Titel
Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs.


Herausgeber
Oltmer, Jochen
Reihe
Krieg in der Geschichte 24
Erschienen
Paderborn 2006: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
309 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Boris Barth, Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz

Kriegsgefangenschaft im Ersten Weltkrieg im internationalen Vergleich ist ein relativ neues Thema der Geschichtsschreibung. Dies überrascht einerseits vor dem Hintergrund der ungebremsten Konjunktur, die Forschungen zum Ersten Weltkrieg seit mehreren Jahrzehnten haben und andererseits, weil Millionen von Soldaten die Erfahrung der Gefangenschaft erlebt oder erlitten haben. Doch bereits nach 1918 wurde das Thema in vielen Ländern häufig totgeschwiegen. Auch in den letzten Jahrzehnten haben sich nur wenige Autoren/innen daran gewagt, eine komparative Perspektive zu wählen und damit die übergeordnete Ebene des Erlebnisses der Gefangenschaft zu untersuchen. Der vorliegende Sammelband bietet nur wenig spektakulär Neues, bringt aber eine solide und zuverlässige Zusammenfassung des sehr lückenhaften Forschungsstandes und setzt überzeugend gewählte Akzente, die die Forschung sicherlich befruchten werden. Zugleich liefert das Buch vor diesem Hintergrund nicht nur einen eindrucksvollen Überblick, sondern zeigt zugleich, wie schwierig das sperrige Thema der Kriegsgefangenschaft inhaltlich und methodisch anzugehen ist.

Das Massensterben von Gefangenen an Seuchen und Hunger in mehreren Ländern im ersten Kriegswinter 1914/15 war nicht intendiert, sondern stets auf die völlige Überforderung der jeweiligen Heimat- und Militärbehörden zurückzuführen. Die riesigen Mengen von Gefangenen, die auch in den folgenden Jahren des Krieges gemacht wurden, machen es kaum möglich, individuelle Schicksale zu verallgemeinern. Die Zahlen der Soldaten, die in Gefangenschaft gerieten, waren zudem höchst unterschiedlich: 2,8 Millionen Soldaten aus der Habsburgermonarchie, d.h. fast ein Drittel aller rekrutierten Soldaten, geriet beispielsweise in russische Gefangenschaft, ebenso wurden mehr als 3,4 Millionen russische Soldaten von den Mittelmächten gefangen. Demgegenüber gerieten nur kapp 160.000 deutsche Soldaten in russische Kriegsgefangenschaft, und die Zahl der deutschen Soldaten, die vor dem Sommer 1918 von Engländern gefangen genommen wurden, war sehr gering. Alleine diese Unterschiede lassen vermuten, dass sich die Folgen für die jeweils betroffenen Personen differenziert darstellen. Bereits diese Dimensionen deuten aber darauf hin, dass es sich beim Thema der vergleichenden Forschung zu Kriegsgefangenen um einen stark vernachlässigten Bereich auch der Erfahrungs- und Mentalitätsgeschichtsschreibung handelt.

Ferner determinierten während und nach dem Krieg in den unterschiedlichen Ländern verschiedene nationale Stereotypen die Sicht auf die Gefangenen: Während in Deutschland oder in Frankreich das Los der eigenen Soldaten in der Regel bedauert wurde und es nicht an Versuchen mangelte, den Männern in den Lagern des Feindes das Leben zumindest etwas zu erleichtern (Hilfspakete, Abkommen zum Austausch von Invaliden und Verwundeten, etc.), zeichnete sich die italienische Haltung durch brutale Härte aus. Gefangene Italiener wurden – besonders nach der verheerenden Niederlage bei Caporetto – pauschal als Verräter oder Fahnenflüchtige angesehen und jede Hilfe aus Italien wurde regierungsamtlich verhindert. Deshalb war die Lebenssituation der Italiener in deutschen oder österreichischen Lagern zeitweise katastrophal schlecht, und noch nach dem Ende des Krieges wurden zurückkehrende Italiener scharf diskriminiert. Generell kamen Übergriffe gegen feindliche Kriegsgefangene häufig vor, wurden aber gleichzeitig durch eine Art 'Gleichgewicht des Schreckens' begrenzt. Schikanen gegen Gefangene in den eigenen Lagern konnten jederzeit durch scharfe Repressalien gegen die eigenen Leute in der Hand des Feindes beantwortet werden, sodass sich die Eskalation in Grenzen hielt. Auch wirkte das Rote Kreuz, dessen Organisation und Tätigkeit im Verlauf des Krieges eine erhebliche Ausweitung erfuhr, mildernd.

Der Sammelband ist in vier Teile gegliedert. Zwei kurze, aber niveauvolle, einleitende Artikel von Jochen Oltmer und Annette Becker führen zuverlässig und knapp in das Thema und in die Forschungsprobleme ein. Fünf Länderstudien (Österreich- Ungarn, Deutschland, Russland, Großbritannien und Frankreich) demonstrieren, wie groß die nationalen Unterschiede waren, vermitteln aber gleichzeitig eine zuverlässige Zusammenfassung des jeweiligen nationalen Forschungsstandes. Drei Aufsätze befassen sich mit der Frage von Humanität und Nationalität. Die halbherzigen und wenig konsistenten russischen Versuche, die Spannungen zwischen den Nationalitäten der Donaumonarchie in den Lagern für die eigene Sache auszunutzen, scheiterten vollständig, sieht man von dem häufig überbewerteten Beispiel der tschechischen Legion ab (Reinhard Nachtigal). Mit dem harten Schicksal der Italiener, das bisher in Deutschland weitgehend unbekannt gewesen sein dürfte, befasst sich Giovanna Procacci, und Uta Hinz untersucht den Versuch des Roten Kreuzes, durch Hilfsaktionen die Lebensbedingungen in den Lagern zumindest rudimentär zu verbessern. Drei abschließende Aufsätze beschäftigen sich mit den ehemaligen Gefangenen in der Nachkriegszeit (Gefangene der Mittelmächte in Russland, Russen in Deutschland und der Umgang der französischen Gesellschaft mit den zurückgekehrten Gefangenen). Die chaotischen Verhältnisse während des russischen Bürgerkrieges und in Mitteleuropa nach 1918 verhinderten zunächst die Rückkehr vieler Soldaten, und erst 1922 wurden die letzten Russenlager in Deutschland aufgelöst (Jochen Oltmer und Reinhard Nachtigal). Paradox wirkt der französische Umgang mit den ehemaligen etwa 500.000 Gefangenen. Einerseits gelang die Repatriierung bemerkenswert schnell, andererseits stießen aber die Versuche der heimgekehrten Gefangenen, öffentliche Anerkennung zu erhalten, auf weitgehendes Unverständnis (Odon Abbal). Auch in Frankreich wurden diese Soldaten häufig von den entstehenden Veteranenverbänden mit Misstrauen beäugt, weil Gefangene nicht als „echte“ Kombattanten, vereinzelt sogar als Feiglinge angesehen wurden.

Dem Band ist eine weite Verbreitung zu wünschen und es ist zu hoffen, dass die hier verfolgten inhaltlichen und methodischen Ansätze auch bald Anwendung auf die Erforschung anderer großer Kriegsereignisse finden.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch