D. Briesen: Drogenkonsum und Drogenpolitik

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Titel
Drogenkonsum und Drogenpolitik in Deutschland und den USA. Ein historischer Vergleich


Autor(en)
Briesen, Detlef
Erschienen
Frankfurt am Main 2005: Campus Verlag
Anzahl Seiten
403 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tilmann Holzer, Lehrstuhl für politische Wissenschaft und Zeitgeschichte, Universität Mannheim

Detlef Briesens Studie über Drogenkonsum und Drogenpolitik entstand im Rahmen des Forschungsprojekts "Strafen und Heilen" an der Universität Siegen und wurde durch die Volkswagen Stiftung gefördert. Briesen widmet sich damit einem in der deutschen Geschichtswissenschaft weitgehend vernachlässigten Thema: Drogen und Sucht. Während man die deutschen historischen Studien zum Thema an einer Hand abzählen kann, sind in den USA in den letzten 35 Jahren zahlreiche historische Beiträge über Drogenkonsum, -handel und -politik veröffentlicht worden. Briesens historischer Vergleich beginnt kurz vor dem Ersten Weltkrieg und endet in den 1970er-Jahren, mit einigen Exkursen in die 1980er-und 1990er-Jahre. Die Arbeit ist chronologisch und alternierend strukturiert, wobei ein Kapitel über die Drogenpolitik in den USA auf ein Kapitel zur Situation in Deutschland aufbaut. Der Arbeit liegen für die Abschnitte über Deutschland Archivrecherchen im Bundesarchiv Koblenz und verschiedenen Landesarchiven zugrunde, sowie Recherchen im Public Record Office in Kew, Großbritannien. Amerikanische Archive wurden nicht aufgesucht, gleichfalls wurden keine Zeitzeugen befragt. Die Kapitel über die amerikanische Drogenpolitik basieren hauptsächlich auf aktuellen Publikationen, allerdings wird die Zeitschriftenliteratur kaum berücksichtigt.

Briesen beginnt seine Arbeit mit der Entstehung der ersten Drogengesetze in den USA 1913 (Harrison Act) und den damit in engem Zusammenhang stehenden Internationalen Opiumkonferenzen 1911/12 und 1913. In Deutschland wurde eine politische Reaktion auf den massenhaften Drogenkonsum erst nach dem Ersten Weltkrieg akut, als zahlreiche Soldaten "morphinistisch" heimkehrten. Die Untersuchung analysiert daraufhin den Drogenkonsum in der Weimarer Republik und als staatliche Reaktion darauf die Opiumgesetze von 1920 und 1929. In seinem besten Kapitel zeichnet Briesen detailliert die drogenpolitische Situation im besetzten Deutschland nach. Er kann sich dabei auf zahlreiche Akten, Berichte und zeitgenössische Sekundärliteratur stützen und so ein lebendiges Bild von den Interaktionen zwischen Alliierten und Deutschen vermitteln. Probleme bereiteten unmittelbar nach 1945 ein unkontrollierter Drogenschwarzmarkt, Konflikte zwischen Deutschen und Alliierten über die optimale Reorganisation der Drogenkontrolle und nach 1949 die Transferierung der Kompetenzen in deutsche Hände.

Trotz der skizzierten positiven Aspekte ist Briesens Studie durch vier Konstruktionsmängel gekennzeichnet: Es wurden elementare Archivbestände nicht berücksichtigt, die außenpolitische Ebene wird weitgehend ignoriert und auf einen Vergleich zwischen deutscher und amerikanischer Situation wird faktisch verzichtet. Zentral und damit zusammenhängend ist aber das Fehlen einer Fragestellung und Eingrenzung des Themas. Letztlich definiert der Autor weder einen Untersuchungszeitraum, noch werden Thesen formuliert oder Ziele der Untersuchung festgehalten.

