K. Hunn: "Nächstes Jahr kehren wir zurück ..."

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Titel
"Nächstes Jahr kehren wir zurück ...". Die Geschichte der türkischen "Gastarbeiter" in der Bundesrepublik


Autor(en)
Hunn, Karin
Reihe
Moderne Zeit 11
Erschienen
Göttingen 2005: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
598 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Patrice G. Poutrus, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Der Titel dieses neuen Buches aus der Schule des Freiburger Zeithistorikers Ulrich Herbert beschreibt eindrücklich die Ausgangslage und Entwicklungslogik der türkischen Einwanderung in die Bundesrepublik Deutschland. Karin Hunn kann in ihrer Dissertation anschaulich nachzeichnen, wie die türkischen Migranten selbst, vor allem aber die deutsche und türkische Politik und nicht zuletzt auch die öffentliche Meinung beider Länder erstaunlich lange Zeit davon ausgingen bzw. darauf beharrten, dass die anfänglich reine Arbeitsmigration aus der Türkei, jenseits der sich rasant verändernden gesellschaftlichen Wirklichkeit, nur temporären Charakter haben sollte.

Das Buch ist chronologisch in vier Hauptkapitel gegliedert und folgt darin den Wechselfällen der bundesdeutschen Beschäftigungspolitik. Der Rahmen der Untersuchung reicht von der Vor- und Entstehungsgeschichte des ersten Anwerbeabkommens für türkische Arbeitskräfte in den frühen 1960er-Jahren, dem Ende der Hochkonjunktur in den späten 1960er-Jahren und dem Anwerbestopp 1973 über die ersten vorsichtigen Integrationsversuche der türkischen Migranten in der Regierungszeit Helmut Schmidts bis in die Regierungszeit Helmut Kohls Mitte der 1980er-Jahre. Ergänzt wird diese bewusst breit angelegte Studie durch einen Ausblick auf die Entwicklung während und nach der deutschen Vereinigung.

Hunn stützt sich auf eine für die Zeitgeschichte nicht ungewöhnliche und doch bemerkenswert breite Quellenbasis: Neben den Quellen des Bundesarchivs, also den Überlieferungen der verschiedenen Fachministerien und des Auswärtigen Amtes sowie der Bundesanstalt für Arbeit, bezieht sie insbesondere Archivalien der Arbeiterwohlfahrt, der IG Metall und der IG Bergbau und Energie sowie betriebliche Akten aus dem Bergbau-Archiv in die Analyse ein. Zu den Vorzügen dieser Arbeit zählt, dass Hunn auch türkische Quellen, hauptsächlich Presseberichte und öffentliche Stellungnahmen von Politikern, sowie umfangreiche sozial- und kulturwissenschaftliche Studien und Quellen zum Themenbereich der türkischen Einwanderung in die Bundesrepublik verwendet. Dieses Material und die von Hunn selbst geführten Interviews ermöglichen es ihr, neben den klar geschilderten Strukturen der Arbeitsmigration aus der Türkei in die Bundesrepublik und deren historischem Wandel zuweilen sehr ergreifende Einblicke in die individuellen Auswirkungen des Institutionenhandelns zu liefern. So entsteht ein mehrdimensionales Bild der türkischen Einwanderung in die Bundesrepublik, das geeignet ist, die in der bundesdeutschen Gesellschaft weiterhin vorhandene Missdeutung dieses Prozesses zu korrigieren.

Ein weiterer Verdienst dieser Arbeit ist es, dass Hunn klar aufzeigen kann, wie eine auf ethnische Homogenität setzende Politik in der komplexen Welt der Moderne dazu beiträgt, die inneren Konflikte in nationalstaatlich organisierten Gesellschaften zu verschärfen – Konflikte, die diese Politik doch gerade ausschließen wollte. Am Ende des westdeutschen Beschäftigungsbooms wurden die ins Land geholten Arbeitskräfte als Menschen mit ihren eigenen Entscheidungshorizonten zum Problem für eine Gesellschaft, die sich nicht als Einwanderungsgesellschaft sehen wollte und es doch längst war. Der Eskapismus der verschiedenen Regierungsparteien der Bonner Republik schlug sich in einem klassisch zu nennenden Zielkonflikt nieder: Auf der einen Seite kehrte die Bundesrepublik öffentlich zur traditionellen Abwehrpolitik gegenüber Ausländern zurück, die ähnlich schon während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik praktiziert worden war. Auf der anderen Seite war es nur unter Aufgabe der Prinzipien des demokratischen Rechtsstaates möglich, die zuvor angeworbenen türkischen Migranten zur Rückkehr zu bewegen – was damit faktisch undurchführbar blieb. So war die Politik gegenüber der türkischen Bevölkerungsminderheit nach dem Anwerbestopp von 1973 ebenso kurzatmig wie widersprüchlich. Auch die bundesdeutschen Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften wirkten in dieser Hinsicht nur wenig vermittelnd in die Gesellschaft, sondern waren häufig genug selbst Bestandteil des Problems.

