Ch. Kohser-Spohn u.a. (Hrsg.): Trauma Algerienkrieg

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Titel
Trauma Algerienkrieg. Zur Geschichte und Aufarbeitung eines tabuisierten Konflikts


Herausgeber
Kohser-Spohn, Christiane; Renken, Frank
Erschienen
Frankfurt am Main 2005: Campus Verlag
Anzahl Seiten
348 S.
Preis
€ 32,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcel Streng, SFB 584 "Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte", Universität Bielefeld

Den Algerienkrieg (1954–1962) als historisches Phänomen und vergangenheitspolitischen Konfliktfall einem interessierten Publikum in Deutschland zugänglich machen – so lautet das von Christiane Kohser-Spohn und Frank Renken mit dem vorliegenden Sammelband verfolgte Ziel. Die Beiträge stammen von Historiker/innen und Politologen/innen, Literaturwissenschaftler/innen und Zeitzeugen/innen aus Algerien, Frankreich und Deutschland. Sie behandeln den anhaltenden Streit der Algerienkriegserinnerungen, die wissenschaftliche Aufarbeitung, die Thematisierung des Algerienkriegs im Schulunterricht in Algerien und Frankreich sowie das Gewicht des Algerienkriegs in den deutsch-französischen Beziehungen. Ein umfangreicher Apparat, ausgestattet mit einem Glossar und einem kleinen Lexikon „wichtiger Personen“, unterstreicht den Einführungscharakter des Bandes. Es handelt sich um einen heterogenen Reader, der mit Beiträgen etablierter Wissenschaftler die Forschungslage der 1990er-Jahre zusammenfasst (nicht alle Aufsätze können im Folgenden erwähnt werden).

Im ersten der drei thematischen Blöcke des Bandes steht die umstrittene Erinnerung an den Algerienkrieg in Frankreich im Mittelpunkt. In seinem kurzen Beitrag über die Algerienkriegsforschung in Frankreich plädiert der Historiker Guy Pervillé für eine Geschichtsschreibung, die sich nicht vom vergangenheitspolitischen Streit vereinnahmen lässt. Dietmar Hüser analysiert Rap-Texte der 1990er-Jahre, in denen der Bezug auf den Algerienkrieg der Kritik am postkolonialen, antiarabischen Rassismus in der französischen Gegenwartsgesellschaft dient. Einen genealogischen Zusammenhang zwischen Kolonialismus, Algerienkrieg und gegenwärtigem antiarabischem Rassismus legt auch Sandrine Lemaire mit ihrer Analyse der Darstellung des Algerienkriegs in französischen Schulbüchern nahe. Sie konstatiert „einen relativ armseligen paradigmatischen Diskurs“ (S. 130), der „hartnäckig […] vom Ende des 19. Jahrhunderts bis über die Unabhängigkeit der Kolonien hinaus fortbestanden“ habe (S. 128f.). „Zivilisatorische Mission“, „Heroismus“ der Kolonisatoren, „Überlegenheit des weißen Mannes über den Rest der Welt“, „Rückständigkeit“ und „Grausamkeit“ der „Eingeborenen“ seien jahrzehntelang zentrale Elemente des Schulbuchdiskurses zur Kolonisation gewesen. Die Unabhängigkeit Algeriens 1962 habe deshalb wie ein „Schock“ gewirkt, der zwischen 1960 und 1980 „zur fast vollständigen Ausblendung [des Algerienkriegs] in den Schulbüchern“ geführt habe (S. 131).

Um die Erforschung und Diskussion des Algerienkriegs in Algerien selbst geht es im zweiten Abschnitt des Bandes. Nach einer ideengeschichtlichen Darstellung des algerischen Nationalismus durch Gilbert Meynier zeigen Daho Djerbal und Fouad Soufi in ihren Beiträgen, dass die algerische Historiografie bisher vor allem zur Legitimation der Alleinherrschaft der Staatspartei FLN beigetragen hat. In der offiziellen Version reduziert sich die Geschichte Algeriens tendenziell auf die achtjährige Geschichte des Befreiungskrieges und seiner Helden. Dasselbe Geschichtsbild wird im algerischen Schulunterricht vermittelt. Den Beiträgen von Tayeb Chentouf und Hassan Remaoun ist zu entnehmen, dass die meisten Lehrer/innen dem offiziellen Auftrag positiv gegenüberstehen, den Schüler/innen über den Geschichtsunterricht national-algerische Identität zu vermitteln. Zu Kritikfähigkeit als Merkmal staatsbürgerlichen Verhaltens erziehe dieser Unterricht jedoch nicht, an dem die Schüler/innen überdies zunehmend das Interesse verlören.

Den letzten Abschnitt bilden zwei Aufsätze zu den außenpolitischen Verwicklungen zwischen Frankreich und den beiden deutschen Staaten während des Algerienkriegs. Jean-Paul Cahn analysiert die Haltung der Regierung Adenauer. Bonn habe den „Spagat“ versucht, den europäischen Partner Frankreich nicht zu desavouieren und gleichzeitig gute Beziehungen mit der provisorischen Regierung Algeriens aufzubauen. Im innenpolitischen „Tagesgeschäft“ sei geduldet worden, dass Algerier – mit Unterstützung von Jungsozialisten – von westdeutschem Boden aus international agierten. Die ebenso widersprüchliche Algerienpolitik der DDR fasst Fritz Taubert zusammen. Aufgrund der Doktrin des proletarischen Internationalismus sei die SED zur Solidarität mit der Kommunistischen Partei Algeriens verpflichtet gewesen. Da der FLN aber keine kommunistische Bewegung war, habe sich für die DDR-Institutionen besonders im Umgang mit algerischen Nationalisten/innen und Kommunisten/innen, die sich zeitweise in der DDR aufhielten, ein Dilemma zwischen Realpolitik und ideologischer Doktrin ergeben.