Die Drogenpolitik liegt seit dem Kaiserreich in der Zuständigkeit der nationalen Ebene. Die entsprechenden Archivbestände finden sich im Bundesarchiv in Berlin. Dort lagern unter anderem in den Beständen des Reichsministeriums des Innern, Reichsgesundheitsamts und Auswärtigen Amtes etwa 100 umfangreiche Akten für die Zeit bis 1945. Nochmals 82 Akten finden sich im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes. Diese Überlieferung von 1908 bis 1945 ist der einzig vollständige und mit einer reichen Parallelüberlieferung ausgestattete Bestand über die deutsche Drogenpolitik für diesen Zeitraum. Gleiches gilt für die Nachkriegszeit: Es ist schwer nachvollziehbar, warum Briesen die drogenpolitischen Akten im Bestand OMGUS im Bundesarchiv in Koblenz nicht berücksichtigt hat. Hier hätte er die direkte Interaktion seiner beiden Fallbeispiele USA und Deutschland studieren können. Der Bestand kann zudem über eine Datenbank des IfZ bequem erschlossen werden. Für die 1960er und 1970er-Jahre ist nicht der von Briesen verwendete Bestand B 142 zentral, sondern die Fortführung dieses Bestandes B 353 (Bundesministerium für Gesundheit). Hier finden sich unter anderem ein Kabinettsprotokoll über die Änderung des Opiumgesetzes vom 12. November 1970 und die jährlichen Berichte an die Vereinten Nationen, welche mit detaillierten statistischen, kriminalistischen und politischen Informationen über die Situation in der BRD gefüllt waren, des Weiteren sind hier die Korrespondenz zwischen den beteiligten Ministerien und Gesetzentwürfe archiviert.

Drogenpolitik ist ein Spiel auf zwei Ebenen: der nationalen und der internationalen. Dabei ist gerade in Deutschland die nationale Ebene bis 1972 zumeist nur für die Exekution der internationalen Verträge zuständig. Die deutschen Opiumgesetze von 1920, 1929, 1933 und deren Reaktivierung 1959 sind jeweils nur die Umsetzung internationaler Opiumabkommen und wurden in den ersten drei Fällen gegen teilweise erbitterten Widerstand der Reichsregierung durchgesetzt. So war das erste deutsche Opiumgesetz von 1920 die Umsetzung des Artikels 295 des Versailler Vertrags, der wiederum die Inkraftsetzung des Internationalen Opiumabkommens von 1912 für alle Vertragsparteien festschrieb. Gegen dessen Ratifizierung widersetzte sich die deutsche Regierung aufgrund eines Akteurs, der in Briesens Arbeit praktisch nicht erwähnt wird: die deutsche pharmazeutische Industrie. Diese war bis mindestens 1933 Weltmarktführer in der legalen Drogenproduktion, lange Zeit sogar Monopolist für Drogen wie Kokain, Heroin oder Morphin. Firmen wie Merck, Boehringer oder Bayer produzierten diese Drogen im Tonnenmaßstab und exportierten sie weltweit (z.B. betrug die Jahresproduktion für 1922 1,2 t Kokain, 2,5 t Morphin und 4,2 t Heroin). 1 Internationale Opiumabkommen, mit dem Ziel derartige Exporte zu kontrollieren und zu reduzieren, lagen daher aus Sicht der Reichsregierung nicht im deutschen Interesse.

