitte, die eine mühelose Orientierung in der nicht immer einem roten Faden folgenden Vorlage ermöglichen. Dabei stützt sich Riese auf eine von ihm selbst und einigen seiner Studenten/innen neu erstellte buchstabengetreue Transkription des MS 374, vol. 3 der British and Foreign Bible Society, von dem im Anhang auch einige Proben in Facsimile abgedruckt sind, die allerdings teilweise zu blass und zu klein reproduziert wurden. Insgesamt 1764 Fußnoten sichern die bessere Nachvollziehbarkeit einiger Übersetzungsschwierigkeiten, erleichtern die Orientierung innerhalb der Crónica und ermöglichen es durch Querverweise auch den Leser/innen, die sich in den verwandten Quellen nicht gut auskennt, gezielt dortige Parallelpassagen einzusehen. Auch dies unterscheidet Rieses Ausgabe positiv von derjenigen Adrian Leóns.

Einige Anhänge steigern den Wert von Rieses Übersetzung zusätzlich. Zu klein abgedruckt sind leider die vom Autor selbst entworfenen Karten. Zudem hätte man sich hier besser an bereits vorhandenen Vorlagen orientiert3, und statt der Flüsse hätte man sich vielmehr die politische Gliederung des Hochtals von Mexiko verdeutlicht gewünscht, die in der Crónica Mexicayotl ja eine große Rolle spielt. Die Idee der Veranschaulichung des Inhalts durch eine Karte ist gut und verdiente eine qualitativ deutlich bessere Umsetzung. Ein ausführliches Register aller Eigennamen sowie zahlreicher Begriffe aus den materiellen, sozialen und politischen Bereichen der Nahuawelt am Ende rundet den insgesamt sehr guten Gesamteindruck der von Riese herausgegebenen Crónica ab.

Der Preis ist für eine Paperbackausgabe zwar recht hoch, wegen der hohen Qualität der Übersetzung und Bearbeitung jedoch gerechtfertigt.

Anmerkungen:
1 Zu der komplizierten frühen Quellenlage zur Geschichte Mexikos und der politischen Färbung der wichtigsten Überlieferungsstränge vgl. z.B.: Hinz, Felix, Hispanisierung, in: Neu-Spanien 1519-1568. Transformation kollektiver Identitäten von Mexica, Tlaxkalteken und Spaniern, Hamburg 2005, S. 635-780.
2 Eine in Teilen überholte, aber noch immer gute grafische Übersicht zum Zusammenhang der einzelnen Quellen zur Geschichte Altmexikos bietet: Die Geschichte der Königreiche von Colhuacan und Mexico, Text mit Übersetzung von Walter Lehmann, zweite Aufl. hg. von Kutscher, Gerdt, Quellenwerke zur Alten Geschichte Amerikas aufgezeichnet in den Sprachen der Eingeborenen 1, Stuttgart 1974.
3 Zu den Karten der Lagune hätte man sich besser orientiert an: Carrasco, Pedro, Estructura político-territorial del imperio tenochca, la triple alianza de Tenochtitlán, Texcoco y Tlacopan, México 1996, etwa S. 153 beziehungsweise: Gerhard, Peter, A guide to the historical geography of New Spain, Cambridge 1972. Zu Tenochtitlán-Tlatelolco sei z.B. auf die alte Faltkarte in: Orozco y Berra, Manuel, Historia antigua y de la conquista de México, 4 Bd.e, México [1880], zweite Auflage 1978 verwiesen.
Literatur:
Alvarado Tezozómoc, Fernando; León, Adrian (Hgg.), Crónica mexicáyotl [span. Text,
Nahuatltext sowie Übersetzung desselben ins Spanische], México 1949.
Carrasco, Pedro, Estructura político-territorial del imperio tenochca, la triple alianza de Tenochtitlán, Texcoco y Tlacopan, México 1996.
Gerhard, Peter, A guide to the historical geography of New Spain, Cambridge 1972.
Die Geschichte der Königreiche von Colhuacan und Mexico, Text mit Übersetzung von: Walter Lehmann, zweite Aufl. hg. von Kutscher, Gerdt, Quellenwerke zur Alten Geschichte Amerikas aufgezeichnet in den Sprachen der Eingeborenen 1, Stuttgart 1974.
Hinz, Felix, Hispanisierung, in: Neu-Spanien 1519-1568. Transformation kollektiver Identitäten von Mexica, Tlaxkalteken und Spaniern. Hamburg 2005, S. 635-780. Orozco y Berra, Manuel, Historia antigua y de la conquista de México, 4 Bd.e, México [1880], zweite Auflage 1978.

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