T. Pinheiro u.a.: Globalisierung avant la lettre

Titel
Globalisierung avant la lettre. Reiseliteratur vom 16. bis zum 21. Jahrhundert


Autor(en)
Pinheiro, Teresa; Ueckmann, Natascha
Erschienen
Münster 2005: LIT Verlag
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karen Struve, Institut für postkoloniale und transkulturelle Studien, Universität Bremen

Die Beiträge in dem Sammelband „Globalisierung avant la lettre. Reiseliteratur vom 16. Jahrhundert bis zum 21. Jahrhundert“ der Romanistinnen Teresa Pinheiro und Natascha Ueckmann gehen dem Phänomen der Globalisierung in unterschiedlichen Textsorten der Reiseliteratur aus fünf Jahrhunderten und diversen Sprach- und Kulturräumen nach. „Erst das Reisen lässt die Einsicht entstehen, in einer globalisierten Welt zu leben“ (S. 7), stellen die Herausgeberinnen fest und nehmen folglich besonders das semantische Feld der Reise und der Bewegung in den Blick, das Globalisierungsdiskurse quer durch alle Jahrhunderte verbindet. Die Zielrichtung der Beiträge steht in einer doppelten Fragestellung: „Ist Globalisierung neu, ist sie global?“ Der erste Teil der Frage zielt auf die historische Einordnung des Globalisierungsbegriffs ab: Hat es nicht immer schon Globalisierung gegeben, also eine Globalisierung avant la lettre, die sich jenseits der vornehmlich ökonomischen Begriffsdefinition in kultureller, sprachlicher, sozialer, geografischer Hinsicht vollzogen hat? Der zweite Teil der Frage stellt das Konzept in seiner erkenntnistheoretischen Verortung in Frage: Ist Globalisierung ein westliches Paradigma, ein westlicher Diskurs?

Globalisierung wird in den Beiträgen des Sammelbandes „als ein diskursives Phänomen“ (S. 10) verstanden und dass „Globalisierungsdiskurse im Kontext der Überschreitung kultureller und staatlicher Grenzen entstehen.“ (S. 12) Die Bewertungen des Phänomens Globalisierung liegen dabei denkbar weit auseinander: Das Spektrum reicht von der Angst vor der Uniformität und Homogenität bis zur einer gefeierten Diversität und Heterogenität durch kulturelle Hybridisierung. Die Herausgeberinnen ordnen die Beiträge drei Globalisierungsphasen zu; so wird gerade nicht nach kulturspezifischen Charakteristika gesucht, sondern durch einen metanationalen, bzw. metakulturellen Ansatz nach den literarischen Repräsentationsformen von Globalisierung innerhalb einer bestimmten Zeit und nicht an einem bestimmten Ort gefragt.

Die Beiträge des Kapitels zur ersten Globalisierung (16.-18. Jahrhundert) zielen auf die Kontinuität und den historischen Beleg des Globalisierungsphänomens ab. Ihr Augenmerk liegt also in der Beweisführung, dass es sich hier um Globalisierung avant la lettre handelt. So untersuchen Fernando Amado Aymaré und Teresa Pinheiro das lokale Handeln des global organisierten frühneuzeitlichen Jesuitenordens in Brasilien und kommen zu dem Ergebnis: „Sowohl bei den heutigen Weltkonzernen als auch im Fall der frühneuzeitlichen Jesuitenmission in Übersee widersprechen sich weltweiter Expansionismus und lokale Anpassung keineswegs.“ (S. 33) Während bei ihnen also der Globalisierungsdiskurs im Zentrum steht, untersucht Franz Obermeier in seinem komparatistisch angelegten Aufsatz „allgemeine transnationale, ja globalisierte gültige Genretendenzen“ (S. 44) in der Bildpublizistik in der Reiseliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts in Europa. Auf diese global ‚gültigen’ Genrekonventionen zielt auch Jörg Türschmanns Beitrag zum Rom-Topos in Baltasar Graciáns El Criticon aus dem 17. Jahrhundert. In dem literarischen Text geht es demnach „um Globalisierung, um das Ringen um einen kleinsten kulturellen Nenner, der nicht einfach eine Verschmelzung vielfältiger Erfahrungen im Geisteshorizont des Helden einer Reiseerzählung beinhaltet, [...] sondern [...] ein global verständliches Erzählschema als Anknüpfungspunkt für lokale kultureller Eigenheiten weltweit verstreuter Rezipienten anbietet.“ (S. 65) Während Türschmanns Analysen ein Verständnis von der „Globalisierung [...] als Kondensierung und Vergeistigung [...]“ (S. 55) zugrunde liegt, stellt Ute Fendler in Anlehnung an Leggewie drei Charakteristika der Globalisierung ins Zentrum ihrer Analysen der Darstellungen von und in Hispanoamerika in Reiseberichten: Entgrenzung, Globalisierung und Hybridisierung. Dabei kommt sie zu dem Schluss, dass sich – wenn man Globalisierung aus einer historischen Perspektive betrachtet – scheinbar „eine Kontinuität in Wahrnehmungsmustern und Selektionsprozessen im Hinblick auf den Wert von Informationen und deren Übermittlung“ (S. 88) abzeichnet und wirft die Frage auf, ob Kolonialisierung als ein Vorläufer oder gar als notwendige Voraussetzung für Globalisierung zu betrachten sei.