Ein weiteres Defizit in Briesens Arbeit ist die Vernachlässigung der nationalsozialistischen Drogenpolitik. Diese wird auf fünf Seiten abgehandelt (S. 112-116). Dabei übersieht Briesen, dass einige zentrale Institutionen in dieser Zeit gegründet worden sind. So wurde 1935 die "Reichszentrale zur Bekämpfung von Rauschgiftvergehen" gegründet, mit Nachrichtenstellen in allen Kripo(leit)stellen. Die westdeutschen Rauschgiftdezernate gingen aus der Reichszentrale hervor, wobei ein Großteil des Berliner Führungspersonals der Reichszentrale nach 1945 in westdeutschen Landeskriminalämtern die Rauschgift-Abteilungen leitete. Ferner wurde 1934 die "Reichsarbeitsgemeinschaft für Rauschgiftbekämpfung" gegründet. Diese Organisation beschäftigte sich erstmals mit der Prävention von illegalen Drogen. Die Reichsarbeitsgemeinschaft wurde 1939 in "Reichsstelle gegen die Alkohol- und Tabakgefahren" umbenannt und 1947 als "Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren" wieder gegründet und ist bis heute die zentrale Präventionsorganisation in Deutschland. 2

Für die Zeit der späten 1960er und 1970er-Jahre bietet Briesen einige illustrierende Fallstudien, z.B. für Köln, die anhand von Einzelschicksalen den Weg von Jugendlichen in die Drogenszene greifbar nachzeichnen. Nicht plausibel gemacht wird, warum ausgerechnet um 1968 der Drogenkonsum in den westlichen Gesellschaften derart zunahm, obwohl hierzu einige Studien vorliegen, die insbesondere die Bedeutung einer globalisierten, jugendlichen Drogensubkultur hervorheben. Briesen bleibt stark deskriptiv und bietet den Leser/innen keinen plausiblen Erklärungsansatz an. Und dies obwohl in seinem Literaturverzeichnis kulturhistorische Studien mit derartigen Erklärungen angeführt werden. Damit wäre ein weiteres Manko von Briesens Arbeit angesprochen: Das Literaturverzeichnis. Es umfasst 826 Titel, von denen die neuesten 2001 erschienen sind. Es ist gerade bei der historischen Erforschung von Drogen und Sucht schwer nachvollziehbar, warum die vielen nach 2001 erschienen Titel nicht berücksichtigt wurden. Exemplarisch sei auf das 2002 erschienene Werk "The Quest for Drug Control. Politics and Federal Policy in a Period of Increasing Substance Abuse, 1963-1981" verwiesen. 3 Zusätzlich zur Darstellung sind auf einer beigefügten CD etwa 10.000 Seiten Akten aus amerikanischen Presidential Libraries enthalten, eine der wenigen "Quellenedition" in diesem Bereich. Da Briesen zwar britische, nicht aber amerikanische Archive auswertete, wäre diese Arbeit sicher nützlich gewesen. Außerdem zeigt ein Vergleich zwischen Literaturverzeichnis und Fußnoten, dass von den 826 Titeln im Literaturverzeichnis nur 148 tatsächlich verwendet wurden. Schließlich enthält die Arbeit einige faktische Fehler. Beispielsweise tagte die Internationale Opiumkommission in Shanghai nicht im Februar 1907 (S. 39), sondern im Februar 1909. Der Leiter des Reichsgesundheitsamtes hieß nicht Armin Linz (S. 154), sondern Hans Reiter. Linz leitete die Reichsopiumstelle. Der Gesetzesentwurf für das Betäubungsmittelgesetz von 1971/72 wurde nicht von Dr. von der Linden (BMJ) (S. 335), sondern von Dr. Hoffmann im federführenden BMJFG erarbeitet. Trotz dieser Einwände handelt es sich um eine Studie, die historisches Neuland betritt.

Anmerkungen:
1 Holzer, Tilmann, Globalisierte Drogenpolitik. Die protestantische Ethik und die Geschichte des Drogenverbotes, Berlin, 2002, S. 95.
2 vgl. dazu demnächst: Holzer, Tilmann, Die Geburt der Drogenpolitik aus dem Geist der Rassenhygiene. Deutsche Drogenpolitik von 1933 bis 1972, [2006].
3 Musto, David F.; Korsmeyer, Pamela, The Quest for Drug Control. Politics and Federal Policy in a Period of Increasing Substance Abuse, 1963-1981, New Haven 2002.

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