K. Franz: Kompilationen in arabischen Chroniken

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Titel
Kompilation in arabischen Chroniken. Die Überlieferung vom Aufstand der Zang zwischen Geschichtlichkeit und Intertextualität vom 9. bis zum 15. Jahrhundert


Autor(en)
Franz, Kurt
Reihe
Studien zur Geschichte und Kultur des islamischen Orients 15
Erschienen
Berlin 2004: de Gruyter
Anzahl Seiten
344 Seiten
Preis
Euro 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Conermann, Institut für Orient- und Asienwissenschaften, Universität Bonn

Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein dienten muslimische Chroniken den Islamwissenschaftlern/innen in erster Linie dazu, ein nacktes Gerüst historischer Ereignisse und politischer Fakten zu rekonstruieren. Um dieses Gestell herum wollte man dann – meist mittels normativer Texte – das Gebäude der offensichtlich abbildbaren Vergangenheit errichten. Oft und ausgiebig wetterten die modernen Historiker/innen gegen die ihrer Meinung nach schlampige Arbeit ihrer vormodernen Vorgänger, die häufig genug – anscheinend aus mangelnder Begabung oder ungenügendem wissenschaftlichen Bewusstsein heraus – einfach aus den Werken älterer Geschichtsschreiber abschrieben oder schon bekanntes Material in neuer Reihenfolge zusammenstellten. Man bewertete mittelalterliche Chroniken allein danach, ob sie neue, bis dahin unbekannte Geschehnisse erwähnten. Erst mit der „narrativen Wende“ in den Geschichtswissenschaften im Anschluss an die Arbeiten von Hayden White aus den 1970er- und 1980er-Jahren wurde damit begonnen, Geschichtsschreibung vor allem als literarische Praxis bestimmter Individuen wahrzunehmen. Allerdings sollten noch zwei weitere Jahrzehnte vergehen, bis Kurt Franz in seiner im Jahre 2002 am Fachbereich Orientalistik der Universität Hamburg angenommenen Dissertationsschrift, die hier in gedruckter Fassung vorliegt, diese Ansätze aufgriff und die muslimische kompilatorische Geschichtsschreibung des Mittelalters von dem ihr unterschwellig vorgeworfenen Plagiatsvergehen zu befreien versuchte. Letztlich geht es ihm in seiner Arbeit darum, Technik und Methodenbewusstsein vormoderner Kompilatoren herauszuarbeiten. Dabei definiert er „Kompilieren“ als schriftstellerische Aufgabe, „Kompilationen“ als textuelle Produkte und den „Kompilationsprozess“ als Beziehung zwischen Schriftstellern wie auch zwischen Texten. Als Untersuchungsmaterial dienen ihm, wie er es selbst formuliert, historiografische Texte, die (a) genetisch der gehörten Überlieferung entwachsen sind und vollends ab dem 4./10. Jahrhundert Literatur im Sinne von Schrifttum darstellen, (b) methodisch nicht mehr in erster Linie die personale Überlieferung vom Lehrer auf den Schüler üben, also typischerweise nicht isnadgebunden sind, (c) zeitlich nicht ausschließlich auf das für den Islam konstitutive 1./7. Jahrhundert zurückblicken, sondern auch die ihr seither zuwachsenden jüngeren Berichtszeiträume als Geschichte behandeln, und daher (d) stofflich über die geheiligte Geschichte als bevorzugten Gegenstand religiös motivierter Geschichtsinterpretation hinausgehen und, wenn auch oft unter heilsgeschichtlichem Firnis, säkular sind (S. 17). Aus der unendlichen Zahl von möglichen Fallbeispielen greift er sich die Überlieferung vom Aufstand der Zanj heraus, welcher in den Jahren 255-270/869-883 im südlichen Irak und in Khuzistan unter der Führung des „Herrn der Zanj“, Ali b. Muhammad, stattfand. Die Darstellungen gehen nahezu vollständig durch Kompilation auf die Chronik at-Tabaris (st. 310/923) und dessen Autorität Šaylama (st. 280/893) zurück und bilden so ein genetisch zusammenhängendes Korpus, das erlaubt, einen lang anhaltenden Kompilatonsprozess zu verfolgen.