Dies alles hatte zur Folge, dass in der bundesdeutschen Öffentlichkeit aus den anfänglich angeworbenen und zumeist als duldsam dargestellten türkischen Arbeitern und deren Familien nun ungewollte und kaum integrierbare Angehörige einer fremden bis feindlichen Kultur wurden. Die Reaktionen der türkischen Minderheit in der Bundesrepublik wirkten dabei wie eine Bestätigung dieser Betrachtungsweise. Für die Migranten aus der Türkei war die Rückkehr aus verschiedenen Gründen versperrt. Insbesondere die sich häufenden politischen und ökonomischen Krisenerscheinungen in der Türkei selbst wie auch die zunehmend restriktiven Bestimmungen zur Ein- bzw. Rückreise in die Bundesrepublik ließen die Mobilitätsrisiken für die Mehrheit der türkischen Minderheit so hoch erscheinen, dass sie sich für ein Verbleiben in der Fremde entschieden und zugleich auf die Zumutungen des „Nicht-Einwanderungslandes“ mit Rückzug auf sich selbst und Betonung der Differenz zur „Nicht-Aufnahmegesellschaft“ reagierten.

Durchaus plausibel sieht Hunn in dieser Entwicklung die Ursache für die zunehmende Bedeutung eines traditionalistischen bis fundamentalistischen Islams in der sich herausbildenden türkischen Diaspora in der Bundesrepublik. Der nach dem Anwerbestopp einsetzende Familiennachzug aus der Türkei und die Aufnahme einer größeren Zahl von türkischen bzw. kurdischen Asylsuchenden Anfang der 1980er-Jahre wirkten in diesem Zusammenhang zusätzlich dramatisierend auf die bundesdeutsche Öffentlichkeit. Der Logik der gegenseitigen Fehlwahrnehmungen folgte dann auch der gescheiterte Versuch der Regierung Kohl, ein Rückkehrprogramm vor allem für türkische Migranten umzusetzen. Außer Mitnahmeeffekten konnte damit kaum etwas erreicht werden, aber die innergesellschaftliche Atmosphäre für eine Integration oder Anerkennung der türkischen Migranten verschlechterte sich dadurch deutlich.

Spätestens an diesem Punkt und noch stärker bei der Lektüre des Ausblicks auf die Entwicklung bis hin zur Jahrtausendwende drängt sich beim Rezensenten die Frage auf, wieso in der Bundesrepublik der Multikulturalismus gescheitert sein soll (wie neuerdings oft behauptet wird), wo er unter diesen Verhältnissen doch nie wirklich eine Chance hatte. Zudem vermittelt diese umfangreiche Studie wiederholt den Eindruck einer sehr ausführlichen Verteidigungsschrift im Prozess um die Geschichte der türkischen Einwanderung in die Bundesrepublik. Unbefriedigend erscheinen auch Einschätzungen wie die Folgende: „Wie die Analyse der Entwicklung des Einwanderungsprozesses türkischer Migranten bis in die Mitte der achtziger Jahre gezeigt hat, ließ deren Integration bis dahin sehr zu wünschen übrig.“ (S. 542) Hier entsteht angesichts der vorgestellten Ergebnisse der paradoxe Eindruck, dass insbesondere die bundesdeutsche Politik es hätte besser wissen und machen können. Der Rückgriff auf das gerade in Freiburg entwickelte Paradigma der inneren Liberalisierung als Lernprozess hätte möglicherweise weitergeführt.1 Das schmälert aber nicht den Wert der Arbeit als eines wichtigen Beitrags für die Zeitgeschichtsschreibung der alten Bundesrepublik. Auch wenn dieses Buch den sehr hohen Anspruch einer Gesamtdarstellung des untersuchten Prozesses schon deshalb nicht einlösen kann, weil dieser bis in die Gegenwart noch kaum als abgeschlossen angesehen werden kann, so hat Karin Hunn auf jeden Fall einen wesentlichen Markstein zur Integration der Migrationsgeschichte in die deutsche Zeitgeschichtsschreibung gesetzt.

Anmerkung:
1 Vgl. etwa: Herbert, Ulrich; Raphael, Lutz (Hgg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002 (rezensiert von Franz-Werner Kersting: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-2-183>).