Der von beiden Autoren/in gewählte diplomatiegeschichtliche Zugang erweist sich allerdings als zu eng. Cahn selbst deutet mit dem von der westdeutschen Regierung geduldeten proalgerischen Engagement der Jungsozialisten/innen eine breitere, zivilgesellschaftliche Rezeption des Algerienkriegs an. Dieses Engagement war auch mit dem Entstehen einer „Neuen Linken“ in der Bundesrepublik Ende der 1950er-Jahre eng verbunden. Über die Identifikation mit dem FLN und anderen Befreiungsbewegungen wurde nach einem „dritten Weg“ zwischen Kommunismus Stalinscher Prägung und westeuropäischer Sozialdemokratie gesucht. In diesem Rahmen konnten die Verurteilungen der französischen Kriegsführung in der Bundesrepublik der 1950er und 1960er-Jahre, etwa in Vergleichen der folternden Abteilungen der Fremdenlegion mit der nationalsozialistischen Gestapo, eine entlastende Funktion in der „Bewältigung“ der Nazivergangenheit erfüllen.1 „Scham und Schadenfreude in Deutschland“ kommentiert Hartmut Elsenhans deshalb in seinem Beitrag, dem im Band die Rolle des Fazits zugefallen ist. Elsenhans, Autor einer der umfassendsten Studien zum Algerienkrieg2, ist zu der von Frankreichbewunderung geprägten Einschätzung gelangt, die Anwendung von Folter sei auf die „politische Entscheidung der großen Mehrheit der führenden Klasse Frankreichs“ zurückzuführen, „in Algerien einen Ausrottungskrieg zu vermeiden“ (S. 267). Frankreichbewunderung hier, Schadenfreude dort – für beide zeitgenössischen Haltungen in der Bundesrepublik zu Frankreich und zum Algerienkrieg scheint jedenfalls der vom nationalsozialistischen Deutschland ausgegangene Vernichtungskrieg ein zentraler Bezugspunkt gewesen zu sein. Dieser Hintergrund wäre zu berücksichtigen, wenn die „Übertragbarkeit des vor allem auf Deutschland bezogenen Begriffs der Vergangenheitsbewältigung“ auf Frankreich und den Algerienkrieg diskutiert wird, wie Kohser-Spohn anregt. (S. 9)

Diese Beispiele deuten an, welche Erkenntnisgewinne von der Einordnung des Algerienkriegs in die beiden globalgeschichtlichen Prozesse des Kalten Krieges und der Dekolonisation zu erwarten wären. Diese Chance wird mit dem vorliegenden Sammelband allerdings eher vertan, obwohl auf die Debatte um transnationale Perspektiven in der Geschichtswissenschaft zumindest angespielt wird (S. 265). Wer eine kritische, problemorientierte Einführung in die Algerienkriegsforschung erwartet, wird in der französischen Literatur Ergiebigeres finden.3 Der Band von Kohser-Spohn und Renken steht im Zeichen der Gedächtnisgeschichte des Algerienkriegs, die das Forschungsfeld in den 1990er-Jahren weithin beherrscht hat. Die Analyse der gegenwärtig miteinander konfligierenden Erinnerungsgruppen und -diskurse ist sicher sehr verdienstvoll. Sie hat aber den Nachteil, dass sie die am Krieg beteiligten Gesellschaften und Akteursgruppen tendenziell als antagonistische Kollektivsubjekte essentialisiert, anstatt ihre miteinander verflochtenen Konstitutionsprozesse in den Blick zu nehmen. Dabei droht übersehen zu werden, dass die Zugehörigkeit zu den sozialen und politischen, kulturellen und ökonomischen Kollektiven Frankreich und Algerien ein wesentlicher Konflikteinsatz gewesen ist: Wer oder was als Algerisch oder Französisch zählte, wurde während des Krieges neu verhandelt. Im vorliegenden Band zeigt der Beitrag von Sandrine Lemaire, darin stellvertretend für neuere Ansätze in der Algerienkriegsforschung, wie durch die Rezeption der Postcolonial Studies in der Algerienkriegsforschung eine kritische Geschichtsschreibung entsteht.4 Zu deren Problemstellungen gehört auch die Befangenheit der historiografischen Diskurse in nationalen Kategorien und postkolonialen Deutungsmustern – auf beiden Seiten des Mittelmeeres.

Anmerkungen:
1 Kalter, Christoph, Das Eigene im Fremden. Algerienkrieg, „Kolonialrevolution“ und NS-Vergleiche in Zeitschriften der frühen Neuen Linken in der Bundesrepublik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 54 (2006), Themenheft zum Algerienkrieg, in Vorbereitung.
2 Elsenhans, Hartmut, Frankreichs Algerienkrieg 1954–1962. Entkolonialisierungsversuch einer kapitalistischen Metropole. Zum Zusammenbruch der Kolonialreiche, phil. Diss. München 1974, in französischer Übersetzung: La guerre d’Algérie 1954–1962. La transition d’une France à une autre. Le passage de la IVe à la Ve République, Paris 1999.
3 z.B. Harbi, Mohammed; Stora, Benjamin (Hgg.), La guerre d’Algérie. 1954–1962. La fin de l’amnésie, Paris 2004 (rezensiert von Inès Tobis und Philipp Zessin: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-1-223>); Branche, Raphaëlle, La guerre d’Algérie: Une histoire apaisée?, Paris 2005 (vor allem der dritte Teil).
4 Siehe auch: Bancel, Nicolas; Blanchard, Pascal; Vergès, François, La République coloniale. Essais sur une utopie, Paris 2003.

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