Nach einer sehr guten Darstellung der Zanj und ihrer Bewegung, die unsere bisherigen Kenntnisse um viele Einzelheiten und strukturelle Zusammenhänge erweitert, stellt uns Franz im zweiten Teil seiner Arbeit (S. 83-134) ausführlich einige der auf uns gekommenen Aufstandsberichte vor. Dadurch, dass er sich auf Texte beschränkt, die die Erhebung möglichst in ihrer ganzen zeitlichen Ausdehnung schildern und darüber hinaus nicht nach dem 9./15 Jahrhundert verfasst wurden, kann er sein Material auf zwölf Chroniken und drei in die chronikalen Teile größerer enzyklopädischer Werke eingeflochtene Berichte begrenzen. Die Palette reicht zeitlich von dem bereits genannten Tabari (310/923) bis zu Ibn Taghribirdi (st. 874/1470), der Textumfang liegt zwischen 265 und vier gedruckten Seiten. Hinzu kommt noch ein Dutzend Deperdita, von denen das wichtigste natürlich Šaylamas (st. 280/893) zeitgenössische Akhbr Sahib az-Zanj wa-waqa´ihi darstellen.

Nachdem an diesem Punkt in der Arbeit die Präliminarien zu einem Abschluss gekommen sind, legt der Autor nun sein weiteres methodisches Vorgehen offen. Franz geht davon aus, dass die Eigenleistung der Kompilatoren in der bewussten Materialauswahl und eigenständigen Neugliederung der Berichte besteht. Die Texte seien somit keine durch stereotype, von der Auffassung und Einwirkung der Bearbeiter unbeeinflusste Reproduktionen, sondern geschickte Modifizierungen durch die Autoren, deren Intentionen es im nun folgenden Abschnitt der Arbeit bloßzulegen gelte. Zu diesem Zweck entwickelt der Autor in Anlehnung an Philipp Mayrings „Qualitative Inhaltsanalyse“ einen Apparat erkenntnisleitender Begriffe, auf die hin jeder der vorliegenden Texte untersucht werden soll. Die Schilderungen des Aufstands sind auf die inhaltliche Darstellung der Variablen „soziale Gruppe“, „soziale Konstellation“, „Wirtschaftstätigkeit“, „Arbeit und Arbeitsteilung“, „Räumlichkeit“ und „Innere Ordnung“ durchzusehen. Aber auch die einzelnen Kompilationstechniken wollen genau analysiert sein. Dabei stehen die Unabhängigkeit, der Umfang, die Exaktheit und Topik sowie der Subtext im Vordergrund der Betrachtung.

Die Umsetzung dieses Programms erfolgt dann im dritten Teil des Buches (S. 135-264). Als Ergebnis dieser mühsamen Analyse kann festgehalten werden 1: Die Hälfte der Chronisten schreibt von einer einzigen Vorlage ab, die allenfalls gelegentlich um Einschübe aus anderen Werken vermehrt wird. Die Kompilationstätigkeit der Geschichtsschreiber besteht hierbei vor allem in der Weglassung von Überlieferungsgut, wobei der Autor häufig auf Kürzungen und Hinzufügungen hinweist, Zusammenfassungen kennzeichnet und Querverweise auf andere Abschnitte des Berichtes einfügt. Auf den konkreten Fall, nämlich auf den Aufstand der Zanj gemünzt, heißt dies: Die Narration wird dahingehend vereinfacht, dass die Aufständischen eine von der sie umgebenden Bevölkerung geschiedene Einheit bilden, zu der sie ein feindseliges und gewalttätiges Verhältnis haben und die sie schließlich unterwerfen, sodass allein die Regierung Gegenwehr leistet. Indem das Geschehen seiner gesellschaftlichen Züge entkleidet und als Kampf zweier feindlicher Streitkräfte vorgestellt wird, werden die Aufstandsberichte militarisiert. Die Vernachlässigung der namentlich bekannten niederrangigen Aufständischen sowie der Verbündeten und Opponenten in anderen Gruppen mehrt das Gewicht der kleinen Zahl der wichtigsten Heerführer Ali b. Muhammads und führt dazu, dass die Darstellung personalisiert wird. „Den Berichten“, so das Fazit von Franz, „wohnen gemeinsame Tendenzen der Übername oder Weglassung sozialgeschichtlich aussagekräftiger Nachrichten inne. Sie ermöglicht es, das Auswahlverhalten der Schriftsteller dahingehend zu charakterisieren, dass zwar zunächst der an der religiösen Traditionswissenschaft geschulte at-Tabari eine extensive und überwiegend gleichmütig-getreuliche Nachrichtenauswahl traf, die Šaylamas wohlunterrichtete Innenansicht des Aufstandes und der stattgehabten sozialen Konstellationen durchscheinen lässt, statt sie einer umfassenden kompositorischen Zurichtung zu unterwerfen, dass jedoch im weiteren Verlauf des Kompilationsprozesses stets eine stark verengende Auswahl getroffen wurde. Dies bringt die bereits bei at-Tabari angelegte Konzentration und Topoisierung des Stoffes zur vollen Geltung. Daran und an der Bereinigung der Vorlage um unverständliche, als belanglos erachtete oder offenkundig aufstandsfreundliche Nachrichten macht sich nicht das Belieben des je einzelnen Schriftstellers bemerkbar, sondern disziplinäres Bemühen und stimmige, eingängige Geschichtserzählung. Gleichwohl besteht nicht völlige Konformität. Die Tendenzen der Nachrichtenauswahl treten unterschiedlich stark zu Tage und bewirken, dass die Berichte auch individuelle Züge besitzen. Dem Leser als historischer Person bietet sich also einerseits stets eine typische Grundauffassung des Aufstandes und seiner gesellschaftlichen Bedeutung, andererseits wird ihm von jedem gegebenen Bericht ein größerer oder geringerer Einblick dahinein und mithin ein je besonderer Geschichtshorizont mitteilt.“ (S. 261)