Die Phase der zweiten Globalisierung (19. Jahrhundert) versammelt Beiträge, in denen zunächst die Perspektive der Reisenden im Spannungsfeld von Historiografie und Ethnografie im Zentrum steht. Sie zeigen darüber hinaus, wie die Reisen in die Ferne und der Weitblick in einer Art Rückkopplungseffekt mit einer Selbstentfremdung einhergeht. Frank Leinen nimmt aus einer Perspektive der interkulturellen Hermeneutik die Problematik der Objektivität und Objektivierung von Historiografie und Ethnografie in den Reiseberichten des Mexikoreisenden Jean Frédéric Waldecks in den Blick. Dabei „soll die Grundsatzfrage nach den Grenzen und Bedingungen der Fremdwahrnehmung angesprochen werden, um hieraus im Zeitalter der Globalisierung die Frage nach einem adäquaten Umgang mit anderen Kulturen abzuleiten.“ (S. 94) Wie Globalisierung als Amerikanisierung literarisch reformuliert wird, zeigt Annette Bühler-Dietrich am Beispiel der Nordamerikabriefe Michel Chevaliers und anhand des Reiseromans Die Auswanderer von Therese Robinson. Während Chevalier mit einem nüchternen Blick den „Nexus von Modernisierung, Kapitalismus und Globalisierung“ (S. 115) beschreibt, inszeniert Robinson leidvolle Erfahrungen von Mobilität, die mit Hybridität, Exil, Rassismen und Heimatlosigkeit konturiert werden.

Diese Rückwirkungen der Mobilität und Modernisierung auf das Ich stellt Monika Schmitz-Emans ins Zentrum ihrer Analysen. Sie zeigt eindrucksvoll, dass die Reise in die Ferne und die Auflösung des Ich im Innern komplementäre Vorgänge seit der romantischen Literatur darstellen (bei Kleist und Chamisso, dann in Texten von Turgenjew, Tschechow, Maupassant, de l’Isle-Adam und schließlich in einem Ausblick auf Conrad). Wenn die Welt zum Panorama wird, so Schmitz-Emanns, impliziert dies zwar einen festen Standpunkt, von dem aus diese Perspektive einzunehmen ist; tatsächlich wird aber die eigene Identität als jener feste Aussichtspunkt in Frage gestellt. Und so verweist die Autorin schließlich auf das Potenzial von Literatur: Diese stellt nicht nur Metaphern für jene Erlebnisse bereit, sondern ist auch das Laboratorium für neue Gleichnisse und Metaphern der Erfahrungen mit neuen Kommunikations-, Mobilitätsformen und Medien. Die Beiträge von Aïssatou Bouba und Detlev Quintern nehmen einen Perspektivwechsel vor, in dem die in ein eurozentristisches Geschichtsbild eingebetteten Fremdbilder fokussiert werden. Bouba untersucht anhand der Reiseberichte von Nerval, Gautier und Flaubert die Entstehung eines Geschichtsbildes, das Geschichte als globalen Zusammenhang aus einer eurozentristischen Perspektive entwirft. Die Reiseberichte transportieren dabei nicht nur Geschichte, sie machen sie: Sie sind „ein Motor für die Globalisierung“ (S. 156) und Belege dafür, dass die Europäer schon früh die „Bedeutung des Wissens als Quelle der Macht“ (S. 156) erkannt haben. Die Verklammerung von Geschichtsbildern bzw. -fiktionen und Reisebeschreibungen steht im Zentrum des Beitrags von Quintern, der dies am Beispiel des Oriententwurfs bei Marx und der Reise der Assassinen-Legende in das europäische Geschichtsdenken erläutert. Er zeigt, dass Historiografie Stereotype und Paradigmen liefert, die aufgenommen und kolportiert werden in Reiseberichten, die wiederum der Geschichtsschreibung als Quellen und Belege dienen.