Die sehr sorgfältig argumentierende und vorbildlich strukturierte Studie zeigt eindrücklich, dass vormoderne Kompilation etwas völlig anderes bedeutet als bloßes Plagiat. Ganz am Schluss der Arbeit gibt uns Franz aufgrund seiner Analyseergebnisse eine Definition des Begriffes ‚Kompilation’, die jede/r Islamwissenschaftler/in (und auch sonst jede/r Historiker/in), der mit vormodernen historiografischen Texten arbeitet, stets im Hinterkopf behalten sollte:

„Historiographisches K o m p i l i e r e n meint im einfachen Fall die reduktive, stofflich abhängige und hinsichtlich der Stoffauswahl, Anordnung und Textgestalt mehr oder weniger selbständige Überlieferung von Gut zu einem bestimmten Gegenstand oder Intervall aus mindestens einer, meist nur einer identifizierbaren schriftlichen Vorlage durch einen sich selbst identifizierenden Schriftsteller innerhalb einer Chronik oder eines chronikalen Werkteils neben anderen solchen Überlieferungen.

Die daraus hervorgehende K o m p i l a t i o n bildet einen individuellen Text, der gemäß der Tätigkeit des Kompilators als Bearbeiter, Verfasser, Sammler oder Überlieferer, eine Neubearbeitung oder Analekten darstellt oder einer Abschrift gleichkommt. Die kompilatorische Chronik setzt sich typischerweise aus einer Abfolge von sich gegenständlich wie zeitlich nicht überschneidenden Texten zusammen. Grundsätzlich bemüht sich der Schriftsteller um sachliche Überlieferungstreue und enthält sich vorsätzlicher Sinnentstellungen oder Erfindungen, beeinträchtigt aber bisweilen den urkundlichen Wert von Überlieferungsangaben.

Die Aufeinanderfolge mehrere Stufen solcher Überlieferungen in mindestens einer Abhängigkeitslinie ergibt einen intertextuellen K o m p i l a t i o n s p r o z e ß. Infolge räumlicher Entfernung vom Schauplatz des Berichtsgegenstandes, zunehmender zeitlicher Entfernung von der ursprünglichen Vorlage und wachsender Komplexität des Kompilationsprozesses leidet die sachliche Richtigkeit einzelner Überlieferungsgüter und trübt sich das Verhältnis von tatsächlicher und behaupteter Abhängigkeit (S. 274f.).

Anmerkung:
1 Kurt Franz fasst dankenswerterweise die einzelnen Abschnitte seiner Untersuchung am Ende eines Arbeitsvorgangs ganz ausgezeichnet zusammen, sodass ich den Wortlaut des Autors nur an wenigen Stellen verändert habe.

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