Die Beiträge, die der Phase der dritten Globalisierung (20. und 21. Jahrhundert) zugeordnet sind, wenden sich zusehends der Perspektive von Transkulturalität und kultureller Hybridisierung zu. In dieser Phase sind die Untersuchungsgegenstände und Erkenntnisse am disparatesten: Sie reichen von der europäischen Reinszenierung und Assimilationsängsten bis zu literarischen Hybridisierungsmechanismen und der ironisch gebrochenen Inszenierung postkolonialer Gewalt. Rotraud von Kulessa untersucht anhand der Reiseberichte von Frauen in der Zeitschrift Fémina zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Zusammenhang zwischen Reiseliteratur und einer Globalisierung avant la lettre und zeigt, dass sie sich die Reisenden als Touristinnen, als mondäne Frau der Belle Epoque inszenieren – ihr ‚Reiseziel’ sind doch sie selbst. Die Reaktionen auf den Globalisierungsdiskurs, wie sie in der Reiseliteratur der Zwischenkriegszeit an den Antipoden Paris und Moskaus reformuliert werden, sind Gegenstand des Beitrags von Wolfgang Asholt. Er stellt anhand der Novellen von Paul Morand und der literarischen Replik von Bruno Jasienski zwei Globalisierungsmodelle und -wahrnehmungen gegenüber: Wird bei Morand ein „unwiederbringlicher Verlust nationaler und zivilisatorischer Identität betrauert“ (S. 213) durch eine vom neuen Russland, bzw. der Sowjetunion ausgehende Globalisierung gefürchtet, die zudem mit einer antisemitisch begründeten Verschwörungstheorie zusammenfällt, feiert Jasienski die „unablässige Veränderung, Mobilität und Grenzüberschreitungen, kurz: Hybridisierung“ (S. 218) durch eine globale Verbreitung des Kommunismus. Dass Grenzüberschreitungen nicht nur zwischen Nationen, Staaten und Kulturen stattfinden müssen, sondern auch der Text selbst einen transkulturierten Raum hybriden Schreibens darstellen kann, zeigen Susanne Dölle anhand der lateinamerikanischen Gegenwartsliteratur und Monika Moster-Eichberger am Beispiel der zeitgenössischen libanesischen Literatur französischer Sprache. Stephan Leopold beschließt den Band mit seinem Aufsatz zu der Begegnung mit dem Anderen im Roman Plateforme von Michel Houellebecq in Zeiten des Neokolonialismus – in der Logik dieses Bandes gedacht, also in Zeiten der Globalisierung à la lettre. Aus einer psychoanalytischen, vornehmlich lacanistischen Perspektive versteht Leopold die ironische Brechung der postkolonialen Gewalt im Zusammenhang mit Reiseindustrie (Sex-Tourismus) als „globalistische Reprise der ersten Eroberung“ (S. 258). Leopold resümiert: „Die entkräftete, entkörperlichte Alte Welt bedarf also der sinnlich-körperlichen Neuen Welt“ (S. 261), die Houellebecq vermittels Rassenstereotypen inszeniert. Dieser Beitrag weitet schließlich den Blick, bzw. er verliert die Globalisierung aus den Augen: Globalisierung an sich wird nicht mehr explizit reflektiert, sondern wirkt als Hintergrundfolie.

Die Begriffsbestimmungen der Globalisierung sind in den einzelnen Beiträgen, wie aus den vorangegangenen Beschreibungen ersichtlich wird, so divers wie die literarischen Themen, an denen sie entwickelt werden. Globalisierung wird damit, und das ist wiederum das Interessante an diesem Sammelband, zu einer Kategorie, die ihr Erkenntnispotenzial erst am jeweiligen Gegenstand zu entfalten vermag. Die von den Herausgeberinnen vorgenommene historische Phaseneinteilung legt weitere Fragen an eine Zusammenschau der Beiträge nahe, in dem Sinne, ob sich hier nicht auch phänomenologische Brüche zwischen den Phasen in den literarischen Texten ablesen ließen. Denn nicht nur innerhalb der Globalisierungsphasen ergibt sich ein heterogenes Bild des diskursiven Phänomens der Globalisierung. Es wäre interessant, einmal die Bruchstellen zwischen den Phasen in den Blick zu nehmen und die durch die Einteilung vorgelegte Möglichkeit der Verbindung von synchroner und diachroner Achse zu untersuchen.

So bleibt am Ende ein weites Panorama an literarischen Beschreibungen von Reisenden aus fünf Jahrhunderten und etlichen Sprach- und Kulturräumen, deren literarische Begegnungen und Erfahrungen mit Fremde und Fremden als globalisierte Erfahrungen gelesen werden können. Pinheiro und Ueckmann haben einen Sammelband vorgelegt, der nicht nur Beiträge einer beeindruckenden Breite aktueller romanistischer, literaturwissenschaftlicher Forschung versammelt. Hier wird der Globalisierungsbegriff einmal aus seinem Dasein als modernistische Phrase geholt und gerade durch die historische und metakulturelle Perspektive als Erkenntnisinstrument für die romanischen Literaturen (wieder) fruchtbar gemacht.

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